GEGENARGUMENTE

Deutschland im Fieber der Kapitalismus-Debatte

Wie einmal ein Sozialdemokrat den Kapitalismus kritisierte

Das Jahr 2005 hat in Deutschland begonnen wie das vorige aufgehört hat: Mit der “Umsetzung” der sog. “Hartz IV”-Gesetze, also der Vertreibung aller Arbeitsfähigen aus dem Stand der Sozialhilfe in die Arbeitslosigkeit, was sogleich die Arbeitslosenstatistik “ehrlich” macht und auf einen neuen Rekordstand treibt. Mit Firmen, die beharrlich weiter Leute entlassen, weil sie ihr Zeug nicht loswerden, und anderen, die so gut verdienen wie nie, deswegen weiter rationalisieren und ebenfalls Leute entlassen, und die Löhne kürzen, und die Arbeitszeit verlängern und mit dem Rest des Ladens nach Osten auswandern oder zumindest “darüber nachdenken”, also mit dieser Drohung ihre “Mitarbeiter” erpressen. Und mit einer Regierung, die das mit Steuersenkungen für diese Firmen begleitet, die verspricht, keine “Reformpause” einzulegen, angeblich “getrieben” von einer Opposition, die sich noch reformwütiger gibt. Mit Arbeitern, die immer mehr dem Druck zuwandernder Billiglöhner ausgesetzt und von ihren Chefs immer öfter mit auswärtigen Hungerlöhnern verglichen werden. Mit einem Staatsoberhaupt namens Köhler, das vor der versammelten nationalen Unternehmerschaft sich zum Sprachrohr von deren Klasseninteresse macht, Vorfahrt für rentable Arbeit fordert und alles Übrige für “nachrangig” erklärt, weil die Senkung des Lebensunterhalts der Massen als das Erfolgsrezept der Nation gilt. Der Kapitalismus, das alternativlose “System”, nach dem sich “moderne Gesellschaften” organisieren, geht seinen Gang und niemand will sich ihm in den Weg stellen. Wirklich niemand? Fast niemand! Denn: “Unkritische” Stellung zur Gesellschaftsordnung des privaten Eigentums, das war gestern. Heute ist die Nation um eine “Kapitalismusdebatte” reicher. Und zu verdanken ist das Franz Müntefering, dem Vorsitzenden der SPD und seinen Kollegen in Partei und Regierung: Sie haben es unternommen, im von kommunistischen Bestrebungen gesäuberten Deutschland den von ihnen politisch verwalteten Kapitalismus von oben zu kritisieren, und haben damit viel Zustimmung und Widerspruch ausgelöst.

*

Wenn Politiker das von ihnen demokratisch-rechtsstaatlich regierte und betreute Wirtschaften kritisieren, dann deswegen, weil sie sich Sorgen um dessen Gelingen machen. Dafür nörgeln sie am liebsten an den normalen Leuten herum, gelegentlich aber auch an der “Wirtschaft”. Schließlich sind sie zuständig für den Standort, an dem der ortsübliche Kapitalismus tagein tagaus mit allem Zubehör stattfindet, das es für die gewalttätige Förderung des privateigenen Reichtums und die Betreuung der zugehörigen Armut braucht. Dafür ist konstruktiv begleitendes Gesetzgeben und ansonsten viel kritisches Lob und nicht weniger lobende Kritik am Siegersystem der Geschichte angesagt.

Wenn nun der Chef der großen Regierungspartei als “Systemkritiker” auftritt, ist zumindest eines klar: Es kann sich nicht um die altväterliche, unzeitgemäße Art des Kritisierens von unten handeln, bei der sich die Geschädigten dieser feinen Wirtschaftsordnung aus dem beschränkten Zustand bloßer Betroffenheit heraus- und zu Klarheit über Art und Gründe ihrer Schädigung hinarbeiten wollen, um im eigenen Interesse mit ihr Schluss zu machen. Bei der regierungsseitigen Kritik an den angeblich obwaltenden Zuständen ist zwar auch von Interessen die Rede, aber nicht von Klasseninteressen, sondern eher von denen des nationalen Großen Ganzen. Müntefering und die Seinen machen Furore damit, dass sie als Anführer einer großen, demokratischen “Volkspartei” den “Kapitalismus” als Bedrohung der Interessen des Gemeinwohls anklagen. Dabei hatte man sich doch gerade erst darauf geeinigt, den alten Titel, den die kommunistischen Systemfeinde so lange in denunziatorischer Absicht der guten Sozialen Marktwirtschaft angehängt hatten, künftig offensiv und ohne falsche Scham als Markenzeichen eines historischen Erfolges zu übernehmen. Bei Müntefering klingt “Kapitalismus” plötzlich wieder wie ein Schimpfwort, und gegen den, besser gegen das, was sie so nennen, ziehen die Sozialdemokraten dann schwer vom Leder, und das gleich auf der “Ebene” des Generellen, des Parteiprogrammatischen, und der “Werte” eben:

Müntefering “kritisiert die international wachsende Macht des Kapitals und die totale Ökonomisierung eines kurzatmigen Profithandelns”, bei dem “der Mensch”, wahlweise auch “das Sozialwesen Mensch”, ebenso wie “die Zukunft ganzer Unternehmen und Regionen” “aus dem Blick geraten”. Außerdem würde, so der SPD-Chef, “durch international forcierte Profit-Maximierungs-Strategien die Handlungsfähigkeit von Staaten ... rücksichtslos reduziert” und “auf Dauer unsere Demokratie gefährdet.” (Süddeutsche Zeitung, 13.4.) Das ist für ihn “die Form von Kapitalismus, gegen die wir kämpfen, in der sich Leute aus der Wirtschaft und den internationalen Finanzmärkten aufführen, als gäbe es für sie kein Schranken und Regeln mehr”. (Bild am Sonntag, 17.4.) Und das geht wirklich zu weit – wo es die Sozialdemokratie an der Macht doch an “Schranken und Regeln” für die anderen, die berühmten “kleinen Leute”, und zwar im Interesse des Erfolgs “der Wirtschaft” und nach den Bedürfnissen des “internationalen Finanzkapitals”, wahrhaftig nicht hat fehlen lassen und wo sie doch auch überhaupt nicht daran denkt, von diesen “Regeln” irgendetwas zurückzunehmen: Kaum hat er die unverschämten “Profit-Maximierungs-Strategen” übel ausgeschimpft, macht Müntefering “deutlich, dass seine Kritik am Verhalten einzelner Teilnehmer des Marktes nicht als Distanzierung von den Arbeitsmarktgesetzen der Koalition zu verstehen sei. Eine Rücknahme von Teilen der Hartz-IV-Gesetze lehnt er ab.” (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19.4.) Eben deswegen hat er aber auch – meint er – alles Recht der Welt, von den Begünstigten seiner Politik zu verlangen, dass sie sich so “aufführen, als gäbe es” auch “für sie” “Schranken und Regeln”, und die “mangelnde Ethik bei einzelnen Unternehmern” zu rügen, vor allem bei denen, die “anonym sind, kein Gesicht haben”, “wie Heuschreckenschwärme ... Unternehmen abgrasen und dann weiterziehen ...” (alles Müntefering, BamS)

Das halten viele für starken Tobak, von Seiten eines Vorsitzenden, dessen Partei “eine Bundesregierung trägt, die eine gegenteilige Politik betreibt.” (FAZ, 19.4.05) Für die Kenner der Szene, die berufsmäßigen Öffentlichkeitsarbeiter ebenso wie die Amateure aus dem Lager der Wahlberechtigten, ist damit die Lage ziemlich klar: Der SPD-Chef habe sich “nur” ein Wahlkampfthema einfallen lassen, um vielleicht die düsteren Wahlaussichten in Nordrhein-Westfalen doch noch zu wenden! Das empört die einen, weil der Mann es doch “gar nicht ernst meint”, andere, weil er es zwar nicht ernst meint, von sensiblen Kapitalisten aber so verstanden werden könnte, als wollte Deutschland sie nicht haben; noch andere, seine Anhänger nämlich, freut es, weil das “Thema”, wie ernst oder unernst auch immer gemeint, bombig eingeschlagen hat. Und alle miteinander interessieren sich überhaupt nicht weiter dafür, was da dem interessierten Publikum eigentlich als Stoff der demokratischen Willensbildung zur Beurteilung angeboten wird: ein starkes Stück aktueller staatsbürgerlicher Kritik-Kultur, die nach dem Willen der Regierungspartei durchaus auch über die nächsten Abstimmungstermine hinaus Gültigkeit behalten soll.

