GEGENARGUMENTE

Europas Atom-Diplomatie mit dem Iran, oder: Weltfriedenspolitik mit einem erklärten Feind Amerikas

Europas führende Imperialisten betreiben den Aufstieg ihrer Union zur Weltordnungsmacht gleichen Ranges wie ihr amerikanischer Verbündeter – und sind mit einer US-Politik der gewaltsamen Umgestaltung der Staatenwelt im Nahen und Mittleren Osten konfrontiert, die sie um ihren gehobenen Stellenwert in der Weltpolitik fürchten lässt, den sie schon errungen und sicher geglaubt hatten. Aus dieser bitteren Erfahrung haben sie gelernt, dass sie gar nicht präventiv genug auf Amerikas Präventivkriege reagieren können, durch die sie zu Helfershelfern oder Außenseitern degradiert werden – exakt so agieren sie im „Fall“ Iran.

1.

Aus Sicht der USA repräsentiert der Staat der Mullahs den Kriegsgrund, dessentwegen seit der Ausrufung des „Kampfes gegen Terrorismus“ nicht nur amerikanisches Militär an diversen Schauplätzen unterwegs ist, und den nach dem Willen der Weltmacht alle Staaten der Weltgemeinschaft grundsätzlich als verbindlich anzuerkennen haben: Im Iran hat sich ein anti-westliches, speziell anti-amerikanisches, undemokratisches, menschen- und speziell frauenverachtendes Regime verbunkert. Des „Terrors“ und seiner Unterstützung ist es längst überführt, seine unverdrossen betriebenen außenpolitischen Aktivitäten in Afghanistan, im Irak, Libanon und überall in der Region belegen: Der „Iran bleibt der weltweit wichtigste staatliche Unterstützer von Terror.“ (Bush, Rede zur Lage der Nation, 4.2.05) Der Iran hat Waffen, hat weitreichende Raketen, versucht seit geraumer Zeit, sich atomare Sprengköpfe zu verschaffen, und selbstverständlich stehen bei diesem Staat seine Waffen unmittelbar für seinen Willen zur Kriegsführung. In etwa stellt der Iran so eine Kombination von Bedrohungen dar, wie sie die USA zusammen mit ihrer „Koalition der Willigen“ im Namen ihrer eigenen Sicherheit wie zum Schutz der Weltgemeinschaft im Irak präventiv ausgeschaltet hat, und auch beim Kriegsziel ist die Analogie gegeben: Letztlich zu tilgen ist die von dem Staat Iran ausgehende Bedrohung nur durch den Wechsel des Regimes, das gegenwärtig in diesem „Vorposten der Tyrannei“ (Rice, FAZ-net, 4.2.05) regiert.

Offiziell betreibt die Weltmacht noch „keine aktive Politik des Regimewechsels in Teheran“ (ebd.), sondern eine mehr passive. Sie hält sich nach eigener Auskunft extrem zurück, begnügt sich mit der politischen Ächtung und ökonomischen Schwächung des Staates mittels Embargo und Sanktionsdrohungen gegen alle, die es unterlaufen, und treibt im Inneren des Landes unter der Parole „Demokratisierung“ alles voran, was die CIA und andere Fachbetriebe an zersetzendem Einwirken unterhalb einer offiziellen Invasion hinkriegen – letztlich muss ein „regime-change“ natürlich doch sein; wie anders wäre die „Hoffnung des iranischen Volkes auf Freiheit“ (ebd.) zu erfüllen?! Gleichzeitig wird die längst fällige offizielle Kriegserklärung durchaus auf den diplomatischen Weg gebracht: Mit der Einschaltung der IAEO, der Wiener Kontrollbehörde zur Überwachung des „Atomwaffensperrvertrags“ – Non Proliferation Treaty (NPT) –, von der die Sache an den Sicherheitsrat der UN weitergeht, der dann wieder vor der Wahl steht, übergangen und seiner Irrelevanz überführt zu werden oder die USA mit einem präventiven Verteidigungskrieg gegen Massenvernichtungswaffen in falschen Händen zu beauftragen. In umsichtiger Vorausschau wird den Verbündeten höflich mitgeteilt, wofür die Weltfriedensmacht sie demnächst, und zwar noch deutlicher als im Fall Irak, in Anspruch zu nehmen gedenkt: „Ich denke, dass unsere europäischen Verbündeten zustimmen, dass das Verhältnis Teherans zu den Menschenrechten und seinem eigenen Volk verabscheuungswürdig ist.“ (ebd.) „Im Iran verfolgt die freie Welt ein gemeinsames Ziel: Um des Friedens willen muss das iranische Regime die Unterstützung des Terrorismus beenden und darf keine Atomwaffen entwickeln. Zur Gewährleistung der Sicherheit freier Nationen kann keine Option dauerhaft ausgeschlossen werden.“ (Bush, 21.2.)

