GEGENARGUMENTE

Die Meinungsfreiheit – was sie ist und wem sie nützt, oder:
Einige Argumente gegen den guten Ruf der Meinungsfreiheit

Die Medien, die sog. „4. Gewalt“ in der Demokratie, die maßgeblichen Nutznießer des Rechts auf Meinungsfreiheit bringen unbekümmert und sendungsbewußt einige vordergründig widersprüchliche Momente unter einen Hut:

Von ihrer Überzeugung, hierzulande im Reich der Meinungsfreiheit zu hausen, lassen sie sich nicht so schnell abbringen, schon gar nicht von der allseits bekannten und begrüßten Tatsache, dass neulich ein Ausländer für nichts als eine verbotene Meinung zum Thema „Auschwitz“ zu drei Jahren Haft verurteilt wurde. Dass die „Herabwürdigung religiöser Lehren“ (§ 188 StGB) hierzulande verboten und mit „Freiheitsstrafe bis zu sechs Monaten“ (ebd.) belegt ist, das tut der Meinungsfreiheit nach Meinung der Profis der öffentlichen Meinung ebenfalls keinen Abbruch. Und ebensowenig das Verlangen mancher Verfechter dieser Meinungsfreiheit, gewissen „Hasspredigern“ die ihrige abzudrehen – es sei denn, es handelt sich um eine Hasspredigt in Form einer Karikatur, die eine in Europa etwas suspekte religiöse Lehre herabwürdigen soll. Dann ist der mutige Nachdruck ein Fanal im Kampf der Kulturen, wo die überlegene – die mit der Meinungsfreiheit – gegen die minderwertige steht, der dieses hohe Gut angeblich fremd ist. Was ist denn an der Geschichte mit der Meinungsfreiheit nun tatsächlich dran? Denn alle obrigkeitlich ohnehin erlaubten Meinungen darf man natürlich auch in jeder Diktatur frei äußern, wohingegen man für die verbotenen erwiesenermaßen auch in der Demokratie belangt wird ...

Kein normaler Mensch braucht übrigens von sich aus ein Recht auf Meinungsäußerung. Denn wenn jemand ein Interesse anmelden, ein Urteil bekanntgeben, eine wie auch immer geartete Einsicht mitteilen will, dann braucht er dafür sicher kein Recht. Falls er das eigenartige Bedürfnis entwickelt, derartiges nicht nur einfach zu TUN, sondern es auch zu DÜRFEN, dann deswegen, weil die ihm übergeordnete Obrigkeit sein Meinen längst zu ihrer Angelegenheit gemacht und es an ihre Bewilligung geknüpft hat. Die Frage ist, was wurde denn dann eigentlich genehmigt? Zumindest die eine weithin bekannte, als Volksvorurteil überall präsente, mit dieser generösen Genehmigung untrennbar verbundene Auflage hat mit dem unbefangenen, naturbelassenen Bedürfnis, etwas mitzuteilen, wieder nichts zu tun: Wie jede andere, so ist auch die Freiheit zum Meinen schon sprichwörtlich mit einer „Verantwortung“ verbunden und wer immerhin meinen darf, wird damit zur geistigen Selbstkontrolle verpflichtet. Besteht der Unterschied zur Diktatur also letztlich bloß darin, dass in der Demokratie die mit dem Recht zum freien gegebene Pflicht zum verantwortungsbewußten Meinen den behördlichen Zensor ersetzt? Die Frage ist, wie das alles zusammengehört und zusammenpaßt und zusammengeht: Die Meinungsfreiheit, die Verantwortung und das Gefängnis.

