GEGENARGUMENTE

Die freie Marktwirtschaft im Deutschen Wahlkampf

Die Machtfrage des deutschen Kanzlers, das Gegenangebot der Opposition sowie überhaupt alle Konkurrenzen, Polemiken und üblen Nachreden, mit denen Kandidaten und Parteien etwas für ihre Unterscheidbarkeit tun und die Wähler betören, finden statt auf dem Boden einer ganz und gar gemeinsamen Diagnose der krisenhaften Lage der Nation und einer ebenso geteilten Therapie: Dem Volk fehlt Arbeit, und diese Not muss bekämpft werden! Dem war schon Schröders Amtsantritt vor 7 Jahren gewidmet. Er wollte sich an der Reduktion der Arbeitslosenzahlen messen lassen, und ist mit all seinen Reformen, die das Land gründlich verändert haben, an diesem Ziel gescheitert. Die unerledigte Aufgabe will er mit einem neuen Auftrag und neuem Elan fortsetzen. Dieselbe Aufgabe wollen ihm die anderen abnehmen. Bundespräsident Köhler fordert “Vorfahrt für Arbeit”, die CDU-Kanzlerkandidatin verspricht eine echte “Agenda für Arbeit”; der bayrische CSU-Ministerpräsident definiert: “Sozial ist, was Arbeit schafft”, und alle, einschließlich des sozialdemokratischen Wirtschaftsminister schließen sich, das Motto leicht variierend, an: “Fair ist, was Arbeit schafft.”

1.

Die Politik kennt und anerkennt nur noch ein echtes, unbedingt schutzwürdiges Interesse der “sozial Schwachen” – das absurdeste: das an Arbeit. So einfach wird nämlich niemand von einem Bedürfnis nach Arbeit umgetrieben. Arbeit ist immer noch der Aufwand, der getrieben werden muss, um die Gegenstände und Mittel herzustellen, nach denen ein Bedürfnis besteht, sie ist nicht selbst das Bedürfnis, und jeder Arbeiter, der seine Sinne beieinander hat, ist froh, wenn die Arbeit erledigt und wieder vorbei ist. Das Bedürfnis nach Arbeit, dem die Politiker sich nachdrücklich verpflichten, ist kein waldursprünglich menschlicher Drang, sondern Ausdruck einer hergestellten, erzwungenen Lage. Nach Arbeit seufzen, Arbeit suchen nur Proletarier in der kapitalistischen Gesellschaft, Leute, denen es unmöglich ist, die für ihre Bedürfnisse nötigen Arbeiten nach eigenem Entschluss und nach Maßgabe ihres Bedarfs zu verrichten. Leute, die getrennt sind von den Mitteln der Produktion, so dass sie davon leben müssen, Dienste für die Reichtumsvermehrung anderer nach deren Vorgaben und Ansprüchen zu verrichten und sich dafür bezahlen zu lassen. Politiker, die “Arbeit schaffen” wollen, unterstellen die ganze, mit staatlicher Rechtsgewalt hergestellte und von ihr geschützte Eigentumsordnung, die Scheidung in die Klasse der Eigentümer der Produktionsmittel auf der einen und in die Klasse der eigentumslosen Arbeitskräfte auf der anderen Seite, als eine eherne “Realität”, der sie in der Ausübung ihres Amtes gerecht zu werden hätten. Nur die von dieser Realität erzwungenen Interessen und Nöte anerkennen sie als legitime Interessen der Bürger – und denen dienen sie dann.