2.

Inwieweit die Nato-Führungsmacht mit ihrer Warnung vor iranischen Atombomben und Raketen, die bis nach Europa reichen könnten, tatsächlich eine ernsthafte Sorge der Europäer um ihre militärische Sicherheit trifft und ein „vitales Interesse“ an der vorsorglichen Eliminierung dieser Gefahr weckt; ob Deutschland, Frankreich und Großbritannien auch von sich aus die Notwendigkeit entdeckt hätten, den Mullahs den Weg zur atomaren Bewaffnung zu versperren, noch bevor die wirklich auf diesem Trip sind; wie ernst die Chefs der führenden EU-Nationen ihre rückblickende Selbstkritik meinen, sie hätten auch ohne amerikanisches Gezeter die entstehende Bedrohung ernst nehmen und von sich aus dagegen vorgehen müssen: Das wird nicht zu ermitteln sein. Denn alle ihre Sorgen mit dem Iran, soweit es sie gab und gibt, sind überlagert von den ganz anderen, gewichtigeren und dringlicheren Problemen, die das Vorgehen der US-Regierung für sie aufwirft.

Nämlich erstens schon wieder durch die große weltpolitische Grundsatzfrage, wie man sich in Europa dazu stellen soll und damit fertig werden kann, dass der übergroße Verbündete sich die Freiheit herausnimmt, nach eigenem Ermessen Feinde und Kriegsgründe zu definieren, letztinstanzlich über strategische Fronten auf dem Globus und den Einsatz von Gewalt zu befinden und den ganzen Rest der Welt, sogar die wichtigsten Partner, mit einer Politik der irreversiblen Entscheidungen und der vollendeten Tatsachen zu konfrontieren. Dass Amerika nach Afghanistan, wo man sich noch zum Mitmachen entschließen konnte, und nach dem schon viel schwerer wiegenden Irak, über den die Europäer sich untereinander und die kontinentalen Führungsmächte sich mit Washington zerstritten haben, nun den dritten Krieg avisiert, verschärft diese Grundsatzfrage ganz erheblich.

Die Feindschaftserklärung aus Washington trifft zweitens einen Staat, der für die EU von noch größerem Interesse ist als selbst der Irak; einen Staat, den die Union auf alle Fälle nicht unbedingt als Gefahrenherd ausgrenzen und bekämpfen, sondern als kooperativen Kontrahenten vereinnahmen will und mit dem sie es in dieser Hinsicht auch schon weit gebracht hat: Nämlich einen wichtigen Erdöl-Lieferanten und Handelspartner, voller großer Chancen für europäisches Kapital; eine einflussreiche Ordnungsmacht in der Region mit einem dringlichen Bedürfnis, für ihre Ambition auf noch mehr regionale Ordnungsmacht namhafte Unterstützer zu finden; ein ganz wichtiger Akteur im Nahost-Konflikt, der Israels Übergewicht wenigstens ein wenig ausbalanciert und so einen kleinen Beitrag dazu leistet, dass Europa sich überhaupt als „Schiedsrichter“ oder „Vermittler“ aufspielen kann. Um alles, was sie mit diesem volkreichen Ölstaat an erfolgreichen Wirtschaftsbeziehungen unterhalten und demnächst noch mehr in Gang bringen wollen, was sie sich an politischem Einfluss verschafft haben und demnächst zu verschaffen gedenken, um einen aussichtsreichen, viel versprechenden imperialistischen Besitzstand also müssen die Europäer fürchten, wenn die Amerikaner daran gehen, den Iran praktisch-kriegerisch unter ihr Verdikt „Unrechtsregime mit Massenvernichtungswaffen“ zu subsumieren.

