GEGENARGUMENTE

Nachbetrachtungen zum Scheitern der EU-Verfassungsreferenden in Frankreich und den Niederlanden

 

1 Eine verkehrte Absage an Europa von unten und ihre interessierte Ausdeutung von oben

 

Das französische und das niederländische Volk haben für kurze Zeit große Aufmerksamkeit in Europa errungen: Angeblich haben sie mit ihrem mehrheitlichen Nein zum europäischen Verfassungsvertrag die EU in die "schwerste Krise" seit ihrem Bestehen gestürzt. Sie sollen den Europapolitikern im Allgemeinen und den Brüsseler "Eurokraten" im Besonderen die gerechte "Quittung" für ihre "Bürgerferne" und diktatorische "Regelungswut" erteilt haben, so dass die Machthaber, die bisher so allmächtig wie unlegitimiert über alle Europäer bestimmt hätten, sogar "Angst vor Europas Bürgern" bekämen und wieder genau "hinhören" wollten: "Ein großer Teil der EU-Bürger will sich nicht mehr vor vollendete Tatsachen stellen lassen, bei deren Durchsetzung der Wille des Volkes als lästiges Hindernis oder notwendiges Alibi gilt. … Das Volk hatte gesprochen,…, die Eurokraten zitterten und zagten, als wären sie von einer Flutwelle überrollt worden."(Der Spiegel, Nr. 23, S. 94 ff.) Europas Bürger – ein Haufen revoltierender Menschen, die ihr Schicksal in die eigenen Hände nehmen? Und Europas Politiker – geläuterte Menschen, die wieder auf den Willen und das Interesse ihrer Bürger achten wollen?

 

Nicht ganz. Schon der formale Anlass ihres "Protests", ein Referendum über den EU-Verfassungsvertrag von Rom, gibt ja ein bisschen Auskunft über den Charakter dieser "Revolte von unten":

 

1.      sind brave Staatsbürger zu einer Veranstaltung gegangen, zu der sie von der Führung ausdrücklich hinbestellt worden sind, und haben die Gelegenheit genutzt, ihre Meinung in Gestalt eines recht einsilbigen Wahlkreuzes zu äußern.

2.      legen die offiziellen Reaktionen auf das Wählervotum und dessen Ausdeutungen durch die Politiker ein beredtes Zeugnis davon ab, welchen Respekt sich Bürger in den europäischen Demokratien erworben haben: Reflexartig haben deutsch-französische Spitzenpolitiker deutlich gemacht, was sie von einem Abstimmungsergebnis halten, das ihrem Herrschaftsinteresse nicht so recht entspricht; und wenn die interpretierenden Politiker dem vielstimmigen Chor, der von rechten Le Pen-Anhängern bis zu linken Trotzkisten reicht und sich zu den 55 % Nons zusammenaddiert, die Klage gegen "Demokratiedefizite" und "Bürgerferne" unterschieben, sind das

3.      eher eindrucksvolle Dokumente von Zynismus und Verlogenheit als von Achtung. Diese Deutungen des Wählervotums geben nämlich viel mehr Aufschluss über die Interessen, die Europas Machthaber an ihr Projekt "Europa" knüpfen und sich dafür auch noch auf den Willen ihrer Untertanen berufen.

 

a. Europas Bürger sind vom "globalisierten Europa" der Gegenwart, das ihre nationalen Führungen in gemeinsamen Beschlüssen geschaffen haben, materiell betroffen.

 

Sie registrieren materielle Schädigungen, die ihnen aus einem "Binnenmarkt" erwachsen, den ihre Politiker mitzuverantworten haben: Ihre Arbeitgeber erpressen sie mit der Verlagerung von Arbeitsplätzen in den billigen Osten Europas zu niedrigeren Löhnen, oder sie gehören bereits dem Heer der Arbeitslosen an, die im Zuge des "normalen technischen Fortschritts" angefallen sind. Bei ihnen zu Hause treffen sie auf einmal auf billige polnische Fleischer und Fliesenleger, die sie, die angestammten Handwerker und Arbeitnehmer, erwerbslos machen. Und zum zweiten Mal betroffen sind sie in den letzten Jahren von der politischen Antwort ihrer nationalen Standortverwalter auf die "Billiglohnkonkurrenz" aus dem Osten, zu der diese ihre nationalen Unternehmen ermächtigt haben. Chirac, Schröder und Co. verabreichten ihren Bürgern mehrere "Strukturreformen": Mit all ihrer Macht über die sozialisierten Lohnbestandteile verfügten sie eine Verbilligung des Lebensunterhalts ihrer Belegschaften, auf dass der französische oder deutsche Preis der Arbeit wieder konkurrenzfähig werde.

 

b. Europas Bürger sind zweitens angesichts dieser neueren sozialen Nöte, die ihnen die Entfesselung einer europäisierten Kapitalkonkurrenz eingebracht hat, mehrheitlich europapolitisch enttäuscht.

 

Als mit ihrer materiellen Lage unzufriedene Bürger sind sie zu 55 % misstrauisch geworden – freilich weder gegenüber ihren heimischen Arbeitgebern und deren Rentabilitätskalkulationen, die mit ihnen angestellt werden, noch gegenüber der nationalen Politik, die ihnen die sozialen Leistungen wegstreicht. Misstrauisch geworden sind sie als europapolitisch gebildete Staatsbürger gegenüber Versprechungen, die ihnen ihre nationalen Politiker mit den jeweiligen Fortschritten Europas – Binnenmarkt, Einführung des Euro, jetzt EU-Verfassung – gemacht haben, um ihre Zustimmung als Nationalisten zum "Projekt Europa" zu organisieren.