Obige Behauptung, wonach niemand von sich aus ein Recht auf Meinungsäußerung braucht, muß mit einem Einwand rechnen, der etwa so geht: „Du willst doch hier und heute etwas sagen, also mußt Du froh sein, dass es dieses Recht gibt und Dir dies Anliegen gestattet ist. Ohne dieses Recht kannst Du doch gar nichts mitteilen.“ Nun, hier liegt, höflich formuliert, eine Verwechslung der Modalverben Können und Dürfen vor. Etwas vorbringen, etwas sagen und anderen mitteilen, das kann wirklich jeder ganz von allein. Beim Rundfunk-Machen braucht man die Technik und ev. ein Arrangement mit anderen Interessenten wegen der Frequenzen. Papier und Druckerpresse, eine Sendeanlage oder etwas Webspace, das sind die technischen Hilfsmittel des Kommunizierens – das Recht auf Meinung ist kein solches Hilfsmittel, und eine rechtliche Erlaubnis braucht man nur dann, wenn der Staat sich die Materie angeeignet hat, sich als zuständige Instanz in Stellung gebracht und die Angelegenheit in seinem Sinn reguliert hat. Falls man dieses Recht braucht, dann nur, weil die einem übergeordnete Obrigkeit beschlossen hat, dass man es braucht. Angebracht ist dann auch nicht ein sofortiger Ausbruch untertäniger Dankbarkeit dafür, sondern ein Aufmerken darauf, dass sogar so etwas Banales und Unvermeidliches überhaupt nicht selbstverständlich ist und gerade nicht den Leuten mit einem Mitteilungsbedürfnis überlassen bleibt, sondern vom Staat unter seine Obhut und Aufsicht genommen wurde. Die Frage ist, was hat die Obrigkeit denn überhaupt beschlossen? Im Fall der Europäischen Menschenrechtskonvention – deren Bestimmungen in Österreich Verfassungsrang haben – lautet der Beschluß so:

Artikel 10 - Freiheit der Meinungsäußerung

„1. Jedermann hat Anspruch auf freie Meinungsäußerung. Dieses Recht schließt die Freiheit der Meinung und die Freiheit zum Empfang und zur Mitteilung von Nachrichten oder Ideen ohne Eingriffe öffentlicher Behörden und ohne Rücksicht auf Landesgrenzen ein. Dieser Artikel schließt nicht aus, daß die Staaten Rundfunk-, Lichtspiel- oder Fernsehunternehmen einem Genehmigungsverfahren unterwerfen.“

Gesetzt ist also beides: Sowohl die „Freiheit der Meinung“ von jedermann „ohne Eingriffe öffentlicher Behörden“ – als auch die Freiheit der Behörden, per Eingriff „Rundfunk-, Lichtspiel- oder Fernsehunternehmen“ zu genehmigen oder auch nicht. Bekanntlich gibt es ein Privatradio und Privatfernsehen in Österreich noch gar nicht so lang. Da hat der Staat einige Zeit von seinem Menschenrecht und seiner Freiheit Gebrauch gemacht, dergleichen einfach nicht zu genehmigen. Auch die Printmedien agieren natürlich nicht in einem rechtsfreien Raum. Die Konkretisierung dieses Menschenrechtsartikels legt weiter fest, dass die Ausübung „dieser Freiheiten“ etwas mit sich bringt, das sich aus einem beliebigen Mitteilungsbedürfnis sicher nicht ergibt: Nämlich „Pflichten und Verantwortung“, und zwar gegenüber dem Gewährer der Freiheit und dessen Anliegen. Indem jemand etwas meint und mitteilt, ist er, ob er es weiß oder nicht und ob es ihm paßt oder nicht, in ein moralisches und vor allem in ein rechtliches Verpflichtungsverhältnis eingebaut:

Artikel 10, Absatz „2. Da die Ausübung dieser Freiheiten Pflichten und Verantwortung mit sich bringt, kann sie bestimmten, vom Gesetz vorgesehenen Formvorschriften, Bedingungen, Einschränkungen oder Strafdrohungen unterworfen werden, wie sie in einer demokratischen Gesellschaft im Interesse der nationalen Sicherheit, der territorialen Unversehrtheit oder der öffentlichen Sicherheit, der Aufrechterhaltung der Ordnung und der Verbrechensverhütung, des Schutzes der Gesundheit und der Moral, des Schutzes des guten Rufes oder der Rechte anderer notwendig sind, um die Verbreitung von vertraulichen Nachrichten zu verhindern oder das Ansehen und die Unparteilichkeit der Rechtsprechung zu gewährleisten.1

