GEGENARGUMENTE

Imperialismus als humanitäre Aktion

Die Führungsmächte der demokratischen Welt sind mit ihren Truppen weltweit in humanitärer Mission unterwegs: Sie exportieren Demokratie. Natürlich gewaltsam, sozusagen mit Feuer und Schwert, was immer dann als Beweis für den barbarischen Charakter des Exportgutes gilt, sobald dergleichen dem Islam nachgesagt wird. Umgekehrt in Sachen Demokratie. Da rechtfertigt dieser hohe Wert jede Sauerei, die für ihn und in seinem Namen veranstaltet wird. Nicht bloß im Irak, wo das handfeste Interesse der Weltmacht Nr. 1 am Zugriff auf eine wichtige Ölregion kaum zu übersehen ist – und von den europäischen Rivalen auch nicht übersehen wird –, auch in Ländern, in denen nichts wirtschaftlich Nennenswertes zu holen ist. In Afghanistan etwa nehmen die Nato-Verbündeten einigen Aufwand auf sich, um gewalttätige Streitigkeiten zwischen verfeindeten Landesbewohnern bzw. zwischen der Obrigkeit und bewaffneten Oppositionellen zu befrieden und demokratische Sitten einzuführen.

Das findet alle Welt äußerst anständig. Auch Pazifisten können derart humanitären Militäreinsätzen viel Gutes abgewinnen. Eine Kleinigkeit übersieht dieses Lob “Frieden schaffender” Militäreinsätze freilich. Die demokratischen Großmächte intervenieren in Verhältnisse, die sie selber, ebenfalls durch äußerst edelmütige Militäreinsätze, herbeigeführt haben. Sie haben maßgeblich an der Schaffung der politischen Zustände mitgewirkt, die sich als prekär erweisen und nur aufrecht zu erhalten sind, weil und solange sie mit bewaffneter Gewalt den Daumen drauf halten. Mit ihrem Eingreifen halten sie dann auch nichts anderes aufrecht als genau diese wackeligen Zustände. Und mit Humanität haben die Gründe, aus denen sie das tun, ebenso wie die Ziele, die sie damit verfolgen, ohnehin nichts zu tun.

Die Nato-Front am Hindukusch

In Afghanistan sind die Führungsmächte der demokratischen Staatenwelt doppelt engagiert. Die finanzkräftigen kapitalistischen Nationen investieren Geld, die Deutschen und andere Stützen des “europäischen Pfeilers” der Nato ca. 6000 Mann Militär, die nun auf etwa 10 000 aufgestockt werden sollen, in ein Aufbauprojekt, das – laut der mittlerweile dritten Afghanistan-Konferenz – auf keinen Fall scheitern darf. Und zwar nicht, weil das Überleben der Völker dort, sondern weil das Überleben der Nato und “unsere Freiheit am Hindukusch” auf dem Spiel steht. Nicht deswegen, weil die stärkste Militärallianz der Welt dort auf einen ernstlichen Gegner gestoßen wäre, sondern weil das Nato-Bündnis dort exemplarisch seine Fähigkeit unter Beweis stellen will, überall auf der Welt, wo immer es den Hauptmächten nötig erscheint, passende politische Verhältnisse zu implantieren. Das ist dort keine leichte Aufgabe, weil die stärkste demokratische Weltmacht noch immer damit beschäftigt ist, mit 12000 eigenen und etlichen alliierten Soldaten sowie mit Unterstützung der pakistanischen Armee “den Terrorismus” zu bekämpfen und damit ein Zerstörungswerk am besiegten Taliban-“Staat” zu vollenden, das alles andere als einen sauberen Bauplatz für ein modernes ‘Nation-Building’ hinterläßt.