Hinzu kommt drittens, dass jedes weitere Vorgehen der USA gegen das Mullah-Regime, von einem Krieg ganz zu schweigen, noch viel mehr als bisher die Staatenwelt, die islamische zumal, aufmischen, im Innern durcheinander bringen, in ihren Außenbeziehungen auf die Alternative „pro oder contra Amerika“ festnageln – und die Europäer auf jeden Fall bis auf Weiteres aus dieser Gegend und aus deren zu ordnungspolitischem Zugriff einladenden politischen Affären und Streitigkeiten ausmischen würde. Am Ende müsste man in London, Paris und Berlin womöglich wieder ohnmächtig zusehen, wie die USA zusammen mit Israel einer ganzen Weltgegend ein neues politisches Arrangement aufzwingen.

Was viertens wieder zu der Ausgangsfrage zurückführt, was die EU imperialistisch überhaupt wert ist, wenn sie nicht einmal in ihrer näheren Nachbarschaft von sich aus die bestimmenden Fakten zu setzen vermag, auf einem Gelände dringlichsten kommerziellen wie politischen Interesses, von direkter Bedeutung sogar für die eigene militärische Sicherheit – und einmal mehr allein nach amerikanischen Vorgaben eingemischt oder völlig ausgegrenzt wird. Das ist die wirkliche imperialistische Problemlage, mit der sich die drei ehrgeizigen Führungsmächte der EU – Großbritannien mit seiner „special relationship“ zu den USA diesmal zusammen mit Deutschland und Frankreich – herumschlagen, wenn sie sich nunmehr so engagiert mit dem Atomenergieprogramm des Iran befassen.

3.