Das „Recht auf ...“ hat mit der Selbstverständlichkeit, dass jeder frei von der Leber weg und ohne Befürchtungen seine Anliegen und Standpunkte äußern kann, nichts zu tun. Mit der Verrechtlichung des Meinens bemächtigt sich der Staat dieser Sphäre, er nimmt sie unter seine Fittiche – Verrechtlichung ist die Form der Verstaatlichung – und gestaltet sie in seinem Sinn. Die Vorstellung, sofern das Recht auf Meinungsäußerung einmal gegeben sei, könne es dann immerhin frei und unbeschwert losgehen, trifft die Sache gerade nicht. Meinungsfreiheit heißt, es gibt Rechte und Pflichten und Verantwortung beim Denken und Reden, der Staat setzt dem Meinen gewisse eindeutige Schranken: Es hat nützlich, funktional für ihn zu sein. Kein Bürger darf sich mit brachialen Übergriffen an Meinungen anderer vergreifen – niemand außer dem Staat. Wie immer impliziert der Gewaltverzicht der Gesellschaftsmitglieder das Gewaltmonopol der Obrigkeit: Nur die darf, was sie allen anderen verbietet, und nach ihrem Ermessen Meinungen gewaltsam unterbinden.

Zwischenbemerkung: Auch in der früheren Sowjetunion war, das ergibt die Analyse, das Recht auf die freie Meinungsäußerung ständig intakt: Dafür sein, eine Meinung haben unter Bedachtnahme auf die „nationale Sicherheit“, die „Aufrechterhaltung der Ordnung“ etc. usw. – das durfte man dort auch! Mag sein, dass damals im Osten manche Meinung abgewürgt wurde – das Menschenrecht auf die freie Meinungsäußerung konnte dadurch jedenfalls nicht verletzt werden, denn das sichert dem Staat die Aufsicht und die Freiheit zur Kontrolle samt „Einschränkungen oder Strafdrohungen“. Wenn, wie damals gegenüber der Sowjetunion, und heute bei anderen unbequemen Auslanden vom Westen Meinungsfreiheit auch für Staatsfeinde und Systemgegner verlangt wird, dann also für subversives und ordnungswidriges Zeug, das jeder demokratische Staat bei sich daheim völlig menschenrechtskonform verbietet. Dass woanders das Menschenrecht auf Meinungsfreiheit fehlt, das gehört in der Regel zum Feindbild und zur jeweiligen Kriegshetze; es hat mit dem tatsächlichen, substantiellen Menschenrecht nichts zu tun.

Die Meinungsfreiheit ist einerseits natürlich ein hoher Wert, aber jedermann ist andererseits durchaus ein berechnender, ein taktischer Umgang mit der eigenen Meinung geläufig: Gewisse Meinungen behält man im Umgang mit Vorgesetzten, mit Kollegen oder Nachbarn auch einmal besser für sich; und niemand ist so weltfremd, dass er unter Berufung auf dieses hohe Gut an der verkehrten Stelle eine unpassende Meinung rauslässt, nämlich wenn es ihm schaden könnte. So wird es wohl auch in der SU gewesen sein.

Was ist eine Meinung?

Der Witz am Recht auf Meinungsfreiheit ist nun nicht, und das ist auch nicht die Praxis des hiesigen Meinungswesens, dass der Staat das Meinen erst zulässt und dann einen ihm unbequemen Teil des nationalen Meinungsspektrums unterbindet. Die wesentliche staatliche Regulierung der Meinungsbildung ist gar nicht die im Artikel 10 aufgelistete lange Latte der „Bedingungen“ und „Einschränkungen“. Der Witz am staatlichen Eingriff ist das Recht für „Jedermann“, denn nicht jede Position, Anschauung, Äußerung ist deswegen gleich eine Meinung. Ein Meinung zeichnet sich dadurch aus, dass sie gleichgültig gegen ihren bestimmten Inhalt den Staatsstandpunkt übernimmt und insofern eine methodische Stellung zu sich einnimmt: Sie beteuert ihre eigene theoretische und praktische Belanglosigkeit, sie unterstellt immer gleich, dass sie weder als theoretische Position, als Urteil über etwas gültig sein will, noch dass sie als praktischer Leitfaden des eigenen Handelns verstanden oder als Anspruch auf Berücksichtigung eigener Interessen vorgetragen sein will. „Meinung“ ist eine Äußerung, die sich selber als Ergebnis einer individuellen Laune versteht, nicht als Auskunft über eine Sache, über die sich diskursiv streiten ließe, nicht als Anmeldung eines Interesses, das auf Durchsetzung drängt. Meinungsfreiheit ist das Reich der Selbstrelativierung. Recht auf Meinungsfreiheit bedeutet, dass jeder das Recht hat, sich seinen persönlichen Reim auf alles und jedes zu machen, und das Resultat ist die eigene Meinung insofern, als sie auch nur für einen selber maßgeblich ist.