1.      Ein freiheitlich-antiterroristisches Zerstörungswerk

Schon die Entstehung der frommen Taliban-Herrschaft war eine nicht ganz planmäßige Errungenschaft der westlichen Demokratien: ein Ergebnis des Nato-gesponserten Zerstörungswerks religiös fanatisierter Kämpfer an dem halbwegs ‘realsozialistischen’ Gemeinwesen, das eine innerafghanische Fortschrittsfraktion mit Unterstützung und schließlich nach Intervention der Sowjetunion in Gang gebracht hatte. Am Ende des erfolgreich niedergemachten ‘Nation-Building’ sowjetischer Machart stand ein Krieg zwischen zuvor verbündeten Kriegsparteien, dann im größten Teil des Landes die Herrschaft einer disziplinierten Moslem-Mannschaft, die ihrem Volk außer den elenden Lebensverhältnissen vor allem einen ideellen Genuß zu bieten hatte: Niemand wurde mehr zum Dienst am sozialistischen Fortschritt herangezogen, statt dessen wird im Gehorsam vor dem Allerhöchsten und in Unterordnung unter Stammesautoritäten dahinvegetiert – Freiheit statt Sozialismus in Afghanistan. Mit der Vernichtung des Refugiums für antiamerikanische Terroristen, zu dem die Taliban-Herrschaft sich entwickelte, heben die USA allerdings nicht bloß ein Verbrechernest aus. Mit der Zerstörung des Gebildes aus religiösem Wahn, überkommener Stammessitte und einheitlich kommandierten bewaffneten Kräften, mit dem die Taliban für so etwas wie ein Gewaltmonopol im Land gesorgt hatten, wurde ein wüstes Neben- und Gegeneinander regionaler Herrschaften freigesetzt, die ihrerseits auf Waffengewalt, vorpolitischer Stammesloyalität nebst religiöser Moral sowie, was die materielle Basis ihrer Macht betrifft, auf einer “politischen Ökonomie” der Opium-Produktion und des Schwarzhandels mit Waffen und humanitären Hilfsgütern beruhen: Alles andere als eine Tabula rasa für eine bürgerlich-demokratische Verfassung.

In der Nato herrscht eine gewisse pragmatische Klarheit darüber, was Not täte, um aus Afghanistan ein funktionierendes Staatswesen zu machen. Verlangt wäre als Erstes ein unbestrittenes flächendeckendes Gewaltmonopol; also eine in Institutionen vergegenständlichte, fürs Überleben der Gesellschaft und den Erfolg der Nation funktionale, allgemein anerkannte Staatsmacht sowie die zugehörige Politikermannschaft. Die muss zweitens auch etwas zu gestalten haben, d.h. über eine politische Ökonomie gebieten, die dem regierten Volk eine staatsnützliche produktive Betätigung und einen Lebensunterhalt als erwerbstätige Basis der Nation erlaubt und aufnötigt. Ein Volk, das sich aus persönlichen und moralischen Abhängigkeiten löst, so weit die für ein derartiges modernes Staatsleben dysfunktional sind, braucht es drittens auch noch. Nichts von alledem, das ist den Betreuern des Landes klar, ist in Afghanistan vorhanden. Also stellen sie hin, was sie für die Neugründung einer Staatsgewalt übrig haben.

2.      Das demokratische Aufbauwerk der ‘Internationalen Gemeinschaft’

Als Erstes einen Präsidenten, der symbolisiert, dass für Afghanistan das Zeitalter eines zivilen Gemeinwesens unter einem bürgerlichen Gewaltmonopol angebrochen ist. Da dieser über keinerlei Machtmittel verfügt, weder über eine auf ihn eingeschworene Privatarmee wie die anderen Machthaber noch erst recht über so etwas wie einen durchsetzungsfähigen bürokratischen Herrschaftsapparat, bekommt er eine Furcht einflößende amerikanische Leibwache gestellt sowie eine Internationale Schutztruppe, die die Hauptstadt sowie den Hauptort einer nördlichen Provinz kontrolliert und den hoffnungsvollen Beginn einer neuen Staatsordnung repräsentiert. Deren segensreiche Auswirkungen soll sie zur Anschauung bringen, indem sie sich um das eine oder andere zivile Aufbauwerk kümmert, damit die Afghanen merken, was sie von einem allgemeinen Landfrieden hätten. Für einen zivilen Aufbau, für brauchbare Überlebensbedingungen, stehen dem Präsidenten nämlich erst recht keine Eigenmittel zu Gebote. Die 5,4 Milliarden Dollar, die nette Nationen unter der Rubrik “Afghanistan-Hilfe” ausweisen, fließen hauptsächlich in Honorare und Spesen für Helfer, Berater und Aufbautrupps.