 

Mit ihrem aufgeregten Nein zum Verfassungsvertrag wenden sie sich nämlich nicht gegen den machtvollen Gebrauch der Macht, der sie unterworfen sind und die über ihre verstaatlichten Lohnbestandteile verfügt, sondern gegen den fatalen "Fehler", wegen "Europa" von der exklusiv wirkenden nationalen Macht etwas aufgegeben zu haben: Wenn französische Rechte zielstrebig auf den "plombier polonais" [= den polnischen Klempner] als Urheber ihrer sozialen Not losgehen, dann kritisieren sie an Chirac, dass er, als Vorsteher der "Grande Nation", längst nicht mehr die Macht hat, solche Fremden, also unliebsame ausländische Konkurrenz, von französischem Boden fernzuhalten. Holländer halten allen Ernstes ihrem Ministerpräsidenten vor, dass sie sich in Europa von den anderen großen Staaten "herumgeschubst" fühlen, und wenn sie in ihren leeren Geldbeutel blicken, schimpfen sie mit ihrem "Nee" auf den Euro, den sie als Gemeinschaftswährung für ihre Armut haftbar machen, und beklagen, dass ihre Regierung leichtfertig den guten Gulden aufgegeben hat, zu dessen Zeiten sich in Holland angeblich noch so gut leben ließ. Wer noch etwas gebildeter ist, kann seine Unzufriedenheit gleich auf der höchsten Ebene des nationalistischen Vergleichs, nämlich der verschiedenen Arten, Staat zu machen, artikulieren und mit seinem "Non" ein französisches "modèle social" einem "modèle anglo-saxon" vorziehen, weil er dem Sozialstaat alter Prägung als sozialpolitischem Idyll nachtrauert.

 

Von dem Gegenstand des Referendums, der EU-Verfassung, muss man für diesen "Denkzettel", den Chirac und Balkenende erhalten haben, keine Zeile gelesen haben. Um den ganz schön weiten Weg von seiner Betroffenheit als verbilligter Arbeiter, als Arbeitsloser usw. zum "Beitritt der Türkei" oder einem "zu hohen nationalen Pro-Kopf-Beitrag" als Stoff der eigenen Beschwerde gegen die nationale Regierung zurückzulegen, bedarf es einer über die Jahre europapolitisch gebildeten nationalen Gesinnung der Wähler. Diese Nein-Sager registrieren ihre Not und setzen sie umstandslos gleich mit der Not ihrer Nation, die der aus einem Türkei-Beitritt erwachsen könnte, und diese nationale Not denken sie sich wieder als die ihre. Diese Leute wollen zwischen einem Kontrollproblem einer Nation und ihrer sozialen Konkurrenznot nicht unterscheiden und sind in einem unerschütterlich guten Glauben davon überzeugt, dass ihr Land für sie als Arbeiter und Rentner mehr tun könnte, wenn, ja wenn seine unverantwortlichen Führer eben nicht zu viel Macht aus der Hand gegeben und Brüssel überantwortet hätten – als ob in den gelaufenen Reform- und Entlassungsrunden nationale Politik und privates Kapital nicht eindrucksvoll demonstriert hätten, wofür öffentliche und private Macht eingesetzt werden und wozu sie in der Lage sind.

 

Als national denkende Wähler haben sie ihre soziale Not in einen Antrag an die eigene Regierung übersetzt, die nationale Souveränität anders und machtvoller, "französischer" oder "niederländischer" eben, zu gebrauchen: Sie fordern eine europapolitische Abkehr von ihrer Regierung ein – und haben damit von dem sozialen Anliegen, sich in Zukunft ein bisschen besser zu stellen, ziemlich weit Abstand genommen.

 

c. Europas Politiker und ihre Öffentlichkeit, soweit sie die EU-Verfassung verfochten haben, sind politisch betroffen.

 

Die mit einem eindeutigen Votum für den Verfassungsvertrag angepeilte Machtdemonstration Frankreichs, der proeuropäischen Führungsmacht, kam nicht zustande. Dieses schöne diplomatische Überzeugungsmittel zwischen Staaten, die mit der ungebrochenen Einheit von Volk und Führung aufeinander Eindruck machen wollen, hat versagt. Eine demonstrative Ermächtigung Chiracs und Balkenendes für ihre jeweilige Europapolitik, die für die anderen, womöglich schwankenden Nationen ein klares Datum sein sollte, hat nicht stattgefunden.

 

Die betroffenen Machthaber sind herausgefordert und beziehen Stellung zum ablehnenden Votum der Wähler – mit einer Kombination von Kritik und Verständnis: Die erste Reaktion ist der Wechsel des Personals: Chirac tauscht sein Kabinett aus und der neue Regierungschef verspricht, dieselbe Reformpolitik weiterzumachen, nur noch entschlossener. Außerdem muss man den Wählern den Vorwurf machen, sie hätten ein Vertragsdokument abgelehnt, das sie noch nicht einmal gelesen haben. Hätten sie die 500 Seiten durchstudiert, hätten sie nämlich gemerkt, dass die zu ratifizierende Verfassung sie, die Bürger, genau vor dem schützen würde, wovor sie sich so fürchten, und genau das abstellt, was sie an der EU so stört:

 

"Alles wird zusammengerührt: Die EU-Beiträge, die vermeintliche Gängelung durch Brüsseler Bürokraten, angebliche Korruption, die Sorge vor sozialem Abstieg, die Erweiterung – alles! All das wird vermischt mit dem eigentlichen Problem – der Globalisierung. Für mich ist dies die wichtigste Erklärung der derzeitigen Krise: Die Zukunftsangst der Menschen in Ländern wie Deutschland, Frankreich und den Niederlanden – dem alten industriellen Herzen Europas, das dem globalen Strukturwandel am härtesten ausgesetzt ist. Dabei ist die EU das beste Instrument zur Bewältigung der Probleme der Globalisierung."(Günter Verheugen, Vizepräsident der Kommission, in: SZ, 14.6.2005)

 

