GEGENARGUMENTE

Nach den Wahlen in Israel:
Wie die Große Koalition der "gemäßigten" Kräfte in Jerusalem einseitig die Vergrößerung Israels erzwingen will

Bei den Wahlen in Israel Ende März sollen sich mit dem Sieg der Kadima-Partei die "gemäßigten" Politiker durchgesetzt haben: Eine ausreichende Wählermehrheit stimmte damit für Olmerts "Konvergenz-Plan", der eine Konsolidierung des israelischen Staates neben palästinensischen Territorien vorsieht, die durch unüberwindliche Grenzanlagen abgetrennt und aus der israelischen Besatzung entlassen werden sollen. Wie schon Scharon fügt sich die neue Regierung formell Amerikas Ordnungsvorstellungen von "zwei lebensfähigen Staaten nebeneinander" – Israel und Palästina –, wobei das palästinensische Staatswesen nur sehr bedingt souverän sein wird, weil es den israelischen Sicherheitsbedürfnissen unterworfen bleibt.

Die Wahl beantwortet die Frage, die das jüdische Volk spaltet, ob Israel auf seinem zionistischen Anspruch auf das ganze biblische Palästina besteht oder ob es ein von ihm abhängiges und kontrolliertes palästinensisches Gemeinwesen in möglichst engen Grenzen duldet, um endlich ein "normaler Staat" zu werden. Regierungschef Olmert nennt die von ihm angestrebte zweite Alternative "Realismus":

"Meines Erachtens ist das ganze Gebiet zwischen dem Jordan und dem Meer integraler Bestandteil unseres Landes. … Aber die Realität ist bisweilen komplex. … Deshalb steht die Entscheidung an, ob Israels Identität als Judenstaat verloren geht, oder ob man ein Stück Land preisgeben muss, damit Israel ein jüdischer Staat bleibt." (Haaretz, 27.4.)

Die neue Regierung gibt den fundamentalistischen Anspruch, ganz Palästina in Besitz zu nehmen, also nicht grundsätzlich auf. Dessen Realisierung stehen allerdings die westlich des Jordans lebenden arabischen Palästinenser buchstäblich im Wege; denn Nichtjuden passen nicht zum Konzept Israels als einer Heimstatt für Juden, also eines möglichst rein-jüdischen Staates. Wenn ein araberfreies Westjordanland aber selbst in den Zeiten von Bushs Antiterrorkrieg nicht zu erreichen ist, will Olmert lieber auf einen Teil des "gelobten Landes" verzichten und ihn den arabischen Palästinensern als Reservat zuweisen, als mit der Annexion des gesamten Gebietes auch die dort lebenden Fremdstämmigen und Andersgläubigen einzugemeinden. Mit dieser einseitig angestrebten staatsrechtlichen Lösung will der jüdische Staat seinen gegenwärtigen Status verbessern, soweit es die USA zulassen und unterstützen:

"Die Grenzen Israels, die sich in den kommenden Jahren herausbilden [!] werden, werden sich deutlich vom heutigen israelischen Territorium unterscheiden." (Olmert in seiner Antrittsrede vor der Knesset.)

Dafür soll möglichst noch 2006 die Mauer im Westjordanland fertig gestellt und in dieser Legislaturperiode als (provisorische) Staatsgrenze international durchgesetzt werden. Durch die Einbeziehung der großen Siedlungsblöcke um Jerusalem herum und den Bau der Sicherheitsanlagen auf palästinensischem Gebiet plant Israel, über 40 Prozent des besetzten Territoriums zu annektieren; zudem soll Ostjerusalem endgültig Bestandteil "unserer vereinigten Hauptstadt" (Olmert) werden; schließlich beansprucht Israel auch das Jordan-Tal für sich, um die Ostgrenze zu Jordanien zu kontrollieren.

"Der Sicherheitszaun wird an die im Osten und Westen festgelegten Grenzen angepasst. Der Aktionsradius unserer Sicherheitskräfte wird nicht begrenzt werden, sondern wird sich der Sicherheitslage anpassen, mit der wir es zu tun haben." (Olmert, ebenda.)