Für ein Aufbauwerk, wie es zuletzt die Sowjetunion mit ihrer Vasallenregierung probiert hat, fehlen alle Voraussetzungen: ein bürokratischer Apparat, der ein solches Programm in Angriff nehmen könnte; die Kontrolle über Land und Leute, mit denen es in Angriff zu nehmen wäre; und das Programm selbst – Planwirtschaft soll schließlich nicht einreißen. Was die entscheidende Instanz, den “globalisierten” Weltmarkt, betrifft: Der hat an afghanischer Arbeitskraft nicht das geringste Interesse und für Waren, die an afghanischen Arbeitsplätzen hergestellt werden könnten, keinen Bedarf. Opium ausgenommen, mit dem lassen sich einträgliche Geschäfte machen; allerdings nur, weil sie verboten sind und deswegen als Basis einer Nationalökonomie nicht recht in Frage kommen. Da bestehen die politischen Repräsentanten der Aufseher schon darauf, dass die Regierung in Kabul dem Schlafmohn-Anbau “den Krieg erklärt” und die einzige ergiebige Geldquelle lahm legt, aus der die unbotmäßigen Provinzfürsten ihre Machtmittel beziehen und von der eine Menge Landbevölkerung lebt. Weil niemand mit einem ernsthaften Anti-Opiumkrieg rechnet – die Nato-Schutztruppe ist explizit unzuständig – fließen die Gelder für die Rauschgiftbekämpfung vor allem in die Konstruktion eines Sicherheitskordons um Afghanistan herum, in dem die heiße Ware hängen bleiben soll. Für mehr materielle Starthilfe will die ‘Internationale Gemeinschaft’ im Übrigen nicht haftbar sein. Das fällige ‘Nation Building’ sollen die Afghanen letztlich selber erledigen. Dafür weiß man in der Welt des Imperialismus immerhin das Rezept; und auf das hat man das Land auch schon längst festgelegt: Demokratie!

3.      Das absurde Ideal freier Wahlen und der reale Machtkampf des Präsidenten

Die Freunde ordentlicher Verhältnisse “am Hindukusch” wissen aus ihren eigenen politisch gefestigten kapitalistischen Heimatländern, dass Macht und Herrschaft reibungslos funktionieren, wenn die Regierungsämter auf Grundlage einer freien Konkurrenz zwischen gleichförmig national gesinnten Parteien und nach Maßgabe eines Volksentscheids über die wählbaren Personen besetzt werden. Dem Rest der Welt, den zu beaufsichtigen sie für ihr Recht und ihre Pflicht halten, treten sie mit dem Anspruch gegenüber, er hätte sich an ihnen ein Beispiel zu nehmen. In diesem Sinne haben die maßgeblichen Schutzmächte bereits eine von ihnen zusammengebrachte und gelenkte Versammlung einheimischer Stammesautoritäten eine Wahl beschließen lassen, die, wenn sie dann über die Bühne gegangen ist, überall im Land für Herrschaftsverhältnisse sorgen soll, die nach Wunsch funktionieren.