Denn das ist der erste Schluss, den diese drei Staaten aus der Kampfansage der USA gegen die Regierung und die gesellschaftlichen Verhältnisse des Iran ziehen: Sie nehmen keinen Streit mit ihrem amerikanischen Verbündeten über die richtige Einschätzung und Behandlung der Mullah-Herrschaft auf, nötigen nicht etwa Washington zu einem Abgleich der beiderseitigen Interessen in der Region, machen schon gar nicht Front gegen den Militarismus der Weltmacht; sie fallen lieber mit einer diplomatischen Offensive über Amerikas nächstes Opfer her. Dem Regime in Teheran tragen sie ein politisches Geschäft an, das Wirtschaftsinteressen und Kriegsdrohung auf ebenso verzwickte wie verlogene, also äußerst diplomatische Weise miteinander verkoppelt. Dem Iran werden erst einmal die schönsten Geschäftsbeziehungen zur EU in Aussicht gestellt, einschließlich einer engen „Zusammenarbeit“ beim geplanten Aufbau einer Atomenergieindustrie in dem Land; dafür muss die iranische Regierung in aller Form auf das nach dem Buchstaben des „Nicht-Verbreitungs“-Vertrags ihr zustehende Recht und vor allem auf die Entwicklung der technologischen und industriellen Fähigkeit verzichten, einen kompletten Nuklearbrennstoffkreislauf zu betreiben – also darauf, zu so einer zivilen Atommacht wie etwa Deutschland zu werden, das zwar auf „Wiederaufarbeitung“ und „Schnelle Brüter“ verzichtet hat, mit ihrer nukleartechnischen Infrastruktur aber die Herstellung von Atombomben jederzeit beherrscht. Genau das will die iranische Regierung erreichen; vielleicht ähnlich wie die BRD und andere zivile Atommächte tatsächlich nicht mit dem Ziel, sich unmittelbar ein paar Atombomben ins Arsenal zu legen, aber mit der Fähigkeit dazu, und mit dem international anerkannten Recht, über so eine zivile Atomindustrie auch zu verfügen. Denn das wäre – vom kommerziellen Nutzen ganz abgesehen – gleichbedeutend mit der Etablierung des Landes als respektable und von der staatlichen Mitwelt auch respektierte Größe im Kreis der potentesten „Industrienationen“, direkt unterhalb der Elite der tatsächlichen Atommächte, als potentiell atomwaffenfähige Macht. Das Land hätte sich damit einen Vorsprung als wichtige Regionalmacht verschafft und eine Bedeutung, die nach dem Kalkül der Regierung sogar die USA zu rücksichtsvollerem Umgang veranlassen könnte. Genau dieses hohe Ziel soll der Iran nun aufgeben, eintauschen gegen die entgegenkommende Bereitschaft der drei EU-Mächte, dem Land eine um wichtige Teile amputierte Atomenergieindustrie zuzugestehen – und gleich noch sich als Garantiemacht dafür aufzubauen, dass entscheidende Elemente für eine potentielle Atomwaffenproduktion außer Reichweite des Mullah-Regimes bleiben. Denn das versteht sich von selbst, dass ein so kleinliches Kontrollregime über die iranische Atomwirtschaft auf keinen Fall den üblichen Überwachungsmechanismen der IAEO überlassen bleiben könnte. Der verlangte Verzicht kommt einer weitgehenden Unterwerfung des iranischen Souveräns unter die Kontrolle der Europäer gleich – und ist deswegen auch nicht für Geld und gute Handelsbeziehungen zu haben. Es wird zwar hingebungsvoll und bis ins Detail verhandelt; der gesamte „Verhandlungspoker“ lebt aber von der eigenartigen Drohung, mit der die EU-Troika ihrem Partner gegenübertritt: Falls dessen Nachgiebigkeit, seine Bereitschaft zu garantierter Unterordnung unter ein europäisches Überwachungsregime zu wünschen übrig lässt – diplomatisch ist die Rede von „objektiven Garantien“ des Iran dafür, dass er seine Atomindustrie im Stand der Unfähigkeit hält, Atombomben zu entwickeln –, würde die Affäre vor den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen gebracht, also die Diskussion über die völkerrechtliche Strafwürdigkeit des iranischen Projekts eröffnet und in der Folge der Entscheidungsprozess über die Zulässigkeit einer militärischen Gewaltaktion gegen das Land eingeleitet.

Für die Welt der internationalen Beziehungen ist dies eine sehr schöne Drohung: handfest, dabei entgegenkommend, verlogen, unmissverständlich. Sie hat nur einen Schönheitsfehler: Die Kriegsdrohung, die so höflich in den diplomatischen Raum gestellt wird, die liegt gar nicht in der Hand der EU-Häuptlinge. Denn sie geht gar nicht von ihnen aus. Sie liegt unabhängig von ihnen auf dem Tisch. Sie drohen mit der Kampfansage der USA, können selber aber nur damit drohen, sie zu unterstützen; zurücknehmen können sie sie nicht. Das Einzige, was sie ihren iranischen Verhandlungspartnern in Aussicht stellen können, ist Einflussnahme auf den Kriegskurs der Amerikaner. Kurz, der „Verhandlungspoker“ mit den Mullahs in Teheran ist deswegen in Wahrheit doch einer mit der Bush-Administration in Washington.

4.