Mit der hermetischen Grenze zu den Palästinensergebieten will die neue Regierung den Krieg gegen die Palästinenser, von dessen Fortdauer Israel ausgeht, aus dem Staatsgebiet Israels hinausverlagern. Aus Sicherheitsgründen sollen die 70 000 Siedler, die derzeit noch außerhalb des Befestigungsrings wohnen, in die noch auszubauenden Großsiedlungen innerhalb des Mauerrings umgesiedelt werden. Israels Armee soll sich aus den besetzten Gebieten zurückziehen, um, wenn immer es geboten erscheint, vom sicheren israelischen Staatsgebiet aus "terroristische Ziele" in den Palästinenser-Gebieten angreifen zu können.

"Wir haben nicht die Absicht, allein vorzugehen. Wir werden konsultieren, diskutieren, reden, und ich bin sicher, dass wir Übereinkünfte erzielen werden, die eine breite Basis internationaler Unterstützung für unsere Maßnahmen schaffen, zuerst und vor allem mit unserem Verbündeten und engen Freund, den Vereinigten Staaten unter Präsident Bush, und ebenfalls mit unseren Freunden in Europa." (Olmert, ebenda.)

Die Führung in Jerusalem will zwar nicht alleine handeln, aber ohne die Palästinenser, die nach den Oslo-Verträgen und der "Roadmap" über die "Endstatus"-Fragen gleichberechtigt mitverhandeln sollten. Sie will einseitig – nur in Absprache mit den USA und deren Verbündeten – den Status Israels und der palästinensischen Gebiete festlegen. Nicht zuletzt, um eine für Israel noch günstigere Lösung offen zu halten, will Jerusalem nur ein stabiles Provisorium schaffen. Die Verpflichtung zu Endstatus-Gesprächen über eine abschließende, völkerrechtlich verbindliche Regelung der Palästinafrage, soll damit endgültig vom Tisch. Olmert hofft nicht nur auf das Plazet der USA zu seinem Konvergenz-Plan, das Israels Regelungen internationale Verbindlichkeit geben würde und das Bush mittlerweile während Olmerts jüngstem Besuch in Washington in Aussicht gestellt hat, sondern auch auf großzügige US-Beihilfen, weil dieses Projekt Israels finanzielle Möglichkeiten bei weitem überfordert. Zudem liegt ihm daran, dass Amerika auf die maßgeblichen arabischen Staaten einwirkt, diese Lösung der Palästinenserfrage nicht nur hinzunehmen, sondern auch noch mit der Normalisierung ihrer Beziehungen zu Israel zu honorieren. Wie schon sein Amtsvorgänger Scharon hält Olmert die fast uneingeschränkt positive Haltung der derzeitigen US-Regierung zu Israel für eine "einzigartige Chance" und will darum das Projekt bis zum Ende von Bushs Amtszeit durchgesetzt und abgesegnet haben.

Fürs Erste will der israelische Regierungschef die Zustimmung der Weltordnungsmächte zu seinem einseitigen Vorgehen erreichen. Zweitens will er dafür sorgen, dass das Palästinenser-Ghetto jenseits der israelischen Grenzen keinesfalls ein lebensfähiges politisches Gebilde wird, um so der Bevölkerung jede Hoffnung auf aushaltbare Lebensbedingungen in den Territorien auszutreiben. Drittens tut er alles dafür, die USA davon zu überzeugen, dass jeglicher Versuch, ein palästinensisches Gemeinwesen neben Israel zu etablieren, notwendig die Gefahr des Terrorismus im Nahen Osten erhöhe.