Diese Wählerschelte ist zunächst einmal bemerkenswert verlogen: Die Bürger, die mit Nein gestimmt haben, hätten einen Fehler gemacht. Freilich nicht den, dem "sozialen Abstieg", den ihnen ihre Politiker verordnet haben, ausgerechnet ein Wahlkreuz entgegenzusetzen, hinter dem sich allerlei Illusionen über den guten Charakter ihrer Staatsgewalt verbirgt. Nein, umgekehrt: Sie hätten nicht gemerkt, dass die europäischen Fortschritte inkl. Ost-Erweiterung – also die Herstellung einer europaweiten Kapitalkonkurrenz – eigentlich so etwas wie Schutz vor Lohnsenkungen und sozialen Einschnitten sei. Europas Bürger sollten nicht bloß an den guten sozialen Dienst der Staatsgewalt, der sie unterworfen sind, sondern auch noch an den einer zukünftigen Weltmacht glauben, was sie mit einer weiteren Ermächtigung zu beglaubigen gehabt hätten. Zweitens zeigen die deutsch-französischen Politiker in der Deutung des Votums viel Verständnis für ihre Bürger: "Bürgerferne", "Demokratiedefizite", fehlende "Legitimation", "Gängelung" usw. hätten den durchaus gerechten Zorn der EU-Bürger auf eine Brüsseler Bürokratie gelenkt, die ihnen mit ihrer allmächtigen "Regelungswut" unnötig das Leben schwer mache, sie entmündige und bevormunde: Tiroler Bauern schlagen sich mit "Kampfstierverordnungen" herum, Ostsee-Gemeinden müssen Luftseilbahn-Verordnungen erlassen und jede Gurke oder Banane wird an einer EU-Krümmungsverordnung gemessen.

 

Lassen wir mal dahingestellt, wie viele Bürger sich wirklich an der fehlenden Legitimierung von Brüsseler Kommissaren stören. Umso klarer ist auf alle Fälle die Richtung, die Politiker und ihre Öffentlichkeit der im Nein-Votum geäußerten Unzufriedenheit geben: "Europa" konnte mit der Kritik nicht gemeint sein, allenfalls die erfolglose "lame duck" Chirac, die einen innenpolitischen "Denkzettel" verdient habe. Die Reformpolitik an sich und samt ihren desaströsen Folgen kann ebenfalls nicht die Quelle der Empörung sein, denn die ist ja allseits als "notwendig" anerkannt. Und wenn es doch um "Europa" ging, dann konnte eben allenfalls so etwas wie die "Regelungswut" Brüssels und seine demokratischen Mängel gemeint gewesen sein. Nur: Wenn Europas Bürger daran wirklich so viel auszusetzen hätten, wie ihnen ihre nationalen Oberhäupter so gerne nachsagen, könnten sie ja schon mal in ihren Heimatstaaten damit anfangen, schließlich können sie in ihren durchorganisierten Vaterländern keinen Schritt machen, ohne von irgendeiner "Verordnung" bevormundet oder entmündigt zu werden. Fast scheint es, als wollten die nationalen Chefs mit ihrer "Brüssel"-Schelte die reale Unzufriedenheit ihrer Untertanen von ihnen, den national Verantwortlichen, auf die "Eurokraten" ablenken, und ihr eine Richtung geben, auf der sie, die Führer der Nationen, sich mit ihren Völkern gemein machen können. Das ist in gewisser Hinsicht aufschlussreich: Das öffentliche Geschimpfe über Brüssel und seine "Regelungswut" und "demokratischen Defizite" verrät mehr über die reale Unzufriedenheit der Staatsführer mit diesem ihrem eigenen Werk "Europa", so wie es bislang existiert, als über die Nöte ihrer Bürger, auf die sie sich so gerne berufen.

 

2. Wie die Führungsmächte der EU, Deutschland und Frankreich, ihre Unzufriedenheit mit dem nationalen Ertrag des europäischen "Einigungswerks" als "Ringen um die europäische Einigung" vorantreiben

 

Wenn regierende Politiker in Führungsstaaten der EU den zentralen Institutionen der EU vorwerfen, dort werde an den nationalen Belangen "vorbeiregiert", und so tun, als wären sie die Opfer einer Art "Fremdherrschaft", dann deuten sie auf ihr eigenes Werk. Die Brüsseler Bürokraten haben nämlich genauso viele Befugnisse, wie die Nationalstaaten ihnen durch Verzicht auf ihre Hoheit eingeräumt haben. Mit diesen freiwillig übertragenen Kompetenzen hat "Brüssel" – von den Mitgliedstaaten ratifiziert – ein umfängliches europäisches Recht konstruiert, das für alle gilt, mittlerweile also auch jedes nationale Recht bricht, das der übergeordneten europäischen Legalität widerspricht. In ihren zahllosen Gipfeln und Ministerratssitzungen haben die Regierungen der Mitgliedsstaaten ein europäisches Beschluss- und Gesetzeswesen in Gang gebracht, dem – wenn es erst einmal als Brüsseler Recht existiert – eindeutig auch ihre eigene Nation unterworfen ist. Das gilt unabhängig davon, wie sich die Rechtsverordnungen und Beschlüsse über den gemeinsamen Markt, den Euro und alle anderen zahllosen EU-Richtlinien in den einzelnen Mitgliedsstaaten auswirken, und das bedeutet für die einzelne Nation, dass sie zwar ein Stück ihrer Hoheit an die Zentrale abgegeben hat, dass damit aber noch lange nicht ausgemacht ist, ob und inwieweit ihr daraus Vor- oder Nachteile erwachsen. Daher unterwirft sie sich keineswegs immer und in jedem Fall dem Kommando dieser Zentrale. Vielmehr sehen die auf die Mehrung des Nutzens ihrer Nationen bedachten Staatsmänner Europas ihre Aufgabe darin, die zentrale Instanz der Union so zu beeinflussen, im Idealfall zu bestimmen, dass sie in ihrem nationalen Interesse, also zu ihrem eigenen nationalen Vorteil funktioniert, auch wenn das zu Lasten ihrer EU-Partner geht. Der innereuropäische Einsatz nationaler Macht wird im Gefolge der zunehmenden Vergemeinschaftung ganz und gar nicht überflüssig, im Gegenteil – er wird um die Konkurrenz der Mitgliedstaaten um die nationalen Erträge aus den europäischen Rechten und Pflichten bereichert.