Damit ist alles auf den Kopf gestellt. Wenn eine freie Konkurrenz ehrgeiziger politischer Führungsfiguren um die Macht friedlich vonstatten gehen und für verläßliches, von der Willkür des jeweiligen Machthabers unabhängiges Regieren sorgen soll, wie man es von den erfolgreichen Demokratien kennt, dann muss es eine durchorganisierte Staatsmacht, um deren Ausübung die Konkurrenz sich dreht, und eine feststehende Staatsräson, um deren optimale Durchsetzung die politischen Kämpfer streiten, schon geben. Eine Methode, solche Verhältnisse einzuführen, sind freie Wahlen nicht, im Gegenteil: Ohne Gewaltmonopol und fixe nationale Agenda gerät die Konkurrenz um den Wahlerfolg zu einem Machtkampf mit Bürgerkriegsqualität; denn dann geht es pur um die Beschlagnahme von Machtmitteln durch die siegreiche “Partei”; und die macht mit den eroberten Mitteln ihren Herrschaftswillen zum Gesetz und gerade nicht ein feststehendes kapitalistisches Gemeinwohl der Nation zur Grundlage ihres “Gestaltungswillens”. Das zeichnet sich in Afghanistan ab. Die Wahlveranstalter haben es nicht mit ordentlichen, demokratisch gleich gesinnten Blockparteien zu tun, sondern mit konkurrierenden Clans und Stämmen, die schon bei der Aufstellung der Wählerlisten ihre Autoritäten und ihre Gewaltmittel mobilisieren, weil damit bereits die Weichen für den Wahlausgang gestellt werden. Für diese “Parteien” ist die Wahl selbst nicht mehr und nicht weniger als ein Schauplatz ihres ohnehin laufenden Ringens um die Reichweite ihrer Gewalt, die sie gegen ihre Rivalen betätigen, und die sie nachher bestimmt nicht als loyale Opposition der Regierungsmehrheit unterordnen. Der Wahlkampf hat daher auch nichts mit Blasmusik, “Fairneßabkommen” und freiwilligen Plakatklebern zu tun, sondern ist ein Stück Bandenkrieg um Einflusszonen und verfügbare Gefolgschaft.

Die demokratischen Paten des neuen Afghanistan sehen das locker oder tun wenigstens so. Nur von “organisatorischen Problemen” wollen sie wissen; und wenn der von ihnen inthronisierte Präsident Karsai die für den Herbst geplanten Wahlen verschiebt, dann halten sie an der Fiktion fest, das läge nur an den sich verzögernden Wählerlisten. Dabei haben sie in Wirklichkeit einen Machtkampf in Gang gesetzt, der sich in keiner Hinsicht an ihr Drehbuch hält. Der Präsident, den sie in sein Amt eingesetzt haben, den sie an der Macht halten, und auf dessen Erfolg sie setzen, nimmt Zug um Zug den Kampf um die Unterwerfung der regionalen und lokalen Gewalthaber auf; nicht unter eine afghanische Staatsräson, die es gar nicht gibt, sondern unter seine Autorität. Dafür kalkuliert er mit “freien Wahlen”; vor allem aber setzt er darauf, dass er seinen demokratischen Schutzmächten genügend Militär und Milliarden wert ist, dass sie ihn nicht scheitern lassen. Die kalkulieren umgekehrt mit ihm. Aber nicht so, dass der Einsatz der internationalen Truppe Karsais Kampf um die Vormacht im Land entscheiden, geschweige denn überflüssig machen könnte.

Stattdessen richtet sich die Nato-Truppe ein, zwischen städtischen Trümmerwüsten und punktuellem Aufbau, verbotenem Opiumanbau und den Rivalitäten aller ambitionierten Machthaber im Land. Denn um das, was sich hier die Öffentlichkeit unter einem ‘Nation Building’ vorstellt, geschweige denn um das, was der vom Westen inthronisierte Präsident in Kabul sich von seinen europäischen und amerikanischen Paten erhofft, geht es denen einfach nicht.

4.      Das Ringen verbündeter Imperialisten um wechselseitige Funktionalisierung

Die Großmächte, die ihre “Freiheit am Hindukusch verteidigen”, folgen mit ihrem Militäreinsatz einer imperialistischen Rechnung der höheren Art, in der Afghanistan nur als exemplarischer Schauplatz fungiert und der nominelle Staatschef als Schachfigur. Die USA führen ihren Antiterrorkrieg gegen die Überreste der Taliban-Herrschaft und des antiamerikanischen “Netzwerks” im Land; was sich dort sonst noch abspielt, behandeln sie als Bedingung für ihre Kampfeinsätze und deren Erfolg. Von ihrem Geschöpf in Kabul und von der Isaf-Schutztruppe erwarten sie Ordnungsdienste.