Dafür bemüht sich Israel um immer neue Beweise, dass es auf palästinensischer Seite "keinen Friedenspartner" habe, also gezwungen sei, einseitige Schritte zu unternehmen, solange die neu gewählte Hamas-Regierung sich weigert, ohne israelische Gegenleistung das Existenzrecht des jüdischen Staates anzuerkennen, jeglichen Widerstand zu entwaffnen und in Verhandlungen einzutreten. Gegenüber dem PLO-Präsidenten Abbas, der sich als Alternative zur Hamas-Regierung anbietet und von den USA als vertrauenswürdiger Politiker anempfohlen wird, verfährt Olmert nach dem erfolgreichen Vorbild Scharons: Abbas‘ Forderung nach "vertrauensbildenden Maßnahmen" mittels Einlösung der israelischen Verpflichtungen aus der Roadmap – Siedlungsstopp, Einstellung des Mauerbaus, Erleichterung der Lebensverhältnisse, Einrichtung sicherer Passagen zwischen Westjordanland und Gazastreifen, Freilassung von Gefangenen, Einstellung der Liquidierungsaktionen – werden zurückgewiesen. Stattdessen beharrt Israel auf seinem unverhandelbaren Katalog der Vorbedingungen für jegliche Verhandlung: Zerstörung der "Infrastruktur des Terrors", Entwaffnung der Milizen und Einstellung anti-israelischer Agitation. Jetzt kommt noch die Aufforderung zum Sturz der Hamas-Regierung hinzu. Olmert weiß genau, dass der Palästinenser-Präsident, selbst wenn er diese Kapitulationsforderungen akzeptierte, gar nicht die Macht hat, sie durchzusetzen. Die Unerfüllbarkeit der Bedingungen ist gerade Bestandteil der Taktik Jerusalems, zu zeigen, dass auch Abbas nicht die Lösung, sondern selbst Teil des palästinensischen Terrorismus-Problems sei.

Mit den Militäraktionen ("außergerichtlichen Tötungen", Razzien und Massenverhaftungen) und Sicherheitsmaßnahmen (Vervielfachung der Straßensperren im Westjordanland, Einrichtung einer kilometerbreiten Todeszone im Gazastreifen als Reaktion auf die Angriffe durch Kassam-Raketen, immer häufigere totale Abriegelung der besetzten Gebiete) untergräbt Israel jedes normale Leben im Westjordanland und erstickt Hoffnungen im Gazastreifen, nach dem Rückzug der israelischen Besatzer würden sich die Lebensverhältnisse bessern. Nach dem Wahlsieg der Hamas erklärte die Regierung Olmert, dass sie die palästinensische Autonomieverwaltung jetzt als "Terrorregime" ansieht und eine Bevölkerung, die diese Führung gewählt hat, dafür büßen soll. Was ein israelischer Minister zynisch "den Palästinensern eine Diät verordnen" nennt, sieht praktisch so aus, dass nicht nur die Staatsbediensteten keine Gehälter ausgezahlt bekommen, weil Israel die palästinensischen Zoll- und Steuereinnahmen einbehält, sondern dass auch die Versorgung mit dem Lebensnotwendigen zeitweise unterbunden bzw. dauerhaft drastisch reduziert wird. Die israelische Armee macht die Grenzen zum Gazastreifen und den besetzten Gebieten nach Belieben dicht, so dass der Import von Nahrungsmitteln, medizinischen und sonstigen lebenswichtigen Gütern zeitweise ganz unterbrochen, ansonsten auf ein unerträgliches Minimum reduziert wird.

Die ohnehin mit wenig Nachdruck vorgetragenen Appelle der US-Regierung, die humanitäre Situation in den palästinensischen Gebieten nicht noch mehr zuzuspitzen, kontert die israelische Regierung regelmäßig mit ihrer Verantwortung für die Sicherheit der eigenen Bürger. Selbstmordanschläge und Angriffe mit Kassam-Raketen kommen da wie gerufen als Beweis, dass die Sicherheitslage sich trotz Mauerbau und Rückzug aus dem Gazastreifen nicht grundlegend gebessert habe. Im Gegenteil, der Streit zwischen Fatah und Hamas, der nicht zuletzt wegen des Vorgehens der israelischen Armee angeheizt wird, belegt für die Regierung Olmert, dass die Palästinenser nicht in der Lage seien, ein geordnetes Gemeinwesen zu organisieren. Das dort herrschende Chaos sei der beste Beweis dafür, dass die Palästinenser insgesamt ein terroristischer Sumpf seien, Bushs Vision eines "friedlichen Nebeneinander zweier Staaten" sei also eine gefährliche Illusion.

Demokratisierung des Nahen Ostens auf US-Amerikanisch:
Frei gewählt – ungenügend!
Die Palästinenser haben die Falschen gewählt!