 

Staaten wie Frankreich, Deutschland und Großbritannien, die in Europa eine führende Position einnehmen und diese ausbauen wollen, bestehen darauf, dass jeder Fortschritt der europäischen Integration ihre Führungsposition und ihren nationalen Ertrag zu befördern habe. Weil sich dieser nationale Anspruch gerade infolge der gemeinsam geschaffenen supranationalen Rechte, nicht mehr so selbstverständlich erfüllt, melden sie zunehmend ihre Unzufriedenheit mit der Europäischen Union an. So haben sie mit der letzten Osterweiterung die mittelosteuropäischen Staaten zu Bestandteilen des gemeinsamen europäischen Marktes gemacht. Diese europaweite Freizügigkeit fürs Kapital sollte Europas Osten für Investitionen der im Westen heimischen Kapitalgesellschaften erschließen und ihnen damit neue Wachstumsmöglichkeiten eröffnen, natürlich in der Erwartung, dass diese Kapitalanlagen zusätzliches Wachstum im Osten erzeugen und dieses wiederum dem stagnierenden Wachstum in ihren alten Standorten aufhelfen werde. Nun zeigt es sich, dass die neue Freizügigkeit des Kapitals keine Einbahnstraße und keine Garantie dafür ist, dass die Anlageentscheidungen der europaweit mobilen Kapitalisten in ihrer Summe zu Gunsten der alten Industriestandorte ausfallen. So haben die Unternehmer entdeckt, dass sie in Osteuropa schon allein mit dem dort niedrigeren Lohnniveau ihre Lohnstückkosten – im Gegensatz zum Westen sogar ohne zusätzlichen Kapitalaufwand für produktivere Maschinerie – senken können. In der Krise, die in den meisten Ländern der alten EU herrscht, kommt diese Möglichkeit ihren Strategien, ihr Geschäft trotz Überakkumulation zu behaupten, besonders zupass. Daher nutzen sie ihre neue Freiheit dazu, Produktionsstätten aus den Mutterländern der Kapitalverwertung nach Osteuropa zu verlagern oder neue Investitionen zum großen Teil dort und nicht in ihren alten Standorten zu tätigen. Statt dass die europäische "Globalisierung" dem Wachstum im Westen einen neuen Auftrieb gibt, geht sie zu Lasten der dortigen Reichtumsquellen und setzt weitere lohnabhängige Steuerzahler und Sozialversicherungspflichtige frei, was die Defizite der staatlichen Haushalte und der Sozialkassen und damit die Neuverschuldung weiter in die Höhe treibt. Das gilt im besonderen Maße für den deutsch-französischen "Motor" des europäischen "Einigungswerkes". Kein Wunder, dass beiderseits des Rheins die Zweifel an weiteren Fortschritten der europäischen Integration wachsen. Weil "Erweiterung" bzw. "Vertiefung" Europas nicht mehr wie früher automatisch den Nutzen der großen EU-Nationen vermehren, sondern im Gegenteil Vorteile anderer Nationen in Europa auf ihre Kosten gehen, sehen sich gerade die beiden westeuropäischen Führungsnationen der EU als Opfer ihres eigenen Werkes und kämpfen um den nationalen Ertrag des von ihnen geschaffenen Instruments Europa. Das bringt die Staaten nicht nur mehr als im gewohnten Maße gegeneinander auf, es lässt überhaupt Zweifel an dem gewohnten, für alle mehr oder minder vorteilhaften Voranschreiten der EU entstehen, und es macht gerade die Staaten betroffen, die bisher das Projekt Europa vorangetrieben haben.

 

In Deutschland etwa bekommt das alte Argument von der BRD als ewigem "Netto-Zahler für Europa" einen aggressiven Inhalt gegen die EU und damit auch gegen die Partner in ihr: Früher konnten deutsche Regierungen dem Argument, man sei der "Zahlmeister Europas", noch entgegenhalten, diese "Subventionen" fürs europäische Gemeinschaftswerk zahlten sich letztendlich doch für Deutschland aus, da sowohl deutsches Wachstum wie auch deutsche Führungsstärke dadurch befördert würden. Seit geraumer Zeit schon verlangt Deutschland aber von "Brüssel" eine beträchtliche Verringerung deutscher Zahlungen, weil mit denen nur "Arbeitsplätze im Osten auf- und im Westen abgebaut" würden, also mit deutschem Geld Wachstum im Osten auf Kosten des deutschen Standorts finanziert werde.

 

Auch die Beschwerde über "Brüsseler Regelungswut" ist nicht mehr das Gemoser rechter Splitterparteien oder die Wahlkampfrhetorik der CSU für die bäuerlichen Stammwähler, sondern zur offiziellen Politik aufgestiegen. Chirac und Schröder gehen gegen bestehende oder geplante EU-Rechtsverordnungen, die in allen Mitgliedsstaaten gelten, vor: Die noch zu verabschiedende "Bolkestein"-Richtlinie, die den freien Dienstleistungsverkehr in Europa regeln soll, wird als "unfair" bekämpft, weil polnische Metzger und Fliesenleger deutsche und französische Kleingewerbler in die Pleite trieben und mit deren Ausfall als Arbeitgeber und Steuerzahler den deutschen Fiskus schädigten. An der Kommission vorbei, die immerhin als ein europäisches Exekutiv-Organ mit weitreichender Befugnis vom Feinstaub bis zur Anti-Diskriminierung von den Mitgliedsstaaten einstimmig institutionalisiert worden ist, betreiben französische und deutsche Politiker nationale Industriepolitik, in der sie mit ihrer nationalen Kreditmacht um deutsche oder französische Gelderträge kämpfen. Dazu gehört auch, dass Deutschland und Frankreich für sich das Recht beanspruchen, sich dabei vom Stabilitätspakt, den gerade die deutsche Regierung durchgesetzt hat, nicht behindern zu lassen. Diese Erfindung, mit der sich Deutschland seinerzeit bereit erklärte, die "Stabilität" seiner D-Mark an die Gemeinschaftswährung abzutreten, verfolgte die Absicht zu verhindern, dass sich die kleineren und vermeintlich wirtschaftlich schwächeren Nationen auf Kosten der Stabilität des neuen Euro verschulden. Nun, wo sich herausstellt, dass die Einhaltung der Maastricht-Kriterien gerade Deutschland nicht gelingt, verlangt die ehemalige Wirtschaftslokomotive Europas von den anderen europäischen Nationen zu akzeptieren, dass die Stabilitätskriterien für deren Erfinder nicht gelten sollen, wenn und solange sie seinen nationalen Verschuldungsbedürfnissen widersprechen. Berlin und Paris stellen somit das Verhältnis von EU-Recht und nationaler Macht in aller Deutlichkeit klar: Europäische Beschlüsse werden von den entscheidenden Mächten nur so lange respektiert, wie sie sie als ihre Instrumente nutzen können.