Viel grundsätzlicher als bloß mit dem Verbot mißliebiger interveniert die Obrigkeit mit einem Gebot in sämtliche Verstandes- und Willensäußerungen der beaufsichtigten Subjekte: Indem sie allen die grundsätzliche Freiheit gewährt, sich zu äußern und im Prinzip alles Geäußerte gleichermaßen gelten lässt; und indem sie auch noch ihren freien Subjekten die Pflicht aufgibt, allen Meinungsäußerungen anderer ebenfalls mit gleichem Respekt zu begegnen; und indem sie das als die Erfüllung aller theoretischen wie praktischen Mitteilungswünsche ihrer Leute verstanden und gewürdigt haben will. Damit dekretiert der Staat tatsächlich die prinzipielle Gleichgültigkeit aller vorgetragenen Urteile und Interessen, verurteilt ihren Inhalt – weil „bloß“ partikular! – zur Irrelevanz und die Leute dazu, sich mit der Wahrnehmung ihrer Lizenz zum Meinen zufrieden zu geben, so als wäre es ihnen auf die gemeinte Sache, auf den geäußerten Wunsch, den jeweiligen Zweck, das Urteil gar nicht angekommen, sondern nur darauf, alles immerhin wenigstens sagen zu dürfen.

Dabei geht es der Aufsicht führenden Instanz selbstredend nicht um ohnehin belanglose Ansichten, mit denen die Menschen einander unterhalten, und auch nur in dritter Linie um Karikaturen und andere Boshaftigkeiten, mit denen sie einander ärgern. Die prinzipielle Relativierung alles Gemeinten und damit alles Gewollten, die gleiche Gültigkeit und damit die gleiche Ungültigkeit aller verschiedenen Meinungen, die im Recht auf deren freie Äußerung enthalten ist, zielt auf praktische Interessen, nämlich auf Interessensgegensätze, die die bürgerliche Gesellschaft beherrschen. Allen gesellschaftlichen Ansprüchen und Interessen wird ein ganz formelles „verbales“ Daseinsrecht zuerkannt und ihnen zugleich als Preis dafür die Anerkennung ihrer Unverbindlichkeit abverlangt, die den tatsächlich stattfindenden Interessensabgleich, die Herstellung gesellschaftlicher Verbindlichkeit, die Vereinnahmung der Subjekte in einen gesellschaftlichen Zusammenhang – einer Macht außerhalb und jenseits des Konsenses überlässt, der durch Streit über die und Einigung in der Sache vielleicht zu erzielen wäre und auf den eine Meinungsäußerung, die ihren Inhalt ernst nimmt, im Grunde auch allemal zielt: nämlich der höchsten Gewalt, die in diesem System alle Lizenzen vergibt. Mit dem Grundsatz der allgemeinen Meinungsfreiheit verschafft die Staatsmacht, die ihren Bürgern dieses hohe Gut gewährt, sich ihre grundsätzliche Entscheidungsfreiheit über deren wirkliches gesellschaftliches Zusammenwirken jenseits von jedem Kon- oder Dissens, den die zustande bringen oder auch nicht. Es gibt das Gerücht, Demokratie sei Diskussion, und die vielen Meinungen würden auf dem Weg des „Diskurses“ kompromißlerisch verallgemeinert, von der „öffentlichen Meinung“ in die Abteilung Politik „kommuniziert“ und so in verbindliche „Entscheidungen“ transformiert. Wahr ist das Gegenteil. Jede rationelle Diskussion, jeder Streit, der mit Argumenten auf Einigung zielt, verträgt sich nicht mit dem Recht auf und der Freiheit zur gleichgültigen Meinungsäußerung. Das, was gilt, was verbindlich ist, muß im Reich der Meinungsfreiheit von außen kommen. Und so sieht die sog. „öffentliche Meinung“ dann auch aus: Das Gewicht einer Verlautbarung folgt allein aus der Machtposition dessen, der sie vertritt, und die Medien sind die Tribüne der – gewählten, freilich – Machthaber. Die haben „etwas zu sagen“, nicht weil sie so gut argumentieren, sondern weil das, was sie sagen, Machtworten gleichkommt oder solche ankündigt oder sie schönredet. In der bürgerlichen Öffentlichkeit zählen nicht Argumente, sondern umgekehrt: Das was die Machthaber absondern, gilt hierzulande als Argument. Wer es nicht glauben mag: diesbezügliche Einwände werden gern aufgegriffen und beantwortet.