In den Palästinensergebieten haben die Wähler die bisher regierende Fatah abgewählt und mehrheitlich für die Hamas votiert, in deren Augen sich der Oslo-Prozess [*] als Sackgasse und Aufgabe aller nationalen Interessen der Palästinenser erwiesen hat.

- "Palästinensische Autonomie" hat nämlich nie bedeutet, dass die Autonomiebehörde (PA) die Macht im eigenen Land über eigene Bürger ausüben kann. Als Besatzungsmacht bleibt Israel stets präsent, verfügt eigenmächtig über das palästinensische Territorium (Annexion, Siedlungsbau, militärische Stützpunkte, Mauerbau, Einrichtung von Sperrzonen und Straßensperren etc.), regelt die Außenbeziehungen (Überwachung der Grenzen, Verweigerung eines Hafens und Flughafens) und behält sich jeden Zugriff auf die palästinensische Bevölkerung (Razzien, Verhaftungen, gezielte Tötung, Deportation) vor. Die israelische Armee behandelt selbst die palästinensischen Sicherheitskräfte wie Terroristen, wenn sie ihren Aktionen im Weg sind.

– Finanziell ist die PA einerseits von den Zahlungen der Gebernationen (insbesondere USA und EU) abhängig, andererseits von der Bereitschaft Israels, die Abgaben, die es von den Palästinensern eintreibt, und die Zölle an die Führung in Ramallah abzuführen. Von einer ökonomischen Entwicklung kann in den besetzten Gebieten keine Rede sein. Die Ausfuhr landwirtschaftlicher Produkte wird weitgehend durch das israelische Grenzregime unmöglich gemacht; Arbeitern wird der Zugang zu ihren Arbeitsplätzen in Israel verboten; der Großteil der Bevölkerung wird vom UN-Flüchtlingswerk notdürftig versorgt.

– Von Anfang an schlug sich die PLO mit dem Widerspruch herum, dass Widerstand gegen die Besatzungsmacht das einzige Druckmittel der Palästinenser ist, zugleich aber Israel und den USA den Vorwand liefert, jedes Eingehen auf ihre Forderungen abzulehnen und den Antiterrorkrieg in den besetzten Gebieten fortzusetzen. Der Streit, was der effektivere Weg ist, ein eigenes Staatswesens zu erringen: Kooperation mit der und Unterordnung unter die Besatzungsmacht oder deren Bekämpfung, entzweit nicht nur die verschiedenen Fraktionen innerhalb der PLO. Er ist auch der Grund für die bürgerkriegsträchtige Feindschaft zwischen Fatah und Hamas.

Nach ihrem Wahlsieg sieht sich die Hamas ermächtigt, einen Kurswechsel in der Politik gegenüber Israel und den USA durchzusetzen. Ministerpräsident Ismail Hanija:

"Als Bedingung für eine Anerkennung seines Existenzrechts durch die Hamas muss Israel einen Palästinenserstaat in den Grenzen von 1967 akzeptieren, die palästinensischen Häftlinge freilassen und ein Recht der Flüchtlinge auf Rückkehr nach Israel anerkennen ... Wir werden alle Verträge mit Israel prüfen und uns an jene halten, die im Interesse des palästinensischen Volkes sind. … Wir hegen keine feindseligen Gefühle gegenüber Juden. Wir wollen sie nicht ins Meer werfen. Wir wollen nur unser Land zurück und niemandem Schaden zufügen." (nach NZZ, 26.2.)

Das einzige Zugeständnis des neuen Regierungschefs an Israel ist die Fortsetzung des von der Hamas seit einem Jahr eingehaltenen Waffenstillstands.

"Wenn Israel uns eine Zeit der Ruhe gibt und die Militäroperationen und Attentate stoppt, dann können wir unser Volk überzeugen, die Phase der Ruhe aufrecht zu erhalten. Alles hängt von Israel ab." (ebenda.)

