GEGENARGUMENTE

"Gammelfleisch": Worüber der "Geiz ist geil"-Konsument sich nicht wundern darf

Darauf ist Verlass: Alle paar Monate gibt es einen Lebensmittelskandal – jüngste Ausgabe: das "Gammelfleisch".

"Verdorbenes Hackfleisch, stinkende Döner, schlieriges Roastbeef, angegammeltes Putenhack, Abfälle aus der Geflügelzucht – die Meldungen über das, was die Deutschen nichts ahnend Tag für Tag verspeisen, wurden immer ekliger. Tonnenweise hatten dubiose Firmen Gammelfleisch über die Republik verteilt." (Der Spiegel, 28.11.05)

Verlass ist auch auf das Schema, wie ein solcher Skandal abgehandelt und abgehakt wird: Da ist etwas passiert, was zum System der freien Marktwirtschaft eigentlich nicht dazugehört – es handelt sich um Ausrutscher, Ausnahmen, ist letztlich immer auf menschliche Schwächen und Verfehlungen zurückzuführen. Diese Verfehlungen werden dann entweder verdammt, nämlich als übertriebene Profitgier, durch die sich die "schwarzen Schafe" der Branche, die "dubiosen Firmen", auszeichnen, sie sind auf die kriminelle Energie einzelner schlechter Menschen zurückzuführen – dürfen also mit dem regulären und ehrlichen Profitmachen nicht verwechselt werden. Oder sie treffen auf ziemlich großes Verständnis, werden entschuldigt mit dem Konkurrenzdruck, unter dem die Kapitalisten stehen und dem sie sich nicht entziehen können:

"Die Gefahr krimineller Machenschaften wächst, seit Anbieter aus Osteuropa mit Billigprodukten auf den Markt drängen und deutsche Qualitätsware keine Abnehmer mehr findet... Die Schlachtereien aber müssen aus Kostengründen die Tierkörper fast zu 100 Prozent verwerten. Nur lassen sich viele Tierteile schwer vermarkten. 'Das ist die logische Konsequenz des Preiskampfes', sagt Martin Fuchs, Hauptgeschäftsführer des Deutschen Fleischerverbands, 'die Margen sind so gering, dass es nicht mehr drin ist, Ware einfach wegzuschmeißen.' Also gibt es Spezialfirmen, die mit allem handeln, was so liegen bleibt."(Der Spiegel, ebd.)

Anständige deutsche Fleischproduzenten und -vermarkter sind also einem Dilemma ausgesetzt: "Eigentlich" wollen sie gar nicht auch noch den letzten Dreck verwerten und zu Geld machen, aber wenn "Anbieter aus Osteuropa" und "der Preiskampf"... – was bleibt ihnen dann übrig? Die Unternehmer sind also Sachzwängen unterworfen, denen sie sich beugen müssen, wenn sie nicht aus dem Markt fliegen wollen. Um dieses Verständnis für den mit dem Markt ringenden Unternehmer zu entwickeln, muss man freilich das System der freien Marktwirtschaft ziemlich gründlich auf den Kopf stellen. Man muss einfach mal vergessen, dass es das Interesse des Unternehmers ist, Profit zu erzielen. Und man muss stattdessen den Unsinn glauben, dass der Unternehmer ein Opfer des "Preiskampfes" ist, und darüber hinwegsehen, dass es diesen "Preiskampf" doch überhaupt nur gibt, weil ihn die Unternehmer sich wechselseitig aufherrschen. Und wie setzt ein Unternehmer sich in diesem "Preiskampf" durch? Indem er ihn dadurch für sich entscheidet, dass er mit seinem Preis den seiner Konkurrenten, auch den der "Anbieter aus dem Osten", unterbietet und so seinen Profit macht.

Zur Skandalbewältigung gehört auch der Ruf nach dem Staat, genauer: nach staatlichen Kontrollen. Dass die immer nur etwas kontrollieren, was es gibt, eben die kapitalistischen "Machenschaften", dass Kontrollen die "Machenschaften" nie unterbinden, vielmehr von deren beständigen Auftauchen ausgehen, regt niemanden auf. Aber seinen Geschäftsleuten mehr auf die Finger schauen und dann auch früher auf dieselben klopfen, das sollte der Staat schon. Allerdings stellt sich im nächsten Moment heraus, dass auch er in einem Dilemma steckt. Übertreibt er es mit seinen Kontrollen, macht er dem angesehenen Stand des Unternehmers das Leben so schwer, dass der Staat – der schließlich auf den Erfolg dieses Standes so großen Wert legt, wenn nicht gar davon abhängig ist – sich selbst schadet:

"Um die Kontrollen tatsächlich wirksamer zu machen, müssten sie vielmehr einer neuen Logik gehorchen: Zurzeit kontrollieren nämlich ausgerechnet die kommunalen Veterinäruntersuchungsämter die Schlachthöfe. Interessenkollisionen sind da programmiert. Ein Kreisveterinär, der den möglicherweise größten Gewerbesteuerzahler seiner Gemeinde genauer als üblich inspiziert, muss jedenfalls ein mutiger Mensch sein." (Die Zeit, 1.12.)

Und dann darf man auch nicht vergessen: Der moderne, der "schlanke" Staat soll bekanntlich "Bürokratie abbauen" und sein Geld zusammenhalten – und das trifft nun mal auch das Kontrollwesen:

"Mehr Geld zum Beispiel für mehr Kontrolleure wollen die meisten Länder nicht ausgeben, manche, wie Bayern, haben in diesem Bereich Personal abgebaut."(SZ, 9.12.)