 

Das bedeutet keineswegs, dass Staaten wie Deutschland und Frankreich sich auf sich selbst zurückzögen. Die Führungsstaaten Europas ziehen aus der gegenwärtigen Lage einen anderen Schluss: Die Europäische Verfassung muss trotz aller zweifelhaften nationalen Erträge und erst recht trotz aller störrischen Wählermehrheiten in Kraft gesetzt werden. Nicht weil der Verfassungsvertrag all die Ziele als europäische festschriebe, auf die sich Deutschland und Frankreich geeinigt haben. Auch nicht, weil er dem selbsternannten "Motor der europäischen Einigung" eine institutionalisierte Führungsrolle einräumte. Sondern weil er mit einer erheblichen Ausweitung der Mehrheitsentscheidungen, mit dem Ausbau der doppelten Mehrheit und anderen Regelungen den Charakter der Europäischen Union als einer Union souveräner Staaten in Richtung auf eine wie auch immer institutionalisierte Suprastaatlichkeit verschiebt. Mit der Ratifikation würden sich alle EU-Staaten, auch diejenigen, die dem deutsch-französische Programm eines neuen weltpolitischen Subjekts, das – irgendwann – der Nr. 1 der Staatenwelt, den USA, "auf gleicher Augenhöhe" Paroli bieten können soll, reserviert bis ablehnend gegenüberstehen, immerhin der Perspektive verpflichten, dass sie ihre nationalen Interessen dereinst einer mit dem Verfassungsvertrag anvisierten europäischen Staatlichkeit unterordnen.

 

Da über Zwecksetzung eines solchen gemeinsamen Europas unter den Mitgliedstaaten sehr unterschiedliche bis gegensätzliche Vorstellungen bestehen, ist es kein Wunder, dass die europäische Verfassung und ihre Ratifizierung durch die Einzelstaaten umkämpft sind.

 

II.

Warum sind viele Menschen in den Entwicklungsländern arm?

1.

Arm sind die Leute in den Entwicklungsländern weil sie ausgeschlossen sind von dem Reichtum, den es erstens überhaupt und zweitens auch in ihren Ländern gibt. Vorbei sind die Zeiten, in denen Menschen hungern und sterben mussten, weil es wegen Missernten, unzureichender Naturbeherrschung, fehlenden medizinischen Wissens die Mittel zur Befriedigung der drängendsten Bedürfnisse nicht gab. Heute wird vor vollen Lagerhäusern gehungert. Jeder Fernsehbericht über Hungerkatastrophen demonstriert, dass Reichtum durchaus vorhanden ist: Allein Ausrüstung und Anreise der TV-Teams, die über den Hunger berichten, die Satelliten, über die ihre Berichte in die Metropolen überspielt werden, kosten viel mehr als es kosten würde, die Hungernden zu füttern. Sogar der Welternährungsfond der UNO berichtet, dass es genug Lebensmittel auf dem Globus gibt, um alle Menschen satt zu machen; und selbstverständlich könnten im Bedarfsfall noch viel mehr davon hergestellt werden. Gehungert wird also nur, wo es an Geld fehlt, um die vorhandenen Lebensmittel zu kaufen; dasselbe gilt auch für die weniger lebensgefährlichen Formen des Mangels: das Fehlen guter Behausung, medizinischer Betreuung, Bildung und sonstiger Konsumartikel. Schuld an dem Ausschluss vom Reichtum ist das Privateigentum. Dieses Rechtsinstitut des Kapitalismus gilt heute bis in den hintersten Winkel der Erde. Jedes Stück natürlichen und produzierten Reichtums gehört irgend jemandem. Überall gibt es eine Staatsmacht, die einige Bürger mit dem Recht ausstattet, über materiellen Reichtum nach Belieben zu verfügen, und die allen anderen Bürgern, die diese Reichtümer auch brauchen, den Zugriff darauf verbietet. Wenn in Afrika immer wieder Lebensmittelvorräte geplündert werden, dann zeigt das nicht nur, dass es da etwas zu holen gibt, sondern dass es den Hungernden eben verboten ist, zu nehmen, was sie brauchen.

 

2.