Auf Basis der Machtlage darf und soll jedermann über Gott und die Welt und die eigene Position in ihr eine Meinung haben, also unter der Prämisse, dass praktisch das gilt, was erlaubt ist oder verlangt wird: Eine Meinung über Betriebsstillegungen, Entlassungen, Pensionsreformen, Kriege etc. soll sein – gültig, maßgeblich, relevant ist das Recht der Eigentümer und die Macht der Gesetzgeber. Das Recht auf die kritische Meinung ist das Recht auf folgenloses Anspruchsdenken. Es ist ein Recht auf Unzufriedenheit, weil im Reich der marktwirtschaftlichen Freiheit eben das Dürfen anerkannt ist – das Bedürfnisse-Haben und Interessen-Haben ist erlaubt –, aber deren Befriedigung, deren zum-Zug-kommen geht den Staat nichts an; insofern gehört Frust und Verdruß einfach dazu, sind integraler Bestandteil des „Lebens“ in und mit der Marktwirtschaft; der Staat läßt sich gar nicht an der Befriedigung der Bürger, an deren Nutzen messen – und das, was dazu gehört, der Schaden, darf von diesen Bürgern sogar als fordernde Unzufriedenheit vorgebracht werden! Unzufriedenheit ist ständige Regel, und weil Kritik immerhin erlaubt ist, steht durch ihre Zulassung für die Anhänger der besten aller möglichen Welten bekanntlich schon wieder fest, dass der Staat sie nicht verdient, sondern Dankbarkeit dafür, dass er einem zum Schaden nicht auch noch das Schweigen verordnet!

Wenn alle divergierenden Meinungen gleichermaßen gelten sollen, dann gilt keine. Dann gilt eben das, was von oben erlaubt und befohlen wird. Begründete Zustimmung und Mitmachen oder eine begründete Verweigerung und deswegen praktische Absenz: Beides findet nicht statt unter der Obhut eines Staates der sagt: „Die Leute können reden, so viel sie wollen. Das, was tatsächlich in dieser Gesellschaft durchgesetzt wird, ist von den Meinungsäußerungen im Prinzip unabhängig.“ Ausgeschlossen ist damit auch eine Verständigung und Vereinheitlichung per Diskussion und Argument: so eine Veranstaltung ist ihrer Natur nach anti-meinungsfreiheitlich, weil sie falsches Zeug widerlegen und damit eliminieren will.