Zynisch setzen sie darauf, dass der Bedarf nach solchen Diensten im Volk reichlich vorhanden ist, denn – doppelt absurd – das erzwungene Interesse, für den Reichtum der Reichen schaffen zu dürfen, ist für Millionen gar nicht zu befriedigen. Der Bedarf der Armen nach Lohnarbeit, mit der sie sich ihren Lebensunterhalt verdienen können, ist viel größer als das Bedürfnis der kapitalistischen Gesellschaft nach den Leistungen ihrer Arbeit. Die Eigentümer können die vielen Arbeitskräfte, die sich ihnen anbieten, für die Verwertung ihrer Investitionen einfach nicht gebrauchen. Nicht, dass sie weniger Waren produzieren würden als früher – ganz im Gegenteil; nicht dass die Herstellung irgendwelcher Produkte unterbliebe, die sich mit Gewinn verkaufen lassen; alles, was kapitalistisch gebraucht wird und geht, wird produziert und verkauft – aber eben mit erheblich weniger Arbeitskräften als früher. In der Not der Millionen Erwerbslosen reflektiert sich keine allgemeine gesellschaftliche Armut, kein Mangel an Produkten und Produktionsmitteln, sondern Überfluss: der erreichte Stand der Produktivität der Arbeit, mithin die Ergiebigkeit der Springquellen des materiellen Reichtums. Ihr Fortschritt verwirklicht sich im Kapitalismus so pervers, weil die Unternehmer die Arbeit ihres Personals immer produktiver machen, aber nicht um ihren Leuten Arbeitsmühen zu sparen, sondern um Arbeitskräfte einzusparen, sich die Bezahlung ihres Lohn zu ersparen. Dafür machen sie die Arbeit der Leute, die sie weiterhin für ihren Geschäftszweck benutzen, immer rentabler; und dafür wenden sie zugleich immer weniger Arbeitskräfte rentabel an. Der Nutzen der hohen Arbeitsproduktivität verteilt sich also sehr einseitig: Das Kapital bekommt die Leistung seiner Arbeitskräfte immer billiger, indem es pro Arbeitstag immer mehr verkaufbares Produkt aus seinen Beschäftigten herausholt; die Arbeitskräfte aber haben vom wachsenden Wirkungsgrad ihrer Arbeit nichts zu erhoffen als die Bedrohung ihrer Existenz. Noch froh sein muss der Teil der Belegschaft, der für seine ergiebigere Arbeit denselben alten Lohn erhält; der andere Teil fliegt wegen der gewachsenen Leistungskraft seiner Arbeit nämlich auf die Straße und bezahlt den Fortschritt der Produktivkräfte mit unmittelbarer Verelendung. Der Segen, dass immer weniger Arbeit für die Herstellung der benötigten und erwünschten Güter erforderlich ist, wird für kapitalistische Arbeitskräfte zum Fluch: Sie leben vom Gebraucht-Werden für fremden Gewinn, können daher umso weniger leben, je weiter die Entwicklung der materiellen Reichtumsquellen fortschreitet. Dass sie sich von dieser ruinösen Fessel befreien, sich die Produktionsmittel aneignen und die notwendige Arbeit selbst so organisieren, dass alle mit weniger Mühe mehr Güter ihres Bedarfs produzieren und das Leben ein bisschen gemütlicher angehen: diese Vorstellung ist mit den kommunistischen Bewegungen ausgestorben.