Der zum Privateigentum gehörige Ausschluss vom Reichtum gewinnt an Schärfe dadurch, dass den Armen nicht nur produzierte Konsumtionsmittel, die andere haben, vorenthalten werden, sondern die Quellen des Reichtums selbst, die Produktionsmittel und damit die Instrumente der Arbeit, mit denen sie sich die Gegenstände ihres Bedarfs herstellen könnten. Grund und Boden sowie die produzierten Mittel der Produktion – Werkstätten, Maschinen, Rohstoffe –, gehören allesamt anderen Leuten, den sogenannten Reichen. Die Trennung der Menschen von ihren Produktionsmitteln sieht in verschiedenen Ländern des Südens verschieden aus, hat aber immer dasselbe Resultat: Nomaden können ihre Lebensform nicht fortsetzen, wenn Grundeigentümer Zäune und Staaten Grenzen ziehen und ihnen den nötigen Weidewechsel ihrer Herden verunmöglichen. Anderswo werden Kleinbauern zugunsten von großflächigem Bergbau, Staudämmen oder Plantagen, die für den Weltmarkt produzieren, von den halbwegs fruchtbaren Böden verdrängt. Auf dürren, nicht bewässerten Feldern, die ihr Staat ihnen gerade noch lässt, weil sich kein ökonomisch potentes Interesse daran findet, kämpfen sie ohne die nötige Technik, manchmal ohne richtige Werkzeuge um ihr tägliches Brot. Wieder anderswo haben die traditionellen Kleinhandwerker, Weber, Schneider, Leder- und Metallbearbeiter, keine Chance gegen die importierten Industrieprodukte der Weltkonzerne ganz gleichgültig, wie billig sie zu arbeiten bereit sind. Ihnen fehlt eben der Zugang zu den Produktionsmitteln, die heutigentags nötig sind, um sich an der Konkurrenz um die Kaufkraft zu beteiligen. Solche Menschen sind mittel- und hilflos. Sie können die für sie nötige Arbeit nicht verrichten und sich die Mittel ihrer Bedürfnisbefriedigung nicht beschaffen. Daraus geht schon hervor, dass das Ganze mit Fleiß und Faulheit überhaupt nichts zu tun hat: Millionen in der Dritten Welt kämpfen verbissen und ohne rechten Erfolg um ein anständiges Leben. Schon gleich zeugen die, die abhauen – das berühmte Flüchtlings- und Asylantenproblem – und auf der Suche nach einem Überleben in den Slums der großen Städte des Nordens landen, nicht gerade von Faulheit. Sie nehmen Lebensgefahren auf sich, um Arbeit zu finden, und werden, wenn sie Glück haben, gnadenlos ausgebeutet, und wenn sie Pech haben, wieder zurückgeschickt. Andere verharren tatsächlich in erzwungener Untätigkeit, nicht weil das Hungern so bequem ist, sondern weil die Trennung von den nötigen Arbeitsmitteln jede lohnende Anstrengung außer Reichweite rückt. Auf sie deuten dann die moralischen Volkserzieher und erklären die Passivität, Abstumpfung, ja Verwahrlosung der Menschen, die aus ökonomischer Hilflosigkeit und nicht überwindbarem Elend resultieren, zur – selbst verschuldeten – Ursache des Elends. Gegen solchen Zynismus würde es helfen, einmal von sich auf andere zu schließen: Niemand wird wohl so faul sein, lieber zu (ver-)hungern, als sich die Mühe der Mittelbeschaffung zu machen – sofern es einen erlaubten und gangbaren Weg gibt, sich das Notwendige zu erarbeiten!

 

3.

Mit der Not großer Teile ihrer Völker sind die Staaten der Dritten Welt keineswegs geschlagen; sie erleiden da nichts, was sie nicht wollen. Wenn sie ihre Völker der Herrschaft des Eigentums unterwerfen, dann folgen sie nicht irgendwelchen Zwängen, die vom Kolonialismus herrühren, sondern ganz allein ihrer heutigen, modernen Räson: Die Staaten setzen für den Fortschritt ihrer Macht und ihres Reichtums auf die Produktivität der Armut; sie machen ihre Bürger gezielt unselbständig und legen sie darauf fest, sich den Eigentümern der Produktionsmittel als Instrument ihrer Profite anzubieten. Geldverdienen durch Lohnarbeit, das soll der einzige erlaubte Lebensunterhalt des Volkes sein, damit es mit seiner Arbeit nicht nur sich ernährt, sondern dem Eigentümer der Produktionsmittel einen Zuwachs an Geld schafft, von dem auch der Staat seinen Teil abkriegt. Ob und in welchem Maß dieser Lebensunterhalt zustande kommt, ist freilich eine andere Frage. Das hängt nicht vom Wunsch des Staates nach möglichst viel ”Beschäftigung” ab, und schon gleich nicht von dem Bedürfnis der Arbeitssuchenden, Geld zu verdienen. Ob ihnen dazu Gelegenheit geboten wird, entscheiden allein die Rechnungen derer, denen die Produktionsmittel gehören: Sie lassen mittellose Arme für sich arbeiten, sofern, in der Menge und zu dem Arbeitslohn, als deren Arbeit ihren Reichtum mehrt. Das ist der Unterschied zwischen dem ärmsten Subsistenzbauern und dem modernen Lohnarbeiter: Der Bauer wendet seinen Boden und seine dürftigen Werkzeuge in seinem Interesse an; der Lohnarbeiter wird in fremdem Interesse angewendet. Weder durch Fleiß noch durch die Bereitschaft, sich für fast gar kein Geld herzugeben, können die von den Produktionsmitteln Getrennten ihre Benutzung ”erzwingen”. Diese hängt ganz von den Geschäften der Eigentümer ab, die von Land zu Land verschieden, im Ganzen aber von der Art sind, dass immer nur ein Bruchteil der Arbeitssuchenden eine Anstellung findet.

 

4.

Die wahren ”Arbeitgeber” sind heutzutage ohnehin die global disponierenden Konzerne. Sie vergleichen weltweit die Renditen, die sie aus Kapitalanlage erwarten können, sie legen ihr Geld vorurteilslos überall nach dem Gesichtspunkt des größten Ertrags an – und sortieren damit die Welt.