*

Der damals noch in Nordrhein-Westfalen regierende Kandidat Steinbrück unterstützt (Zitate SZ, 30.4./1.5.) zum Tag der Arbeit seinen Parteivorsitzenden. Er verweist auf “die erheblichen Vorleistungen” sozialdemokratischer Politik zugunsten “der Wirtschaft”, beklagt die “mangelnde Unterstützung unseres Reformkurses von Seiten der Wirtschaft”, wünscht sich mehr “Anerkennung” durch die Herren Wirtschaftsführer, die stattdessen mit ihrem “Genöle” am “kollektiven Pessimismus” mitarbeiten und sich weigern, ihrer “unternehmerischen Pflicht zur Legitimationsbeschaffung” für die Regierungspolitik nachzukommen, “in diesen Zeiten”, in denen es “Verlierer und Verlustängste” gibt. Er bestätigt ausdrücklich, dass “die Kapitalismuskritik eine Frucht der Enttäuschung über die Wirtschaft beim Reformprozess” ist. Und wenn er bei all den kapitalfreundlichen Bemühungen der Regierung “die Rendite für den Standort Deutschland vermisst”, dann ist das, nach allem vorher Gesagten, gleichbedeutend mit seiner Unzufriedenheit über die politische “Rendite” der SPD aus ihrer Reformpolitik, die sich so ungerecht behandelt und von den Industrie- und Bankkapitänen so schlecht dargestellt sieht, dass sie um den Verlust der Regierungsmacht fürchten muss.

Die politischen Verwalter des kapitalistischen Gemeinwohls sind also so richtig unzufrieden mit ihrer ökonomisch herrschenden Klasse. Sie haben sich redlich bemüht, es ihr recht zu machen, ihre Geschäftsbedingungen im Lande zu verbessern, obwohl das wirklich nicht zu ihrer Beliebtheit beigetragen hat, und sehen sich jetzt um die verdiente Anerkennung betrogen, von Leuten, die

“immer mehr (wollen), immer mehr Erleichterungen für die Unternehmer, immer mehr Beschränkungen für die Arbeitnehmer, ... jedes Augenmaß verloren haben und aktiv an einer kollektiven Pessimismusfalle mitarbeiten.” (ebd.)

Nicht als ob sie an ihrer Politik rückblickend einen Mangel oder auch nur eine gewisse Einseitigkeit entdeckt hätten: Die Sozialdemokraten bekräftigen ohne jede Einschränkung, dass Alle und Alles abhängig sind vom Erfolg des Unternehmerinteresses, halten strikt daran fest, dass auf den deswegen alles ankommt – “Die SPD will, das Unternehmen erfolgreich sind und Gewinne machen ...” –, bestehen dabei aber ebenso hartnäckig auf dem Dogma, dass es beim erfolgreichen Gewinnemachen mitnichten um den Zweck der ganzen Wirtschaftsweise, sondern in Wahrheit und letztendlich bloß um die unerlässliche Bedingung für das Lebensglück der ganzen restlichen Mannschaft ginge: “ ... denn das ist die Voraussetzung für Arbeit und Wohlstand” (Müntefering, FAZ, 19.4.). Wenn sie um des Kapitalerfolges willen die Leute ein ganzes Stück ärmer gemacht haben, dann für genau diesen grundguten Zweck: Arbeit und Wohlstand für alle! Umgekehrt hat die Koalition mit ihrer Politik der Verelendung das Ihre zur Sicherung und Mehrung des durch Arbeit zu verdienenden Wohlstands getan; mehr und Besseres geht überhaupt nicht dafür zu machen: Ab jetzt liegt es an “der Wirtschaft”, die Gewinne, für die die Regierung alles zurechtgemacht hat, auch zu machen und Leute dafür arbeiten zu lassen. Die Regierung hat ihren Job als “Vermittler” der “berechtigten Interessen” von Kapital und Arbeit erledigt; jetzt müssen Kapital und Arbeit zu den regierungsamtlich verordneten Bedingungen zueinander finden – zu Bedingungen, für die die regierende Sozialdemokratie ihrer eigenen Selbsteinschätzung nach durchaus ein kleines Dankeschön von Unternehmerseite verdient hätte.