Mit ihren Bemühungen, dem Iran eine von ihnen wahrgenommene Aufsicht über sein Atomenergieprogramm aufzunötigen, versuchen die großen Drei von der EU eigentlich, den USA ihren Krieg gegen das verhasste Mullah-Regime abzukaufen. Nachdrücklich erklären sie sich voll und ganz einverstanden mit dem offiziell bekundeten Willen der US-Regierung, ein weiteres Ausufern des Atomwaffenbesitzes auf gar keinen Fall zuzulassen; sie beschwören die restriktive Anwendung des „Sperrvertrags“ auf Irans Nuklear-Industrie als überragendes gemeinsames Ziel, das sie in lückenloser Übereinstimmung mit der Weltmacht verfolgen – und sie inszenieren damit berechnend einen verzwickten diplomatischen Handel. Denn ihnen ist völlig klar, das ist überhaupt der Ausgangspunkt und der wahre Grund für die Dringlichkeit ihrer diplomatischen Intervention, dass der Atomwaffensperrvertrag und der damit in die Welt gesetzte internationale Rechtstitel „Non Proliferation“ für Amerika im Fall Iran allein dafür gut ist, die angesagte Kriegserklärung gegen die dortige Regierung zu legitimieren – also für die eigene Moral sowie vor allem, wie schon die Massenvernichtungswaffen beim Irak, als diplomatischer Titel, um den Rest der Staatenwelt auf die Linie der eigenen anspruchsvollen Sicherheitsinteressen und ‚Regime-Wechsel-Bedürfnisse im „Broader Middle East“ festzulegen. Die Europäer nehmen umgekehrt die Rechtfertigung beim Wort, den Titel für die Sache und tragen Washington das politische Geschäft an, ein europäisch-iranisches Abkommen, das der EU die imperialistisch äußerst interessante Position einer Kontroll- und Aufsichtsmacht im Iran verschaffen würde, gegebenenfalls mit der Aufhebung des Verdikts über das Mullah-Regime und einer Zurücknahme seiner Kriegserklärung zu honorieren – und so überhaupt erst praktisch relevant werden zu lassen.

Die Bush-Administration hat sich durch dieses Angebot aus dem alten Europa zunächst provoziert gefühlt und hat argumentiert, „dass der Iran für seine nuklearen Aktivitäten bestraft und nicht belohnt gehört“ (New York Times, 15.11.04) – sie ringt sich aber bald zu dem gelassenen Standpunkt durch, dass sie die „Ausschöpfung aller diplomatischen Mittel“, die dann zu gegebener Zeit durch ihr „Scheitern“ die Unabwendbarkeit des angesagten Krieges beweisen werden, ganz gut den Europäern überlassen kann: Faktisch bleibt es ja immer ihr vorbehalten, die allenfalls erzielten Zugeständnisse der iranischen Seite als unzureichend zurückzuweisen. Deswegen vergibt sie sich auch nichts, wenn sie zwischendurch mal die Verhandlungslinie der EU-Troika unterstützt und mit Zugeständnissen winkt, mit Ersatzteilen z.B. für die iranischen Zivilflieger amerikanischer Herkunft oder mit dem denkbaren Eintritt des Iran in die WTO in 6 bis 10 Jahren, dann also, wenn der „regime change“ über die Bühne gegangen sein soll: „Sollten die Verhandlungen scheitern, dann ist mit einer Überweisung des Falles an den UN-Sicherheitsrat zu rechnen. Auf diese gemeinsame Linie haben sich die Europäer kürzlich mit der amerikanischen Regierung verständigt. Danach würde Washington eine Einigung mit den Iranern unterstützen, etwa durch Befürworten einer WTO-Mitgliedschaft Irans oder die Lieferung von Flugzeugersatzteilen; im Gegenzug erklärten sich die Europäer dazu bereit, die Angelegenheit vor den Sicherheitsrat zu bringen, falls die Gespräche scheitern. Als völkerrechtliche Grundlage dürfte eine vermutete Bedrohung der internationalen Sicherheit geltend gemacht werden, die wohl damit begründet würde, dass eine militärische Zielsetzung des iranischen Atomprogramms nicht auszuschließen sei.“ (FAZ, 23.3.) Die transatlantische Sprachregelung für Ziel und Ende eines Verhandlungsprozesses, der für die USA ohnehin nichts anderes als ein Stück Vorkriegs-, also Kriegsvorbereitungsdiplomatie ist, liegt also schon fest.