 

In Ländern der sogenannten Vierten Welt, Somalia, Äthiopien u.a., findet das internationale Profitinteresse fast gar nichts Ausnutzbares. In diesen Ländern läuft deshalb so gut wie gar kein Wirtschaftsleben, keine Produktion des Notwendigen und kaum ein Überleben. Aus der Welt des Eigentums, in der alles käuflich ist, aber auch gekauft werden muss, werden selbstverständlich auch diese Weltregionen nicht entlassen. Ein paar Dollar kommen dort immer noch zustande, auch dorthin kann man noch verkaufen; und als Bedingung der Möglichkeit zukünftiger Geschäfte müssen Grund und Boden, und was es sonst noch gibt, natürlich Privateigentum sein und bleiben.

 

In Ländern, die zu Unrecht Entwicklungsländer heißen, macht sich das Geschäftsinteresse zumeist an speziellen Naturbedingungen fest: Kapital wird investiert in die Produktion von Südfrüchten für den Weltmarkt, sogenannten Cash Crops (Geldpflanzen!), in die Ausbeutung von Bodenschätzen oder in die Verwertung landschaftlicher Reize durch die Tourismusindustrie. In diesen Fällen weckt nicht die nationale Arbeitskraft das Interesse der internationalen Kapitalisten, sondern eine besondere Naturbedingung. Abgesehen von den wenigen, die für Bergbau, Plantagenwirtschaft und die Bedienung der Touristen gebraucht werden, hat das Weltgeschäft für die lokale Bevölkerung keine Verwendung: Zusammen mit der in den erstgenannten Ländern bildet sie die absolute Überbevölkerung des Weltkapitalismus. Die lokalen Regierungen bekommen von ihren mächtigen Partnern im Norden die Aufgabe zugewiesen, ihre dahinvegetierenden Massen im nationalen Elendsrevier einzusperren, d.h. sie daran zu hindern, in den Norden auszuwandern und den dortigen Sozialverwaltungen zur Last zu fallen.

 

In den sogenannten Schwellenländern entdecken die internationalen Konzerne durchaus Teile des Volkes als billige Arbeitskraft, die sie zusätzlich zu der in den Metropolen oder auch statt ihrer ausbeuten. Sie lagern Teile ihrer Produktion in Billiglohnländer aus, exportieren das Arbeitstempo und die Produktivität, die sie im Stammland aus ihren Leuten herausholen, zahlen dafür aber nur die ortsüblichen Hungerlöhne. Die ”armen” Entwicklungsländer helfen mit. Sie bekämpfen ihre staatliche Armut, indem sie ihre Menschen zum konkurrenzlosen Billigangebot ans internationale Kapital herrichten, jeden Widerstand gegen die elenden Arbeitsbedingungen niederschlagen und mit dieser Dienstleistung um die Anlage auswärtigen Kapitals auf ihrem Territorium werben. Wenn in solchen Ländern tatsächlich einmal alternative Regierungen an die Macht kommen, die nationalen Fortschritt anders verstehen und sich für ihre Bevölkerung eine andere Rolle als die von Billigangeboten ans internationale Kapital vorstellen, lässt die Koalition der freiheitlichen Weltmächte nichts unversucht, um derartige soziale ”Experimente” zum Scheitern zu bringen – notfalls per Militärintervention. Trotz aller mit äußerer und innerer Gewalt niedrig gehaltenen Löhne findet auch in den Schwellenländern nur eine Minderheit regelmäßige und geregelt entlohnte Arbeit. Die Mehrheit bildet die kapitalistische Reservearmee, die nur in ganz besonderen Wachstumsphasen das Glück hat, einmal eine Weile beschäftigt zu werden. Oder sie zählt gleich zur absoluten Überbevölkerung.

 

Alles das ist in den gerühmten Industrieländern nicht grundsätzlich anders: Auch dort ist ständig ein Teil der Arbeiterschaft unbeschäftigt und vom Abstieg ins Elend nicht nur bedroht, sondern betroffen. Auch in den Hochlohnländern ist die Armut Grundlage und Produktivkraft der Wirtschaft. Dazu bekennt sich diese Gesellschaft unverhohlen, wenn Politiker, Wirtschaftsführer und Meinungsmacher über viel zu hohe Löhne klagen, wenn sie von der Wirtschaftskrise über die Defizite im Staatshaushalt bis zur Pleite der Sozialkassen und der Arbeitslosigkeit alle Übel auf den hohen Lohn zurückführen und sie durch seine Senkung überwinden wollen. Die Fachleute haben kein Problem, zuzugeben, dass der Reichtum dieser Gesellschaft auf der Armut der Arbeitenden beruht. Im Gegenteil, sie klagen, dass es davon immer noch zu wenig gibt.

 

Weltweit hat die Mehrheit der Menschen das Pech, durch die Gewalt der Verhältnisse auf eine proletarische Existenz angewiesen, als Proletarier aber nicht gefragt zu sein. Über Leben-Können und Nicht-Leben-Können der eigentumslosen Milliarden entscheidet das Kapital mit seiner Nachfrage nach Arbeit. Es definiert, welche Menschen ein Lebensrecht haben, weil sie für seinen Profit gebraucht werden, und welche Menschen nach allen gültigen Maßstäben unnütz, überflüssig, und eine bloße Last sind. So weit die einfache Antwort auf die Frage ”Warum sind viele Menschen in den Entwicklungsländern arm?”

 

Abschließend noch ein Kommentar zur Frage selbst

 

Die Frage nach dem ”Grund der Armut in den Entwicklungsländern” enthält eine Falle. Es ist nämlich nicht klar, ob nach dem Grund der Armut oder nach dem Grund der besonders großen Armut gefragt wird; im zweiten Fall gilt das Übermaß der Armut als kritikwürdiger Skandal und der Grund, der gesucht wird, ist einer für eine Abweichung von einem Normalmaß. Diese Fassung der Frage ist beliebt bei Solidaritätsbewegungen, bei Antiglobalisierungs-Gruppen, sowie bei den christlichen Kirchen mit ihren Kollekten: ”Brot für die Welt”. Tatsächlich ist der Unterschied in Gesundheit, Lebenserwartung und Lebensstandard ja riesig: Die in der Dritten Welt verhungern, die in der Ersten sehen ihnen dabei am Farbfernseher zu – und freuen sich, dass es ihnen gut geht, vergleichsweise wenigstens. Manche Lohnarbeiter des Nordens können sich sogar Reisen in die Reviere der pittoresken Armut leisten und sich mit ihrem Urlaubsgeld dort wie Herren aufführen. Dennoch ändert das nichts an ihrer ökonomischen Stellung – und die teilen sie mit den Paupers, von denen sie sich im Urlaub bedienen lassen. Ihr Unterscheid entsteht auf Basis ihrer Gleichheit: Beide können nur leben, wenn sie fürs Kapital leben. Deshalb verdienen die einen Lohn, mit dem sie recht und schlecht auskommen, und deshalb verhungern die anderen.