Den EU-Mächten, die die Isaf-Truppe im Wesentlichen stellen, geht es im Grunde gar nicht darum, sich in die inner-afghanischen Machtkämpfe, sondern vielmehr darum, sich in Amerikas Antiterrorkrieg einzumischen. Sie wollen nicht abseits stehen, wenn die USA in Zentralasien die Front in ihrem Jahrhundert-Feldzug gegen den Terrorismus eröffnen. Dabei wollen sie sich aber auch nicht als “willige Helfer” dem Kommando der Supermacht unterordnen und für deren Belange verschleißen lassen. Deswegen unterstützen sie die Kampfaktion “Enduring Freedom” nur mit minimalen Kräften und konzentrieren sich darauf, daneben mit einer Staatsgründungs-Initiative eine eigenständige europäische Zuständigkeit für die Verhältnisse in Zentralasien zu etablieren, mit einem eigenen, selbst definierten und von der Uno abgesegneten Auftrag. Aus ihrer relativen militärischen Schwäche machen sie eine politische Tugend. Sie versuchen gar nicht erst, sich in Sachen Kriegsführung und “Befriedung” des Landes mit den USA zu messen, überlassen denen in dieser Hinsicht das alleinige Kommando, also auch die ganze Last – und profitieren zugleich vom Kampfeinsatz der Truppen des Verbündeten. Denn was sie sich an eigenständigen Ordnungsaufgaben zurechtlegen und mit ihren knapp 6000 Mann in Angriff nehmen, ist nur deswegen kein Witz, und lässt sich nur deswegen durchhalten, weil Amerika präsent ist, mit seinem Kleinkrieg gegen die falschen Fundamentalisten einen offenen Aufruhr gegen das Regime in Kabul unterbindet und mit einer Mischung aus Drohung und Kumpanei die Provinzfürsten und Milizführer dazu bringt, einigermaßen stillzuhalten. Die ‘pax americana’, die die USA über den ersten Schauplatz ihres Jahrhundert-Feldzugs gegen “den Terrorismus” verhängt haben, fordert die Europäer zu militärischer Einmischung heraus – und ermöglicht ihnen zugleich ein Mitmischen auf eigene Rechnung und mit überschaubarem Kräfteeinsatz; eine Einmischung, mit der sie dem US-Krieg nicht in die Quere kommen, sich aber auch nicht dienstbar machen; einen Einsatz, der den Amerikanern für ihren Kleinkrieg wenig erspart und der trotzdem einen Beitrag darstellt – eine interessante Neuauflage des in 40 Jahren des “Kalten Krieges” praktizierten Ausnutzungsverhältnisses zwischen der Nato-Führungsmacht und ihren europäischen Partnern.

Mit dieser deutsch-europäischen Politik des maximalem imperialistischen Ertrags bei minimalem Aufwand sind die USA durchaus nicht zufrieden. Sie machen ihren Verbündeten die umgekehrte Rechnung auf: Was die in Afghanistan leisten, hat zu wenig den Charakter eines abrufbaren Hilfsdienstes, ist dafür einerseits zu eigenmächtig und andererseits viel zu gering, als dass die Nato-Führungsmacht sich dadurch wunschgemäß entlastet sehen könnte. Die drängt daher im Rahmen ihrer Allianz auf mehr abrufbare europäische Beiträge und möchte bei den Verbündeten durchsetzen, dass deren Afghanistan-Einsatz ausgebaut und zum Vorbild für eine neue Strategie der Allianz wird – für einen Irak-Einsatz z.B.; schließlich hat Washington einen Weltkrieg fürs gesamte 21. Jahrhundert angesagt und eingeleitet.