Die sieht das allerdings ein wenig anders. Ob und wie viele Arbeitsplätze sie “schafft”, ist tatsächlich einzig und allein eine Frage ihrer Kalkulation, nicht die irgendwie einzufordernde Folge verbesserter Kalkulationsbedingungen; darüber ist sach- und fachgerecht zu entscheiden, also rein nach der Rentabilität und ganz bestimmt nicht danach, ob mehr Arbeitsplätze der Regierung gelegen kämen. Und schon gar nicht ist für Kapitalisten die Pflege ihrer Anliegen seitens der Politik eine Gunst, für die man dankbar zu sein hätte: So etwas ist pure Selbstverständlichkeit, Dienst am gemeinen Wohl, das ohnehin mit dem der “Wirtschaft” zusammenfällt. Insofern können Kapitalisten gar nicht irgendein “Augenmaß verlieren”, wenn sie mit nichts zufrieden sind, immer mehr Förderung ihrer Anliegen einfordern und mit ihren ständigen Mängelrügen die Regierung in Verlegenheit bringen: Genau mit solcher Maßlosigkeit setzen sie die Maßstäbe für das einzig wahre Gemeinwohl, an denen die Politik und der Rest der Gesellschaft sich zu bewähren haben.

*

Aus der ersehnten Flut von neuen Arbeitsplätzen wird also nichts; der Ruf der Regierungsparteien als Erfolg versprechende Lenker der nationalen Geschicke leidet unter diesem Misserfolg und unter den offensiven Anschuldigungen “der Wirtschaft”, in Berlin ließe man es nach wie vor an der nötigen Fürsorge für die wahren Diener des gemeinen Wohls fehlen. Darauf reagiert die SPD-Führung mit dem Versuch eines Befreiungsschlages, der die Schuldfrage hinsichtlich der bestehenden “Wachstumsschwäche” und der “Lage am Arbeitsmarkt” klären und damit auch das geschwundene Ansehen der Sozis bei den “kleinen Leuten” sanieren soll, die sich von den “Genossen der Bosse” – wie Wahl-, Parteien- und andere demokratische Forscher den Sozialdemokraten seit längerem zu bedenken geben – durch die jahrelangen Reformen am Standort einseitig benachteiligt sehen. Die Parteispitze gibt ihrer Empörung darüber Ausdruck, dass sie mit ihrem prokapitalistischen Einsatz die verdiente Wahlkampfunterstützung der Arbeitgeber nicht bekommt, weder in Form von Arbeitsplätzen noch in Gestalt von warmen Worten. Ihre Beschwerde über diese Gemeinheit legt sie ausgerechnet dem Proletariat vor, das die ungemütlichen Folgen dieses Einsatzes dauernd auszuhalten hat: Ihre alte Wählerschaft soll einsehen, wie ungerecht es wäre, jetzt von der regierenden Sozialdemokratie abzufallen. Ihre Verarmung war nämlich ausgesprochen gut gemeint; eben als Vorleistung in einem Dreiecksgeschäft im Interesse aller und vor allem zu ihren Gunsten. Die Verbilligung des Personals am Standort sollte “der Wirtschaft” auf die Beine helfen, die sollte dann wieder ihrem eigentlichen Beruf – der Schaffung von Arbeitsplätzen – nachgehen, und der Staat hätte auch seinen Vorteil vom Rückgang der Arbeitslosigkeit: geringere Sozialkosten, mehr Einnahmen und zufriedene Wähler. Nun stellt sich einmal mehr heraus, dass schleppendes Geschäft sowieso kein Grund für mehr Arbeitsplätze ist. Gute “Unternehmenszahlen” sind aber auch noch lange kein hinreichender Anlass für Neueinstellungen, sondern werden stattdessen häufig noch besser durch weitere Rationalisierung, durch Entlassungen und Betriebsverlagerungen. Und die Arbeitsplätze, die es gibt, werden von den Arbeitgebern immer mehr selbst als der schönste Lohn für die dort abgelieferte Anstrengung betrachtet, also immer schlechter bezahlt. So hat sich das Gemüt der benützten wie das der nicht gebrauchten Geringverdiener im Land nicht wesentlich aufgehellt. Münteferings Anliegen ist es nun, die Sprachregelung durchzusetzen, dass die Regierung nur für einen guten Zweck und nur angesichts “alternativloser Sachnotwendigkeiten” alles für die (inter)nationale Kapitalistenmannschaft getan habe, diese aber mit ihrem Beitrag zu dem gut gemeinten und gut geplanten Deal übel in Verzug sei. Sie lasse dadurch Sinn und Zweck der Reformpolitik scheitern und bleibe die Gegenleistung für die Verarmung der Bevölkerung schuldig. Die hat deswegen keinen Grund zum Groll gegen die SPD, auch nicht gegen die wohlgeratenen Exemplare unter den Kapitalisten, “die einem hohen unternehmerischen Ethos folgen” (Steinbrück, SZ, ebd.), umso mehr aber gegen die anonymen, angloamerikanischen Heuschrecken des Finanzkapitals.