Herrschende Demokraten lassen sich wählen mit dem Versprechen, sich der Not anzunehmen, die mit der Mehrung des kapitalistischen Überflusses wächst, und einmal im Amt, tun sie das auch. Sie sorgen erstens für diese Not, indem sie eisern und mit allen Hebeln der Staatsgewalt sicherstellen, dass anders als durch fürs Kapital lohnende Arbeit niemand leben kann. Zweitens dadurch, dass sie sich der Aufgabe verschreiben, von der relativ überflüssig gewordenen Arbeit wieder mehr zu “schaffen”. Dies drittens aber nicht so einfach: Öffentlich Arbeit zu organisieren, weil Arbeitslose etwas zum Leben brauchen und es sich schaffen sollen, das kommt im Reich der Freiheit nicht in Frage. Arbeit zu schaffen, ist hier Privileg und edle Pflicht der freien Wirtschaft. Das Privileg gibt es – niemand sonst befindet darüber, ob, von wem, wie lange und für welchen Zweck gearbeitet wird; die edle Pflicht ist jedoch ein Märchen. Eine Aufgabe namens “Arbeit schaffen” kommt in der Agenda der Herren Kapitalisten überhaupt nicht vor. Sie benutzen und bezahlen immer gerade so viel oder so wenig Personal, wie sie für ihr Geschäft lohnend finden – und dabei kalkulieren sie, wie gesagt, knapp: Möglichst wenige bezahlte Arbeitskräfte sollen ihnen möglichst viel Arbeit erledigen. Paradoxerweise stehen die Ausbeuter der Arbeit umso mehr im guten Ruf des Arbeitgebers, je mehr Leute sie entlassen, und je mehr die Gesellschaft gewahr wird, wie unbedingt sie von den Kalkulationen der Herren Arbeitgeber abhängt und diese Abhängigkeit bejaht. Dann lernt sie an der massenhaften Produktion von Arbeitslosen auch nicht, dass in dieser Wirtschaft von einer Aufgabe oder Pflicht zum Arbeit-Geben keine Rede sein kann; im Gegenteil: dann lernt sie daran, wie schwer es den Unternehmern offenbar fallen muss, ihrer gesellschaftlichen Verantwortung nachzukommen. Da meldet sich dann viertens die in Sachen Arbeit-Schaffen ohnmächtige Politik wieder, reklamiert dann doch eine Gesamtverantwortung für die Arbeitsplätze im Land und “schafft Arbeit”, so wie es ihr in einer freien Wirtschaft eben ansteht: Sie kämpft gegen die Hindernisse und reißt die Schranken ein, die den Kapitalisten das Arbeit-Schaffen schwer machen. Wenn sich im Land zu wenig Arbeit fürs Kapital lohnt, dann ist die Arbeit eben nicht rentabel genug, jeder Arbeitslose ist dann ein Beweis dafür, dass die Rendite der Kapitalisten zu niedrig ist. Dann tut die Politik das kapitalistisch Angemessene gegen die Not der Arbeitslosen, indem sie sie billiger macht.

2.

Dieses Versprechen, das Volk mit mehr Arbeit einzudecken und keinen anderen Mangel als den an Arbeit mehr gelten zu lassen, definiert neu, was einmal “sozial” hieß. Mehr als ein Jahrhundert lang hatte Sozialpolitik das Ziel, den Kapitalismus für die Lohnarbeiter aushaltbar zu machen. Dazu war einiges nötig. Aus demselben Grund nämlich, aus dem das Kapital die Leistungsfähigkeit der Arbeit durch Wissenschaft und Technik steigert – es spart an der Bezahlung der Arbeit, aus der es immer mehr Leistung herausholt –, kann der menschliche Kostenfaktor vom Ausfüllen seiner ökonomischen Rolle an und für sich nicht leben, jedenfalls nicht ein Leben lang. Erst die gesetzliche Beschränkung der Unternehmerfreiheit, Grenzen für die Dauer des Arbeitstages, die Zulassung von Gewerkschaften und die Rechtsverbindlichkeit der von ihnen ausgehandelten Tarifvereinbarungen hat die Ausbeutung des Arbeiters für ihn überhaupt zu einem Erwerb mit halbwegs festgelegtem Aufwand und Ertrag werden lassen. Auch davon aber konnte er auf Dauer nicht leben ohne staatliche Sozialversicherungen, die Teile seines Lohnes konfiszieren und im Interesse des Überlebens der Arbeiterklasse zwangsbewirtschaften. Für die notwendigen Phasen des Elends im Lebensweg des Lohnabhängigen – Alter, Krankheit, Arbeitslosigkeit – werden aus dem Lohn, den das Kapital zahlt, Versicherungsbeiträge abgezweigt und nach erworbenen Anwartschaften und Bedürftigkeit unter den einkommenslosen Mitgliedern der Arbeiterklasse umverteilt. Das Zwangsregime hat dem Lohn abgerungen, was er von sich aus nicht ist: ein Einkommen, mit dem ein Leben lang der Unterhalt des Arbeiters bestritten werden kann – das alles natürlich um den Preis der Schmälerung des Netto-Lohns, der dem Proletarier bleibt.