So gerät die Verteidigung der westlichen Freiheit “am Hindukusch” zur Bewährungsprobe für die amerikanisch-europäische Bündnispartnerschaft. Es geht nicht bloß um den möglichst eindrucksvollen praktischen Nachweis, dass die Allianz in der Lage ist, antiamerikanische Partisanen und Terroristen auszumerzen und gleichzeitig ein zerstörtes, zerlegtes Land unter die Kontrolle einer einigermaßen haltbaren und dabei vollständig gefügigen – eben: demokratischen – Zentralregierung zu bringen. Es geht dort schon wieder, und schon wieder exemplarisch darum, ob und wie, von wem und für wen die Nato sich als Instrument für “Frieden schaffende” Kriege in aller Welt einsetzen lässt. In genau gegensätzlichem Sinn geht es den USA auf der einen, den Vertretern des “europäischen Pfeilers” auf der anderen Seite um den Nutzen und mittlerweile auch schon um den Fortbestand, um “Sein oder Nicht-Sein” der Allianz: Amerika will den Pakt als Instrument, um seinen aufstrebenen Mit-Imperialisten Aufgaben zuzuweisen und Lasten aufzuerlegen; die Europäer wollen umgekehrt Amerikas Übermacht für sich nutzen, nämlich als Basis für eigene Einmischungsmanöver; durchaus mit dem Ziel, sich von ihrer Abhängigkeit von den USA allmählich frei zu machen.

Afghanistan ist der Austragungsort, der Präsident und seine Bevölkerung das Material für die Konkurrenz der imperialistischen Nationen auf beiden Seiten des Atlantik, die zunehmend das vom einstigen “Störenfried” Sowjetunion befreite Weltgeschehen beherrscht.

Zusammenfassung: Zynismus und Zielstrebigkeit des Imperialismus heute

Die Führer mächtiger kapitalistischer Nationen, die sich berufen fühlen, die Staatenwelt zu ordnen, haben fremde Souveränität nie besonders respektiert. Was sie bzw. von ihnen ausgestattete Parteien und Figuren in anderen Ländern angerichtet haben, definieren sie mittlerweile in etlichen Fällen als “staatlichen Fehlschlag” – ‘failing states’. Mit dieser Kennzeichnung schreiben sie einen Haufen Mitglieder ihrer ehrenwerten “Völkerfamilie” als ernst zu nehmende staatliche Gebilde und Teilhaber ihrer kapitalistischen Weltordnung ausdrücklich ab; zugleich schieben sie die Schuld am Desaster der betreffenden Länder den ortsansässigen Potentaten mitsamt ihrem Fußvolk zu; und überlassen die verheerenden Kollateralschäden ihrer Weltordnung und ihrer globalen Wirtschaftsweise – das grassierende Elend, die Verwahrlosung ganzer Völker und die Geschäftsunfähigkeit ganzer Staatsgebilde – den Fernsehkameras umtriebiger Reporter und der allgemeinen Mildtätigkeit. Dies vorausgesetzt, behalten jene Länder, in denen man immer die ganze Welt als Einsatzfeld für eigenes Kapital und eigene Gewalt im Auge hat, es sich vor immer dann aktiv zu werden, sobald sie den Bedarf verspüren, und einem desolaten Land eine nationale Neugründung – ein ‘Nation Building’ – zu verordnen.

Wenn sie sich dazu entschließen, dann verbinden sie den völligen Zugriff auf das betreffende Staatsgebilde mit der entschiedensten Ablehnung jeder Verantwortung für dessen Überlebensfähigkeit – von der Bevölkerung ganz zu schweigen –: Sie installieren eine Obrigkeit, statten sie mit ein bißchen militärischem und finanziellem Startkapital aus, weil diese Länder selbst das nicht hergeben, und verlangen dann von ihrem Geschöpf das Unmögliche: Es hat dafür zu sorgen, im Prinzip aus eigener Kraft, dass der “fehlgeschlagene Staat” trotzdem und ohne weitere Mittel funktioniert; zumindest insoweit, dass störende Umtriebe unterdrückt werden und dass das Elend nicht zum Flüchtlingsproblem wird. Mit dem gebieterischen Wunsch nach Demokratie spitzen die Auftraggeber ihre Forderung dahingehend zu, dass der verlangte Ordnungsdienst reibungs- und kostenlos zu funktionieren hat; dadurch, dass das gottergeben vor sich hin gammelnde Volk Gelegenheit erhält, seine Überwachungsmannschaft immer wieder in aller Freiheit zu wählen. Dieser Zynismus einer Fremdherrschaft, nämlich einer Herrschaft in fremdem Interesse, aber im Namen des ruhig gestellten Volkes genießt öffentlichen Beifall, weil der Ehrentitel “Demokratie” sowieso jeden Gedanken an deren Realität erschlägt – auch und gerade da, wo er nichts anderes bezeichnet als Fremdherrschaft ohne koloniale Kosten.