 

Wer allerdings das Übermaß der Armut in der Dritten Welt für den eigentlichen Skandal hält, kommt in ein ganz anderes Fahrwasser. Er misst die Lage der Opfer des Kapitals aneinander und findet die Abweichung zwischen Nord und Süd ungerecht: Da erscheint der Lohnarbeiter der Ersten Welt als reich, weil er mit dem Hungerleider der Dritten Welt verglichen wird; umgekehrt erscheint dieser als arm auch nur durch den Vergleich. Der Protest, der vom Vergleich lebt und Ausgleich fordert, gerät sehr bescheiden: Er versteht den Lebensstandard kostengünstiger Lohnarbeiter als einen echten, womöglich unnötigen Luxus – und wünscht den Armen im Süden, denen seine Solidarität gilt, womöglich gar nicht mehr als die trostlose ”Subsistenz”, die durch den Einzug der Weltwirtschaft in ihre Länder zerstört worden ist. Der Vergleich der Armut hier und dort legt ausdrücklich oder implizit den Maßstab des Leben- und Überleben-Könnens an – und das in dieser Welt des Reichtums, in der es von allem genug gibt und mehr als genug geben könnte.

 

Wer also nicht die erpresste Lebenslage von Lohnarbeitern überall, sondern die Abweichung ihrer Lebenslagen zum Skandal erklärt, den Grad des Elends in der Dritten Welt für das Erklärungsbedürftige hält, der unterscheidet einen normalen, funktionierenden Kapitalismus von einem defizitären, nicht funktionierenden, abnormalen im Süden und fragt, warum den Entwicklungsländern das fehlt, was der Norden hat. Dabei ist da gar nichts abnormal. Nirgendwo steht geschrieben, dass das Kapital die Menschen, die es seiner Ordnung unterwirft, auch – oder wenigstens mehrheitlich – für seine Geldvermehrung benutzen muss. Global gesehen ist das ohnehin die Ausnahme. Dem Süden fehlt nichts für die weltwirtschaftliche Rolle, die er im Weltkapitalismus spielt. Denn mehr war nicht versprochen, als dass das Eigentum alle Produktions- und Lebensbedingungen erst einmal monopolisiert, und hinterher zusieht, was sich aus diesen Bedingungen für seine Vermehrung machen lässt.

 

Wenn in den Entwicklungsländern ein defizitärer Kapitalismus der Grund des besonders großen Elends sein soll, dann ist der Kapitalismus als solcher aus dem Schneider. Mit der Vergleicherei wird der allgemeine Grund der Armut dementiert und eine ziemlich gute Meinung von der Ausbeutungsordnung gebastelt: Denn wer meint, dem Süden fehle etwas dazu, dass es bei ihm so auskömmlich zugeht wie im Norden, der weiß auch schon, was: Kapital, dieses unverzichtbare Lebensmittel der Menschen. Das Elend kommt dann nicht von der Herrschaft des Kapitals, sondern von einem Mangel an Kapital. Und wer sich auch noch der verkehrten Frage widmet, warum sich das Kapital nicht gleichmäßig über die Erde verteilt, warum es nicht auch den Süden beglückt, der es so dringend benötigt, der kommt beim Antworten vom hundertsten ins tausendste. Beim Aufzählen von historischen Sonderbedingungen, die eine ”gesunde” Entwicklung des Kapitalismus im Süden angeblich behindern, ist es schwer, zu entscheiden, welche die entscheidende ist: Kolonialismus, ständig inflationierter Geldwert, schlechte Regierung, Protektionismus, ein gewonnener Konkurrenzvorsprung des Nordens? Aber was hat das alles mit dem Grund der Armut zu tun?

 

Übrigens lässt sich der Vergleich auch umdrehen. Die deutschen, mitteleuropäischen Lohnarbeiter bekommen von ihren Chefs gesagt, dass sie zu teuer sind für deren Gewinn, und dass ihre Arbeit in Tschechien, Portugal und erst recht in Südostasien viel billiger erledigt wird. Andere Völker arbeiten länger und machen es für weniger Lohn – und das geht auch! Dort wandert das Kapital hin, Arbeitslosigkeit haben sich die Arbeiter selbst zuzuschreiben, wenn sie so unflexibel sind, ihren Lebensstandard nicht in Richtung Dritte Welt reformieren zu lassen. Inzwischen ist das Lohnniveau im Norden eine Fehlentwicklung, die korrigiert gehört, und die Armut in der Dritten Welt ist ein Vorbild!

 

Tatsächlich ist es immer dasselbe: Die Eigentumsordnung des Kapitalismus macht die Menschen unfähig, für ihr Leben selbst zu sorgen; sie zwingt alle, ihre Chance darin zu suchen, dass sie sich dem Kapital dienstbar machen. Während die Freunde der sozialen Gerechtigkeit die Lebensverhältnisse unter dem Kapital hier und dort vergleichen, vergleicht das Kapital die Leistung und Billigkeit der Völker praktisch – das heißt, es spielt sie gegeneinander aus. Wenn dann endgültig die Menschen von dieser Ordnung umfassend erpresst sind und niemand mehr leben kann, wenn er nicht fürs Kapital lebt, dann lässt sich die Sache umdrehen: Wer leben will, braucht Kapital.