Konsequent orientiert sich deswegen auch der Kanzler streng an den moralischen Bedürfnissen der Opfer seiner Reformpolitik, wenn er sich zum Sprecher derer macht, die, dauernd von der Regierung in die Mangel genommen, nun auch einmal von den Bankiers und Konsorten eine “Leistung für die Gesellschaft” sehen wollen. Wie viele seiner Wähler knüpft er am volkstümlichen Idealismus der Abhängigkeit an, der ausgerechnet von politischen Führern und Wirtschaftskapitänen erwartet, die Nöte der Minderbemittelten zu regeln. Der Unmut, den das Scheitern dieser zutraulichen Erwartung im Moment hervorruft, muss derzeit dringend von der SPD ab- und zu den “wahren Verantwortlichen” hingelenkt werden. Deswegen bietet sich der Kanzler als fordernder Fürsprecher dieser untertänigen Enttäuschung an: Unter Berufung darauf, dass er den deutschen Gehaltsempfängern gerade eine Lohnsenkung von “4,5 Milliarden Euro für die Senkung von Lohnzusatzkosten” (Schröder, FAZ, 20.4.05) verpasst hat, “hofft” der Kanzler, “dass dies bei den Betrieben auch bemerkt” werde und verlangt eine angemessene “Antwort” der Unternehmer: Diese “dürfte nicht Verlagerungsandrohungen sein, sondern die Vornahme von mehr Einstellungen  (FAZ, ebd.). Und beschwert sich, wenn das unterbleibt, ganz im Sinne Münteferings darüber, dass derzeit Teile der Unternehmerschaft ihn und sein Volk einfach hängen lassen. Das ist ihm Anlass für ein Lob der patriotischen Einstellung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die er sich in diesem Umfang auch auf der anderen Seite wünschen würde.” (FAZ, ebd.)

*

So überzieht die SPD unter Müntes Führung das unfreundlich-freche, jedes gute Wort verweigernde und damit ihrem Image wenig förderliche Benehmen der herrschenden Klasse gegenüber ihrer dienstfertigen Regierung, die so scharf wäre auf öffentliche Anerkennung aus dem Lager der Kapitalisten, mit seinem aktuellen Vorwurf: Manche aus dem Lager der Unternehmer nähmen alles mit, was ihnen die Politik auf Kosten der Geringerverdienenden hinschieben würden und dann wären sie auch noch undankbar. So sähen sie typischerweise aus, die “Auswüchse des Kapitalismus”, die man zusammen mit dem guten braven Volk “bekämpfen” müsse. Die Kritik an sogenannten “Auswüchsen” des Kapitalismus gehört schon seit Urzeiten ins Programm der SPD und hat den Kapitalismus selbst schon immer sehr gut aussehen lassen: Wenn das Schlimmste an ihm sein soll, dass er “auswuchsfähig” ist, dann kann er so schlimm nicht sein, solange er von sozialdemokratischen Gärtnern gewissenhaft beschnitten wird. Die Zeiten sind allerdings vorbei, in denen die SPD den Kapitalismus damit kritisierte, dass er beim rücksichtlosen Fertigmachen der Lohnarbeiter die “soziale Frage” nicht so würdigte, wie sie das für den Bestand von Staat und Gesellschaft für wichtig hielt. In Erinnerung geblieben ist der früheren Sozialstaats-Partei immerhin, dass es auch heute noch auf “das Soziale” ankommt; und das ist inzwischen, im Zeitalter der globalisierten Arbeitslosigkeit, das, “was Arbeit schafft”. Deswegen kritisiert sie heute scharf die Kapitalisten, die unnötig und mutwillig Arbeitsplätze vernichten und sich nicht, wie etwa die SPD in den Jahrzehnten des “Strukturwandels” in NRW, darauf beschränken, nur so viele Arbeitslose zu schaffen wie unbedingt nötig. Wenn dann die Unternehmer alle “Vorleistungen” rot-grüner Politik einfach einkassieren, rücksichtslos mit der wahlentscheidenden Arbeitslosenstatistik umgehen und ihrerseits die Regierung kritisieren, dann ist er fertig, der moderene “Auswuchs des Kapitalismus”.