In Zeiten millionenfacher Überflüssigkeit von Arbeitskräften für die Wirtschaft setzen Politiker aller Couleur auf die Überzeugungskraft des Arguments, dass es für Lohnarbeiter Schlimmeres gibt, als ausgebeutet zu werden – nämlich nicht ausgebeutet zu werden, die Chance also gar nicht erst geboten zu bekommen, sich durch Bereicherung des Arbeitgebers den Lebensunterhalt zu erarbeiten. Diese “Einsicht” begründet die Umwertung alles Sozialen, das der Staat einmal für nötig gehalten hat: Alle Vorkehrungen und Nachhilfen, die die Ausbeutung für den Arbeiter aushaltbar machen sollten, verteuern die Arbeit. Sie beschädigen also, wovon der Arbeiter in Wahrheit lebt – seine Rentabilität für das Profitinteresse des Kapitals –, und zerstören seine herrliche Einkommensquelle. Alles, was der Arbeiter von seiner Arbeit hat und aus seinem Arbeitsentgelt finanziert – Lebensunterhalt, Freizeit, soziale Sicherheit –, verhindert die soziale Hauptsache: Dass überhaupt Ausbeutung stattfindet und der Arbeiter “Beschäftigung” hat. Alle einhundertjährigen staatlichen Regelungen, Korrekturen und Kompensationen der Ausbeutung waren ein Fehler. Der Kapitalismus lässt sich nicht sozial veredeln – und wer es versucht, schädigt zuallererst die “Schwachen”, die er schützen will. Seine Ausbeutung als billige Arbeitskraft ist selbst die soziale Wohltat des Kapitals, auf die der Normalbürger zu hoffen und zu setzen hat.

3.

Der Gehalt des Wahlversprechens wird verstanden. Die Wähler entnehmen der Neudefinition des Sozialen sehr wohl die Ansage weiterer “Grausamkeiten”, wie das in der gemütlichen Sprache der Politik heißt. In der Demokratie wird eben nichts verschwiegen. Die Bürger sollen die Opfer, die sie bringen werden, billigen, ja am besten noch selbst fordern. Selbst die Verarmung der Masse der Bevölkerung wird in Form einer hoch demokratischen Konkurrenz von Amtsanwärtern um die Gunst der Betroffenen abgewickelt. Das geht – und nicht nur, weil die Wähler ja doch keine Wahl haben, wenn alle Parteien gleichermaßen versprechen, mit aller Macht Arbeit zu schaffen, sondern weil sie sich die Notwendigkeit der “unvermeidlichen Einschnitte” einleuchten lassen. Die demokratische Politisierung des Untertanen ist nichts anderes als die Kunst, ihn gegen seine Interessen zu interessieren. In all seiner Radikalität ist der deutsche Wahlkampf im Jahr 2005 ein Musterfall davon. Die Wahlkämpfer sprechen den Bürger auf seine erzwungene Angewiesenheit auf die Nachfrage des Kapitals nach Arbeit an, erinnern ihn an seine Abhängigkeit vom feindlichen Interesse und versprechen ihm, an den Schalthebeln der Macht dieser Abhängigkeit gerecht werden zu wollen. Sie versprechen, wenn gewählt, der Eigentümerklasse nach besten Kräften zu dienen, sie von Beschränkungen freizusetzen, sie in jeder Hinsicht zu fördern und ihren arbeitenden Wählern dafür alles wegzunehmen, was den Reformern als hinderlicher Besitzstand ins Auge fällt. Diese Bürger sind Objekte des Ausbeutungsinteresses der Gegenseite und werden politisch auf dieses Abhängigkeitsverhältnis mit aller Härte festgelegt – der demokratische Wahlkampf aber spricht sie als Subjekte ihrer Abhängigkeit an, als Leute, die im wohlverstandenen eigenen Interesse den Ansprüchen gerecht werden müssen, denen sie zu ihrem Schaden unterworfen sind. Ihre Verarmung besorgen ihnen ihre Volksvertreter nur zu ihrem Besten, weil in schweren Zeiten eben viele Interessen hinter dem wichtigsten, ersten Interesse zurückstehen müssen! Das erzwungene, absurde Bedürfnis nach Arbeit bekommen die Betroffenen erläutert als das, was es unter kapitalistischen Existenzbedingungen tatsächlich ist: ihr erstes und eigentliches Lebensbedürfnis – alle ihre anderen Bedürfnisse, die sie mit dem Ertrag ihrer Arbeit befriedigen wollen, lassen sie sich als verzichtbaren Luxus schlecht machen, der in Zeiten entwickeltster Produktivkräfte einfach nicht mehr finanzierbar ist.