Hamas will sich keinesfalls wie die PLO mit einer formellen Anerkennung wegen Wohlverhaltens abspeisen lassen. Als eigenständige Regierung eines Staates im Werdestatus verlangt sie von Israel, als gleichberechtigter Partner im "Friedensprozess" respektiert zu werden. An die Stelle einseitiger Vorleistungen soll das Prinzip von Leistung und Gegenleistung treten. Bis Israel das akzeptiert und solange es in den besetzten Gebieten Gewalt anwendet, besteht Hamas auf dem gewaltsamen Widerstand gegen die Besatzungsmacht. Darauf will sie alle anderen Palästinenserfraktionen verpflichten und schlug dazu die Bildung einer "Regierung der nationalen Einheit" vor. Die PLO lehnte das ab und verlangt von der Hamas, die Oslo-Verträge und die "Roadmap" zu akzeptieren. Die palästinensischen Wahlen haben somit den Machtkampf zwischen Autonomiebehörde und den Gruppierungen der "Ablehnungsfront", der schon unter Arafat begonnen hat, in den palästinensischen "Staatsapparat" hineingetragen, was die Auseinandersetzungen auf der Straße aufheizt:

– Kaum ist die Regierung Hanija gewählt, verkündet Präsident Abbas, er könne sie gemäß palästinensischer Verfassung jederzeit entlassen, räumt ihr jedoch eine "Probezeit" ein. Er verlangt von der Hamas die Anerkennung des Existenzrechts Israels und aller Vereinbarungen früherer Regierungen. Darüber will er jetzt ein Plebiszit veranstalten. Außerdem fordert er Kompetenzen zurück, die zur Entmachtung Arafats vom Präsidenten auf den Ministerpräsidenten übertragen worden sind: insbesondere die Kontrolle über die Sicherheitsdienste und die Zuständigkeit für die Außenpolitik sowie für die Verhandlungen mit Israel.

Hanija schlägt seinerseits vor, der Präsident solle seine Außenkontakte nutzen, den Boykott der Hamas-Regierung durch Israel und die USA aufzulockern, um die Lebensbedingungen der Palästinenser erträglicher zu gestalten. So gibt es Kompromisse über die Kompetenzfragen, die aber an den grundsätzlich gegensätzlichen Zielen beider Parteien nichts ändern. Während Hanija sich Zeit für die Etablierung seiner Regierung verschaffen will, strebt Abbas den Beweis für seine Position an, dass die Hamas-Regierung die Palästinenser in nur noch größere Schwierigkeiten bringe und darum so schnell wie möglich gestürzt werden müsse.

– Beim Streit um die Kontrolle der Sicherheitsdienste geht es auch um die Frage des Einkommens von einem Viertel der Bevölkerung. Die Fatah-Mitglieder, die bisher das Personal der Polizei stellen, fürchten nicht nur, durch Hamas-Leute ersetzt zu werden. Sie halten sich schon jetzt für Opfer der neuen Regierung, weil wegen des Boykotts durch Israel und die Geberländer keine Löhne ausbezahlt werden. Ministerien und Polizeistationen werden deswegen von ihnen besetzt und bei Schießereien zwischen rivalisierenden Parteien gibt es Tote und Verletzte.

Der Sieg der Hamas kam für die USA überraschend. Schließlich haben sie sich von den Wahlen eine Stärkung von Mahmud Abbas versprochen, den sie im Wahlkampf auch finanziell unterstützten, damit er mit dem Mandat der palästinensischen Wähler endlich die Entwaffnung der militanten Palästinenser einleiten könne. Bush hat aber keine Mühe, diesen Rückschlag richtig einzuordnen:

"Wie Sie wissen, bin ich ein starker Befürworter von Demokratie und freien Wahlen, aber das bedeutet nicht, dass wir gewählte Politiker unterstützen müssen, die sich nicht für den Frieden einsetzen. Die Hamas hat klar gesagt, dass sie das Existenzrecht Israels nicht anerkennt, und ich habe im Gegenzug klar gesagt, dass wir keine Kontakte zur Führung der Hamas unterhalten werden, solange sie diese Politik vertritt. Demokratische Politiker können nicht mit einem Bein im Lager der Demokratie und mit dem anderen im Lager des Terrors stehen. Die Hamas muss die Forderungen der internationalen Gemeinschaft akzeptieren und Israel anerkennen, die Terroristen entwaffnen, den Terrorismus zurückweisen und damit aufhören, den Weg zum Frieden zu versperren."