Deswegen ist es andererseits auch kein Wunder, dass die iranische Regierung sich ihrerseits mit Zugeständnissen an die EU sehr zurückhält. Ihr Projekt, eine Potenz zu erlangen, die eventuell doch sogar den Amerikanern Respekt abnötigen würde – auch Mullahs wissen über den „dual use“ eines geschlossenen Brennstoffkreislaufs Bescheid, und womit man sich als angefeindete Nation im Bedarfsfall gut verteidigen kann –, gibt sie nicht so billig her: „Wenn der geschlossene Brennstoffkreislauf das Problem der Europäer ist, sind Verhandlungen zwecklos. ... Aber wenn sie besorgt darüber sind, wir könnten Atombomben bauen, sind wir in jeder Hinsicht auf eine umfassende Vereinbarung vorbereitet, die sicher garantiert, dass Iran nicht nach Atomwaffen strebt.“ (Moussavian, iranischer Verhandlungsbeauftragter in Nuklearfragen, lt. Tehran Times, 11.1.05) Den „Verhandlungspoker“ selbst gibt die iranische Regierung also genauso wenig auf: Das möchte man in Teheran schon austesten, wie ernst es die Europäer mit ihrer Alternative zur Kriegspolitik der USA meinen und wie viel weltpolitisches Gewicht sie gegen diese Politik zusammenbringen. Europas Unterhändler werden daher durchaus mit Angeboten bedient – Inspektionen der IAEO ohne Voranmeldung, auch in Anlagen zur Uran-Anreicherung kann man sich vorstellen, nach einem Beschluss des iranischen Parlaments Anfang Mai. Die Europäer sollen sich dann aber auch einmal entscheiden, ob sie „ehrliche Verhandlungen“ mit einem souveränen Iran wollen und sich endlich einmal mehr Eigenständigkeit gegen die Weltmacht zutrauen – oder sich nur als Übermittler „absolut unangemessener“ amerikanischer Drohungen und „einseitiger Diktate“ wichtig machen wollen: „Die Europäer können doch nicht demonstrieren, dass sie unfähig sind, internationale Streitfragen zu lösen; schließlich wäre das eine sehr bittere Erfahrung für sie.“ (ebd.) Teheran fordert die EU zur imperialistischen Nagelprobe heraus: zur Offenlegung ihrer Entschlossenheit und ihrer Macht, gegen die USA als Schutzmacht einer aus Washington angefeindeten souveränen Nation aufzutreten.

5.

Damit treffen die Mullahs ins Schwarze. Denn das ist tatsächlich die Entscheidungsfrage, auf die alle europäischen imperialistischen Emanzipationsbemühungen im Angesicht amerikanischer Präventivkriege in letzter Konsequenz unweigerlich und unausweichlich hinauslaufen; und die haben die EU-Führer – mit aller diplomatischer Vor- und Rücksicht, ohne Vorentscheidung in dem einen oder anderen Sinn, eher in der Absicht, einer klaren Entscheidung auch diesmal nach Kräften auszuweichen – mit ihrer Intervention in Sachen Iran auf ihre weltpolitische Tagesordnung gesetzt: Ob sie es wagen und vermögen, die Weltmacht an einem Feldzug zur Entmachtung einer in Amerika verhassten, in Europa und anderswo durchaus für brauchbar erachteten Staatsgewalt zu hindern – oder ob sie sich einmal mehr spalten, teils auf Linie bringen, teils ausmischen lassen und ihr diplomatischer Einsatz am Ende nichts weiter gewesen sein wird als ein Dokument ohnmächtigen Widerstrebens gegen einen US-Krieg, und im Endeffekt sogar ein Beitrag zu dessen Legitimation.