Bleibt schließlich nur noch einer, der dem Spuk eine Ende machen könnte – der Konsument. Der ist nämlich zu einem Gutteil, wenn nicht überhaupt, dafür verantwortlich, dass die Fleischproduzenten tun, was sie tun:

"Allerdings hat dies auch eine Menge mit der um sich greifenden 'Geiz-ist-geil'-Mentalität zu tun. Zwar sollen nun nicht die 'Opfer' des Fleischskandals zu Tätern stilisiert werden. Doch lohnt es schon das Nachdenken, wie Bauern, Schlachter und Händler noch Geld verdienen sollen, wenn Käufer vor allem Schnäppchen jagen. Qualität hat auch ihren Preis."(Kölnische Rundschau, 30.11.)

Die WDR-Talkshow "Hart, aber fair" widmet ihre Sendung am 7.12. dem Thema: "Gammelfleisch zum Schnäppchenpreis: Kriegen wir den Geizhals nicht voll?" und die FAZ sieht "die Händler in verzweifelter Abwehrschlacht gegen die Verführungen einer 'Geiz ist geil'-Mentalität." (FAZ.net, 9.12.)

Das Thema ist so alt wie der Kapitalismus selbst: Mit seinem "Kaufverhalten" übt "König Kunde" den entscheidenden Einfluss auf die Warenanbieter aus, kann – so im aktuellen Beispiel – den Händlern ihre "verzweifelte Abwehrschlacht" ersparen und den "Machenschaften" unsauberer Geschäftsleute die Grundlage entziehen, wenn er nur sein "Kaufverhalten" ändert und für das Fleisch mehr Geld hinlegt. Das ist das passende Gegenstück zu der Ideologie, dass die Unternehmer lauter Sachzwängen unterworfen und Opfer des "Preiskampfes" sind – der Konsument hingegen hat die Freiheit der Wahl. Es stimmt: Der Konsument kann sich tatsächlich entscheiden, ob er sich mit mehr Geld bessere oder mit weniger Geld schlechtere Ware kauft. Aber bei aller Begeisterung über diese Freiheit: Dieses Sich-Entscheiden-Können ist doch zugleich ein Sich-Entscheiden-Müssen. So wahl-frei der Konsument auch sein mag, so beschränkt ist auch sein Budget – und der Freiheit zum Kauf einer Ware steht immer der Verzicht auf eine andere gegenüber. Mit dem Werbespruch "Geiz ist geil" kann man sich das zwar als Lifestyle verklickern lassen, deswegen verschwindet aber nicht der Zwang, sich beständig einteilen und sehr gründlich überlegen zu müssen, welchen Bestandteil aus der großen bunten Warenwelt man sich leisten kann und welchen dann eben nicht. Und die Lebenslage der allermeisten Konsumenten bewegt sie dann schließlich sogar dazu, das Bedürfnis nach einer anständigen Ernährung hintanzustellen, bis hin zur Gesundheitsschädigung – aber trotzdem stimmt es: Unsere Marktwirtschaft stellt einem jeden frei, wie er sich einteilt

So kann der Konsument zwar frei mit seinem Budget umgehen, aber dieses zeigt seiner Freiheit noch allemal ihre Grenzen auf. Noch schlechter schaut es mit der angeblichen Macht des Konsumenten gegenüber dem Produzenten aus. Ginge es wirklich nach dem Käuferinteresse, dann müssten die Nahrungsmittel ja zugleich billig und gut sein. Dem Käufer wird aber nur die Alternative "Billig, aber schlecht" oder "Teuer, aber gut" geboten, und die steht darum so ehern fest, weil Waren nur nach Maßgabe des Profits, der mit ihnen zu erzielen ist, auf den Markt kommen, und nicht nach den Wünschen des Konsumenten. Auch wenn das Schlagwort "Kundenorientierung" heutzutage so beliebt ist: Waren gibt es, weil und sofern bei ihrem Verkauf ein Profit herausspringt, und nicht, weil der Konsument sie bestellt hätte. Unternehmer ist man nicht deswegen, um die Bedürfnisse der Kundschaft zu befriedigen; die "Kundenorientierung" des Unternehmers besteht ausschließlich darin, deren Zahlungsfähigkeit – in Konkurrenz zu anderen Unternehmern – in seinen Gewinntopf hinein zu "orientieren". Besonders billige und besonders schlechte Nahrungsmittel – was sich die Konsumenten garantiert nicht bestellt haben – gibt es, weil große Lebensmittelkonzerne und Handelsketten sich die Wahlfreiheit des Konsumenten, also dessen Not, sich entscheiden zu müssen, zunutze machen: Sie drücken den Preis hinunter, indem sie Lebensmittel immer industrieller und unter Verwertung noch des letzten Ausschusses herstellen; damit drücken sie zwar auch ihre Gewinnmargen hinunter, aber durch den dann wachsenden Umsatz, den sie den Konkurrenten mit den höheren Preisen wegnehmen, stellen sich die Profite ein, auf die es ihnen ankommt. Mit ihren Billigstprodukten bewähren sie sich im Konkurrenzkampf, indem sie dem beschränkten Budget des Konsumenten Sonderangebote unterbreiten – nach der "Logik" des Profits hat dieser Konsument dafür freilich in Kauf zu nehmen, dass er sich schlechte oder auch gesundheitsschädliche Ware einhandelt. Die Ideologie vom "Kunden als König" ist dazu wie der Spott, für den man nicht mehr zu sorgen braucht, wenn man den Schaden hat.