Die demokratische Öffentlichkeit oder die 4. Gewalt

Das Meinungsbilden bleibt in der Demokratie nicht den Bürgern und deren Sorgen allein überlassen, es gibt (wir erinnern uns: genehmigungspflichtige) Anstalten, die das zu ihrer Aufgabe gemacht haben. Der fundamentale Unterschied zur Diktatur liegt nun nicht im schrankenlosen demokratischen Liberalismus gegenüber unliebsamer Meinungen, denn die Meinungen sind ja auch in der Demokratie staatlich reguliert bis hin zum Verbot: Aber, und das ist nun endlich der Unterschied, in der Demokratie darf die Regierung so richtig schlecht gemacht werden, da dürfen und sollen die Machthaber von allen Unzufriedenen ziemlich ungehemmt kritisiert werden – und das ist funktional für die Demokratie, weil es in deren Institutionengefüge eine Abteilung gibt, die das ohnehin schon als ihre Aufgabe betreibt: die sogenannte Opposition. Sogenannt deswegen, weil es sich sachlich gesehen um eine Reservemannschaft handelt, die gewissermaßen auf der Spielerbank sitzt und auf ihren Einsatz wartet, um sofort das Werk der jeweiligen Regierung fortzusetzen – und nicht, um etwas dagegen zu unternehmen. Und nur aus diesem Übereifer, weil sie das Regieren kaum erwarten kann, ist eine demokratische Opposition so ziemlich gegen alles, was die jeweilige Regierung macht. So wird die Unzufriedenheit von der Demokratie und für die Demokratie produktiv gemacht; sie ist gestattet, sie soll sich äußern und sie soll als einzige praktische Konsequenz im Ankreuzen einer der staatstragenden Parteien münden.

Sobald es sich nicht so verhält wie in den gefestigten Demokratien, wo sich die Parteien an der Macht abwechseln, und höchstens darum konkurrieren, wie eine etablierte und allseits geteilte Staatsräson am Besten, und vor allem, von wem sie am Besten zu exekutieren ist – wenn tatsächlich die Ausrichtung des Staates und seine Prinzipien, die ganze Staatsräson umkämpft sind, dann ist nicht nur das Wählen, sondern auch die öffentliche Meinung anders organisiert. Ein Beispiel: Im Zuge der Bewältigung der Wahlen in Weißrußland, wo der vom Westen verlangte Machtwechsel wieder nicht oder noch stattgefunden hat, da hat die US-Botschafterin bei der OSZE, (Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa) folgendes bemerkt: „Reguläre Wahlen haben Regeln – es geht dabei nicht nur um den Wahltag, sondern auch um die Monate davor: Redefreiheit, Versammlungsfreiheit, Zugang zu Medien – das gab es nicht. Oppositionelle wurden verhaftet. ... Die Wende wird es erst in einigen Jahren geben. Die Zeit dafür ist noch nicht da. Es gibt sehr viele Leute, die das System stützen. Das Land hat keine schlechte Wirtschaft. Die Leute haben zu essen und ein Dach über dem Kopf. Sie haben den Punkt, an dem es nicht mehr weitergeht, noch nicht erreicht. ... Lukaschenko wird nicht geschlagen werden.“ (Julie Finley, Kurier vom 20.3.06)

Das sind bemerkenswerte Auskünfte: Lukaschenko brauchte die Wahlen gar nicht übermäßig zu manipulieren, sagt die Amerikanerin. Den Leuten in Weißrußland geht es zu gut, als dass sie verläßlich für den Westen stimmen würden. Es geht ihnen übrigens wirklich besser als in der näheren Umgebung, etwa als in der Ukraine – das liegt daran, dass sich Weißrußland unter Lukaschenko den radikalen marktwirtschaftlichen Reformen und der Anbindung an den Westen verweigert hat, sondern versucht, das alte Wirtschaftssystem modifiziert fortzusetzen. Es ist auch bemerkenswert, wie sich diese US-Botschafterin den Weg einer ehemaligen Sowjetrepublik nach Westen vorstellt: Zuerst soll eine Regierung durch marktwirtschaftliche Reformen die Wirtschaft dezimieren, und wenn dann nichts mehr weitergeht und die Leute wenig zu essen und kein gescheites Dach über dem Kopf haben, dann sollen sie endgültig für den Grund ihrer Verelendung, für die Unterwerfung unter den Markt und für den Anschluß an die EU stimmen?! Weil also in Weißrußland tatsächlich die Staatsräson umstritten ist, weil die Frage auf der Tagesordnung steht, ob sich das Land mehr nach Westen oder mehr auf Rußland orientiert und wie es mit der Wirtschaft weitergeht, weil es eine systemfeindliche Opposition gibt, die auf den Westen setzt, deswegen gestaltet sich die Parteienkonkurrenz und deswegen auch die öffentliche Meinung ein wenig anders als hier im Westen, wo es in der Wahl um so ausnehmend spannende Personalentscheidungen wie „Schröder oder Merkel“ bzw. „Schüssel oder Gusenbauer“ geht, und um sonst nichts. In einer Hinsicht hat die US-Botschaftern nämlich völlig recht – wenn sie die Rede- und Versammlungsfreiheit und die pluralistische, vielstimmige Medienlandschaft mit der größten Selbstverständlichkeit als Zulieferbetriebe für die politischen Parteien, als nützliche Mittel der Machthaber in deren Eigenschaft als konkurrierende Parteien darstellt, in dem sich der Politiker bewegt wie der Fisch im Wasser. Genau darin erfüllt sich die Meinungsfreiheit.