Und so viel machen die alten Europäer mit ihrem diplomatischen Manöver, mit ihrem gewollten „Missverständnis“ der amerikanischen Feindschaftserklärung als gesamtwestliche Sorge um die Wirksamkeit des „Atomwaffensperrvertrags“ und mit ihrem Bemühen um eine von den Amerikanern gar nicht gewollte Nachgiebigkeit der iranischen Seite schon deutlich: Ein Urteil über Gefährlichkeit oder Kooperationsbereitschaft dieses „Schurkenstaates“ und damit die Entscheidung über eine Beteiligung an der amerikanischen militanten Iran-Politik behalten sie sich vor; und wie die Entscheidung ausfällt, das kann auch der Bush-Regierung nicht egal sein. Nicht, weil sie damit rechnen müsste, dass die EU den USA wie einst die Sowjetunion als Schutzmacht souveräner Feinde Amerikas entgegentreten würde. Wohl aber muss selbst „die letzte Supermacht“ sich fragen, ob sie einen neuen Akt in ihrem Anti-Terrorismus-Krieg, und dann auch gleich einen Feldzug gegen den Iran, ohne Beihilfe ihrer kapitalistischen Konkurrenten oder sogar gegen deren – und sei es lückenhafte – Ablehnungsfront leichter durchhalten könnte als die ausgegrenzten Partner ihre Absage. Die entsprechende Entscheidung der europäischen Führungsmächte hat umso größeres Gewicht, als von einem amerikanischen Vorgehen gegen diesen Staat auch die meisten übrigen Mächte, die in der Staatenhierarchie von heute etwas zählen, in verschiedenen Hinsichten negativ betroffen, sogar geschädigt und auf jeden Fall herausgefordert wären. Russland ist neben der EU die zweite bedeutende Macht, die im Staat der Mullahs weniger einen regionalen oder gar weltpolitischen Gefahrenherd als einen nützlichen Geschäftspartner sieht; viel mehr noch als die Europäer und in Konkurrenz zu denen wirkt es am Aufbau einer Atomenergiewirtschaft in dem Land mit und macht sich neben der EU und gegen sie und mit deutlich weniger Respekt vor Amerikas Verdikt über angebliche Atomwaffenpläne Teherans anheischig, den Brennstoffkreislauf einer künftigen iranischen Nuklearwirtschaft so unter Kontrolle zu halten, dass dem „Non Proliferation“-Regime Genüge getan wäre. Desgleichen haben die beiden aufstrebenden asiatischen Großmächte China und Indien ein sehr grundsätzliches Interesse, zu verhindern, dass die USA an Teheran ein drittes Exempel ihrer gewaltsamen Weltverbesserungspolitik statuiert; beide Mächte halten es für angebracht, mit dem Iran gerade jetzt weitreichende Projekte zur Gewinnung und zum Transport von Erdgas zu vereinbaren. Im Ernstfall braucht Amerika deswegen zwar noch immer keine militärisch gleichrangige Gegenmacht zu fürchten, die ihm seinen Militarismus untersagen könnte. Einen guten Teil der kapitalistisch nutzbar gemachten Staatenwelt hätte es aber politisch gegen sich: Das ist die Machtposition, mit der die EU-Troika sich gegenüber den Mullahs als wohlmeinender erpresserischer Vermittler aufspielt und dem großen Verbündeten gegenüber als Partner, der dessen Krieg überflüssig machen könnte.

Im Idealfall hätte am Ende eine gerade noch abgebogene Kriegsdrohung der USA den widerspenstigen europäischen Verbündeten zu zwei dicken Erfolgen verholfen, nämlich zu einem Durchbruch im Ringen um ihre Kontrollmacht über den Mittleren Osten und zu einem exemplarischen Beweis ihrer Macht, dem militanten Weltordnungswillen Amerikas die Spitze abzubrechen – und diese potentiellen Erfolge sind zwei zusätzliche starke Argumente für Washington, bis zum bitteren Ende hart zu bleiben.

P.S.