In dieser Rede vom 4. Mai stellt der US-Präsident die Hamas vor die Alternative, entweder die drei Bedingungen, die das Nahost-Quartett (USA, EU, Russland und UNO) formuliert hat, zu erfüllen: "Bekenntnis zum Existenzrecht Israels, Verzicht auf Gewalt und Anerkennung der geschlossenen Verträge", oder von den USA als Terrorregime behandelt zu werden. Um Druck auf die unerwünschte Regierung auszuüben, setzen die USA die Aussetzung aller Zahlungen der Geberländer durch und verlangen von Abbas bereits geleistete US-Zahlungen, die noch nicht verwendet worden sind, zurück.

Dass die Hamas laut Sprecher Meschaal die "stolze palästinensische Nation" dadurch "nicht erniedrigen" lassen will und islamische und arabische Staaten als Ersatz-Geberländer gewinnt, werten die USA als Angriff auf sich als Ordnungsmacht im Nahen Osten. Schon die verbale Unbotmäßigkeit der Palästinenser-Regierung ist in ihren Augen ein Skandal, der Versuch, unter arabischen Staaten Solidarität und Sympathie für den Widerstand gegen Israel und die USA zu mobilisieren, ein feindseliger Akt und das Hilfeersuchen bei "Schurkenstaaten" wie Syrien und Iran der endgültige Beleg für Terrorismus. Bis zur Kapitulation der Hamas-Regierung will Washington dafür sorgen, dass an die Autonomiebehörde keine Gelder mehr fließen, womit auch der palästinensischen Bevölkerung sämtliche Unterstützungsgelder vorenthalten werden, die sie zum Überleben benötigt.

Die USA wollen die gesamte "Internationale Gemeinschaft" auf ihr Anti-Hamas-Programm als Teil des "Krieges gegen den Terrorismus" verpflichten. Die EU will zwar die Hamas-Regierung gleichfalls zwingen, das Existenzrecht Israels bedingungslos anzuerkennen und sich der Roadmap unterzuordnen. Vorerst schließt sie sich aber der Eskalation der USA und Israels nicht an, die de facto eine Antiterrorkampagne gegen das palästinensische Volk eröffnet haben. Die EU besteht darauf, die harte Linie gegen die Hamas mit einer Nothilfe für die Bevölkerung und der Stärkung der Stellung von Abbas zu verbinden.

Das Nahost-Quartett vertagt schließlich den Streit über den Umgang mit der Hanija-Regierung:

"Das Quartett ist stillschweigend übereingekommen, einen Treuhandfonds einzurichten, aus dem die Gehälter der Mitglieder des palästinensischen öffentlichen Dienstes durch die Behörde des Präsidenten der Palästinensischen Autonomie gezahlt werden." (New York Times, 10. Mai)

Das Volk, das gerade seinen Willen zur neuen Hamas-Obrigkeit bekundet hat, soll seiner frisch gewählten Regierung abspenstig gemacht werden, indem der alle Mittel entzogen werden und damit dem Volk demonstriert wird, dass sein Überleben davon abhängt, dass es eine Regierung wählt, die Israel und den USA genehm ist. Die Palästinenser sollen sich ihren politischen Willen also nicht nur vom großen Nachbarn Israel und den USA diktieren lassen, sondern dies auch noch in künftigen Wahlen als ihren Willen bekunden.


[*] Näheres zum "Oslo-Prozess" und zur "Road Map zum Frieden" findet sich in mehreren Artikeln des GEGENSTANDPUNKT: "Homeland" für Arafat (Nr. 2-1994, S. 137; Israel und die Palästinenserfrage (4-1997, 119); Israels "realistisches" Oslo-Abkommen (4-1999, 156); Gescheiterte Camp-David-Verhandlungen (3-2000, 98); Der Friedensprozess im Nahen Osten (4-2000, 127); Krieg in Palästina (1-2002, 83); Antiterrorkrieg Israels (4-2003, 146); Europas Haltung zu Israel (2-2004, 41)

 

Diese Analysen sind die Kurzfassung des Artikels: »Die Demokratisierung des Nahen Ostens kommt voran: In den Palästinensergebieten und in Israel wird gewählt - die Gewalt eskaliert -die Aufsichtsmächte probieren ein "Nation building" neuen Typs

In: GegenStandpunkt 2-06