Die modernen “Verhältnisse” enthalten für die modernen Weltordner “fallspezifische” Herausforderungen. Da wird etwa in einem Fall ein Auftrag an eigene Kreaturen falsch verstanden, und die Europäer müssen dem “übertriebenen” Nationalismus der Kosovo-Albaner eins aufs Dach geben. Anderswo löst die staatsähnliche Ordnung sich völlig in Bandenkriegen auf, und eine kleine Kolonialarmee muss hin, um auf Haiti den drohenden Flüchtlingsstrom an der Quelle zu stoppen. Afghanistan ist ein Fall; wo ein erfolgreich geförderter antikommunistischer Gotteskrieg der Kontrolle seiner Auftraggeber entglitten ist; gewaltsamer Rückruf war nötig; nun sollen die Trümmer wieder so zusammengefügt werden, dass eine Wiederholungsgefahr ausgeschlossen ist. Mit welchem Aufwand die Hüter der Weltordnung da jeweils zu Werk gehen, bleibt ebenso Sache ihres freien Ermessens wie die Entscheidung, einen der sowieso dauernd anfallenden Katastrophenfälle überhaupt als Herausforderung ihrer Weltordnungskompetenz zu definieren – Schwarzafrika zB ist ihnen nicht so viel Einsatz wert. Für ihre entsprechenden Beschlüsse nehmen sie aneinander Maß: Wie sie sich im Verhältnis zu ihresgleichen “positionieren”, wenn sie dieses tun und jenes lassen; wie viel Einfluss auf den Gewalthaushalt der Welt sie einander abzuringen vermögen – das sind so die Gesichtspunkte, an denen sich der Übergang von der Diagnose ‘failing state’ zum ‘Nation Building’ entscheidet. Wenn Amerika Eingriffstatbestände definiert und sich zu Interventionen herabläßt, dann folgt es in erster Linie den Erfordernissen seines Feldzugs für eine von Antiamerikanismus gereinigte Welt; dabei hat es vor allem seine wichtigsten Geschäftspartner und rivalisierenden Verbündeten im Visier und legt es darauf an, die als Hilfskräfte einzubinden und von konkurrierender Einflußnahme fern zu halten. Umgekehrt tun die das Ihre, um sich mitentscheidend und zunehmend alternativ in die Manöver ihrer verbündeten Supermacht einzuschalten und in deutlicher Differenz, auch schon in Gegensatz zu dieser Problemfälle selber zu definieren und Zuständigkeiten zu etablieren.

Ob so ein staatlicher “Fehlschlag” überhaupt als Betreuungsfall gewürdigt, welches Gewicht ihm beigelegt und wie mit ihm umgesprungen wird, das richtet sich zuerst und zuletzt danach, wie sehr und inwiefern er von den USA und den Führungsmächten der EU als ein Fall für ihre Konkurrenz wahrgenommen und benutzt wird. Das erinnert nicht zufällig an die Art und Weise, auf die seinerzeit der geeinte “Westen” an Nebenkriegsschauplätzen und mit “Stellvertreterkriegen” seinen “kalten” Weltkrieg gegen die Sowjetunion durchgefochten hat. Damals allerdings konnten aufstrebende “3.Welt”-Länder sich von ihrem Stellenwert innerhalb dieser großen Konfrontation wenigstens manchmal noch eine Unterstützung erhoffen, die sie vor dem Schicksal eines ‘failing state’ bewahrte. So freigebig sind die rivalisierenden Imperialisten des 21. Jahrhunderts beim Genuß der weltpolitischen “Friedensdividende” ihres gemeinsamen Sieges über die Sowjetmacht nicht mehr.