Als ideologischer Ertrag bleibt jedenfalls, dass ein Kapitalismus ohne die von Müntefering kritisierten Eigenheiten, den man so gemütlich-verlogen wieder einmal “soziale Marktwirtschaft” nennt (im Unterschied zum “angloamerikanischen” “Kapitalismus” für “Raubtiere”) – inklusive “Hartz-IV” – eine wirklich feine Sache ist. Und außerdem eröffnet man mit dieser Kritik ein gemeinsames Lager aller, die zusammen mit Müntes SPD jene “Auswüchse bekämpfen”. Aus der Zustimmung zu Müntes “Kapitalismuskritik” hofft die SPD möglichst viele Prozente zu Wählerstimmen umzuschmieden und setzt auf die, die als getreue, bescheidene, nationale Dienstnaturen bereit sind, sich nicht etwa darüber aufzuregen, was man ihnen antut, sondern darüber, dass nicht ausreichend gewürdigt und statt dessen mit Frechheit quittiert wird, was sie alles schon alles “freiwillig” für den Aufschwung hergegeben haben. Diese Würdigung fordert die SPD für ihre Wähler ein und genau darin besteht ihr moderner Wahlkampf in der Abteilung “Kapitalismusdebatte”.

Prompt haben dann auch wieder einmal die “Linken” in der SPD ihren Auftritt: So als hätte Müntefering nicht eine auf Wahlkampfwirkung berechnete Beschwerde vorgetragen, sondern “Maßnahmen” gegen die “wachsende Macht des Kapitals” angekündigt, verlangen sie nun, dass “Taten” baldmöglichst den Worten folgen müssten. Damit leisten sie getreulich ihren Beitrag zur sozialdemokratischen Kampagne, indem sie mit ihren Forderungen bezeugen wollen, dass Müntes Schelte eben mehr als bloßes Getöse sei. Der lässt sich auch nicht lumpen und kündigt gleich “konkrete Maßnahmen ... im Kampf gegen die Auswüchse des Kapitalismus” (t-online-nachrichten, 4.5.05) an: Mit der verlangten “Öffnung des Entsendegesetzes für alle Branchen” (das regelt den Umgang mit importiertem Ausbeutungsmaterial) und einem “Plädoyer” für “einheitliche Steuersätze in Europa” polemisiert er gegen Wirkungen der innereuropäischen Lohn- und Steuerkonkurrenz, die die hauseigenen Lohnsenkungsprogramme und Steuerreformpläne stören; und auch mittels der “Veröffentlichung von Managergehältern” und der “besseren Versorgung von kleinen und mittleren Unternehmen mit Krediten” (ebd.) wird er den anonymen Spekulanten wahrscheinlich wuchtige Schläge verpassen. Erst recht, wenn sich die kämpferische Klasse der Konsumenten von anderen SPDlern in den Kampf führen lässt. Da wird etwa vorgeschlagen, “Käuferstreiks” gegen Betriebe durchzuführen, die in großem Stil Leute entlassen. Das wird die Heuschrecken schrecken!

*

Die angegangene Unternehmerschaft zeigt nachdrückliches, aber maßvolles “Entsetzen über die Kapitalismuskritik der SPD”. (FAZ,18.4.05) Sie “ruft die SPD zur Besinnung auf” (FAZ, 20.4.05) und warnt die Regierung, sie könnten sich so sehr vor Müntefering erschrecken, dass sie vielleicht das Investieren einstellen könnten, was “außerordentlich schädlich für den Standort Deutschland wäre.” (FAZ, ebd.) Der Arbeitgeberpräsident Hundt findet die “ganze Debatte zum Kotzten” und verlangt, die SPD solle wieder “auf den richtigen Weg der Agenda 2010 zurückkehren.” Als ob sie den jemals verlassen hätte.