Im kodifizierten Menschenrecht auf Meinungsfreiheit kommt das nationale Interesse, die jeweilige Staatsräson noch als Schranke der Meinungsfreiheit daher, die deswegen Einschränkungen oder Strafdrohungen zu unterwerfen ist. Noch einmal die oben zitierte Passage:

Da die Ausübung dieser Freiheiten Pflichten und Verantwortung mit sich bringt, kann sie bestimmten, vom Gesetz vorgesehenen Formvorschriften, Bedingungen, Einschränkungen oder Strafdrohungen unterworfen werden, wie sie in einer demokratischen Gesellschaft im Interesse der nationalen Sicherheit, der territorialen Unversehrtheit oder der öffentlichen Sicherheit, der Aufrechterhaltung der Ordnung und der Verbrechensverhütung, des Schutzes der Gesundheit und der Moral, des Schutzes des guten Rufes oder der Rechte anderer notwendig sind, um die Verbreitung von vertraulichen Nachrichten zu verhindern oder das Ansehen und die Unparteilichkeit der Rechtsprechung zu gewährleisten.

Das Menschenrecht geht nicht von der Selbstverständlichkeit aus, dass alle gesellschaftlichen Interessen, alle Wünsche, Beschwerden und Ansprüche vorn vornherein mit der „nationalen Sicherheit, der öffentlichen Sicherheit, der Ordnung und der Moral“ etc. problemlos vereinbar und verträglich sind. Der Menschenrechts-Artikel unterstellt jede Menge Gegensätze zwischen der Staatsräson und vielem, was einem Bürger so durch den Kopf gehen könnte, der mit der freien Marktwirtschaft zurechtkommen muß, und der demokratische Rechtsstaat legt fest, dass in diesem Fall nicht mit Diskussion und Argument gekontert wird, sondern mit Polizei und Gericht.

Wenn aber umgekehrt in der öffentlichen Meinung, in der politischen Kultur eines Landes und in den Medien die Staatsräson und das Interesse der Nation gar nicht als Schranke vorkommt, weil Politiker und Journalisten von vornherein – pluralistisch, kritisch und vielfältig – nur mehr darüber streiten, wie und von wem die Sache der Nation, die nationale Sicherheit, die öffentliche Ordnung und die Moral am Besten zu befördern sind, wenn also diese gesetzliche Schranke des Meinens gar nicht als Schranke wirkt, weil sie den positiven Bezugspunkt, das Objekt der Sorge jeder Meinungsbildung bildet, wenn allen Meinungsbildnern selbstverständlich ist, dass sich alle gesellschaftlichen Interessen zu unterwerfen haben, wenn Proteste wie gegen die Pensionsreformen hier oder gegen die Hartz-4 Gesetze in Deutschland schon von den medialen Wachhunden der Demokratie verbal niedergebügelt werden – dann herrscht Meinungsfreiheit und eine Zensur braucht nicht stattzufinden.



1 Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten

Abgeschlossen in Rom am 4. November 1950