Neulich hat sich der iranische Präsident wieder einmal daneben benommen und einhellige Empörung geerntet mit seinem Vorschlag, den jüdischen Staat nach Europa, etwa nach Deutschland und Österreich, zu verlegen. Das wurde ihm interessanterweise schon wieder als Versuch ausgelegt, dessen Existenzberechtigung zu bestreiten – eine Existenzberechtigung, die also in Europa nach maßgeblicher europäischer Meinung auf keinen Fall gegeben ist. In dem Punkt ist man sich mit dem Iraner also einig: Kein Judenstaat in der jeweils eigenen Umgebung! Dabei hat der brave Mann nichts anderes als die offiziellen „Wiedergutmachungs“-Heucheleien in Bezug auf die Judenvernichtung des Dritten Reiches aufgegriffen und kritisiert, dass die Gründung Israels als deren angebliche Konsequenz eine „Wiedergutmachung“ auf Kosten unbeteiligter Dritter sei, nämlich der seither ethnisch gesäuberten Palästinenser. Wie kämen denn die dazu, die Kosten für die genuin deutsch-österreichische Leistung der Vernichtungslager zu tragen – eine Tat, zu der sich die Nachfolgestaaten des Dritten Reiches dermaßen inbrünstig bekennen wie zu einem Kulturgut, dass deren Leugnung glatt gesetzlich verboten ist, wie der Iraner angemerkt hat!? Dem Präsidenten ist es also mühelos gelungen, die offizielle hiesige Judenfreundlichkeit zur Kenntlichkeit zu entstellen: Die replizierenden europäischen Politiker haben sich mit Schaum vor dem Mund – Eine jüdische Nation mitten in Europa? Unzumutbar! – reflexartig so aufgeführt, wie man es von ihnen erwarten durfte.

In der arabisch-islamischen Welt ist die irrige Meinung weit verbreitet, die politische Unterstützung Israels durch die USA und Europa sei ein Resultat der geschickten Instrumentalisierung der Judenvernichtung durch Israel und eines dadurch gehegten schlechten Gewissens. Daher die arabischen Versuche, die Judenvernichtung zu relativieren; dabei geht es nicht, wie hierzulande bei ähnlichen Versuchen, um die Weißwaschung des Dritten Reiches. Dass „Wiedergutmachung“ mit Schuld und Sühne und einem schlechten Gewissen nichts zu tun hat, dafür alles mit politischem Kalkül, das ist gerade wieder an einem aktuellen österreichischen Glanzstück zu bemerken: An den österreichischen Entschädigungszahlungen für Zwangsarbeiter und andere Opfer des Dritten Reiches, die genau rechtzeitig vor Weihnachten beginnen können, wie speziell von christlichen Politikern freudig verkündet wurde. Dass es schon lumpige sechzig Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs so weit ist, eine Zeit, die bekanntlich hauptsächlich dem Bewältigen, dem Erinnern und dem Wiedergutmachen gewidmet war, das liegt an dem hohen Gut, welches mit diesen Zahlungen erkauft wird: Es nennt sich „Rechtsfriede“ oder auch „Rechtssicherheit“ und war erst seit kurzem von Sammelklagen in den USA bedroht, weswegen auch diese „Entschädigung“ ein wenig gedauert hat. Die Zahlungen sind schlichtes Schutzgeld zur Absicherung österreichischer Exporte und Investitionen. Diese allseits bekannte und ausführlich publizierte Tatsache hat die nationale Journaille nicht daran gehindert, ihre Pflicht zu erfüllen, und dieses Geschäft als moralische Tat darzustellen. Durchaus zu Recht: Genau so geht Moral und Wiedergutmachung, sie ist nichts als die Einkleidung von Interessen in höhere Werte. Und dann kommt ein iranischer Präsident und macht sich über das deutsch-österreichische Wiedergutmachungsmoralgesülze auch noch lustig, indem er einen „konstruktiven“ Vorschlag zur Lösung des „Nahostproblems“ macht!