Wenn es denn schon eine “Kapitalismusdebatte” gibt, dann wollen die Kapitalisten selbst bestimmen, was dabei herauskommt: Ein Kompliment selbstverständlich, und das hat sich nach ihrer Auffassung der Laden verdient wie er “alternativlos” geht und steht, ohne dass es irgendwelcher Idealisierung bedürfte. Deswegen treten andere fröhlich vor die Öffentlichkeit, “begrüßen” die Debatte und teilen mit: “Ich bin gern Kapitalist in unserer sozialen Marktwirtschaft”, weil es sich beim Kapitalismus eben um eine “zutiefst menschliche” und “zutiefst demokratische Ordnung” handle, zu der es “keine Alternative” gebe, weshalb “wir mehr und nicht weniger Kapitalismus brauchen”. (Der Vorstandsvorsitzende der BASF, SZ, 6. 5. 05)

Solche Frohnaturen denken nicht daran, sich das Etikett für die Ordnung ihres Vorteils, das erst von den kommunistischen Denunzianten zurück erobert wurde, wieder madig machen zu lassen. Sie bestehen darauf, dass “das Kapitalistische” selbst der Ehrentitel der sozialen Marktwirtschaft ist; eine Dekoration durch “das Soziale” hat der Kapitalismus jedenfalls nicht nötig.

Die mitregierenden Unternehmerverbände der Nation gehen ganz selbstverständlich davon aus, dass sie einen Anspruch auf “mehr Kapitalismus” haben: auf mehr Lohnsenkung, mehr Sozialreform und mehr Geschäftsförderung am Standort. Und das fordern sie von der Regierung ein. Deren Bedürfnis nach Anerkennung ihrer bisherigen politischen “Vorleistungen” rührt sie insofern wenig und ist aus ihrer Sicht auch höchst ungerecht: Sie finden das alles einfach ein bisschen wenig, was da bisher passiert ist. Und den Wunsch, trotz dieses Mangels der Regierung dennoch mit den gewünschten Komplimenten zu kommen und auf Optimismus zu machen, nur damit die vor ihren Wählern besser dasteht, sehen sie schon gleich nicht ein. Dafür, der SPD zuliebe die nationale Bilanz aus Sicht des Kapitals zu schönen, wissen sie keinen Anlass. Wozu auch, wenn die Union und die FDP zur Regierungsübernahme bereitstehen, mit Programmen, die ihnen recht sind. Sie haben auf ihre eigene und nicht auf die “Rendite des Staates” (Steinbrück) zu sehen. Wenn der Regierung ihre eigene nicht ausreicht und sie mehr von der der Geschäftswelt auf deutschem Boden, unter Verwendung der deutschen Arbeiterklasse, abkriegen will, dann – bitteschön – steht es ihr ja frei, hierzulande die “Investitionsbedingungen” zu verbessern, wie es die Unternehmer schon immer fordern. Insofern können sie Probleme im Verhältnis der herrschenden Klasse zu ihrem regierenden politischen Ausschuss schon bestätigen. Bloß beantwortet sich die Schuldfrage für sie genau andersherum als so, wie die SPD sie in Umlauf zu bringen gedachte: Die Regierungsparteien kommen ihrer Pflicht, ihren Kapitalisten das Feld zu bereiten, nicht so nach, wie die es von ihnen erwarten können. Ihr Gewerbe ist prinzipiell unkritisierbar, ihre “Ethik” rundum makellos.

So kommen am Ende die Kritiker und die vermeintlich Kritisierten, ohne ihre “Debatte” beenden zu müssen, zu einem gemeinsamen Ergebnis: Die einen halten den Kapitalismus hoch, weil er, wenn man von seinen “Auswüchsen” absieht, einfach gut ist. Die anderen sagen das sowieso schon immer, bestreiten aber der SPD entschieden das Recht, sich irgendwelche Kritik an ihrem Geschäft und ihren Klassengenossen auszudenken, nur um ihre Regierungstätigkeit verteidigen zu können. Gemeinsam sorgen sie immerhin dafür, dass der Kapitalismus selten einen besseren Ruf hatte, als zu Zeiten der Kapitalismusdebatte.