GEGENARGUMENTE

Die neueste "Große Gesundheitsreform":

Wie bei möglichst geringen Lohnnebenkosten mit der Volksgesundheit ein gutes Geschäft gemacht werden soll
Die Betreuung eines politisch ins Werk gesetzten Widerspruchs

Seit Jahrzehnten wird im deutschen Gesundheitswesen reformiert: Zur Kostendämpfung wurden Praxisbudgets, Arzneimittelfestpreise und Fallpauschalen im Krankenhaus erfunden. Insbesondere für die Kranken halten diese Reformen immer neue Zumutungen bereit: Zuzahlungen bei Medikamenten und Zahnersatz, Praxisgebühren und laufend steigende Beiträge. Allerdings führt all das Reformieren zu keinem Ergebnis, das wenigstens die Regierenden befriedigen würde. Im Gegenteil: Die große Koalition will wieder einmal "das Gesundheitssystem von Grund auf ändern". Doch das Resultat ihrer ganzen Bemühungen löst schon wieder ein einziges Gejammer aus: eine "Chronik des Totalversagens" konstatiert der Spiegel, die Süddeutschen Zeitung schimpft über "den fehlenden Mut der Koalitionäre" und der ehemalige Gesundheitsminister der CSU orakelt, dass "die Reform keine 2 Jahre halten werde".

Woher rührt bloß diese ganze Unzufriedenheit? – Das liegt zunächst einmal an der 1. Korrekturmaßnahme der Koalition: Beschlossen wurde die Erhöhung der Kassenbeiträge für 2007 um 0,5 %. Es wird also wieder einmal der Beitrag erhöht, um "Löcher im Krankenkassenbudget" zu stopfen. Natürlich ist für die Reformer dabei nicht das Problem, dass der beschlagnahmte Lohnanteil das Nettoeinkommen der Lohnabhängigen schmälert, sondern dass die Lohnkosten durch die Sozialabgaben verteuert werden – und das wegen des 50%igen Arbeitgeberanteils auch noch mit jeder Steigerung der Krankenkassenbeiträge automatisch. Gerade in Zeiten, in denen infolge von Arbeitslosigkeit und sinkenden Löhnen das Beitragsaufkommen der Krankenkassen immer weiter schrumpft, soll eigentlich vermieden werden, mit Erhöhungen der Beitragssätze das Minus beim Beitragsaufkommen zu decken. Die Politik will die Kosten der Arbeit schließlich senken, um dadurch den Wirtschaftsstandort zu stärken und den Einsatz von Arbeit in Deutschland für Unternehmer lohnender zu machen.

Doch die Senkung der Lohnnebenkosten für Unternehmer und der aus Steuern finanzierten Ausgaben hat auch eine andere Seite: Der Finanztopf der Krankenkassen ist die Grundlage für das Geschäft einer blühenden und auf Wachstum angewiesenen Gesundheitsbranche. So weiß der Spiegel zu berichten: "Längst ist die Gesundheitsindustrie der mit Abstand größte Wirtschaftszweig der Republik." (27.06.06)

Angesicht massenhafter Erkrankungen durch Verschleiß am Arbeitsplatz sowie die Vergiftung von Umwelt und Nahrungsmitteln im Sinne der profitablen Nutzung von Land und Leuten durch die Unternehmerschaft hat der deutsche Staat es sich von vornherein zur Aufgabe gemacht, die Herstellung und bedingte Erhaltung der Brauchbarkeit seines Arbeitervolks selbst zu organisieren. Und zwar gleichzeitig als rentable Wirtschaftssphäre, deren Wachstum seitdem vor allem aus den Mitteln der Krankenkassen finanziert wird. Das Resultat ist ein medizinisch, technisch und pharmakologisch hoch entwickeltes Gesundheitswesen, das gesundheitspolitische Vorgaben und kapitalistische Geschäftszwecke gleichermaßen zu erfüllen hat. Das staatliche Medizinwesen hat sich deswegen, bei aller gebotenen Sparsamkeit, keineswegs grundsätzlich für die "billigste Lösung" entschieden. Vielmehr hat sich der Staat mit so viel Geld, wie er dafür gerade für nötig hält, gleichzeitig zum Förderer, Geldbeschaffer und Aufsichtsführenden für und über die florierende Gesundheitsindustrie gemacht. Nicht nur die Pharmakonzerne bedienen sich aus dem Topf der Krankenkassen; auch die Geräteindustrie und die ständisch-kleinunternehmerisch praktizierenden Apotheker und Ärzte sollen sich bereichern dürfen.

Mit eben dieser Organisation des Gesundheitswesens hat sich die Politik das "Dauerproblem" geschaffen, an dem sie voller Eifer herumreformiert. Sie hat zwei einander ausschließende Standpunkte in die Welt gesetzt, an deren Vereinbarkeit zu arbeiten, sie nicht müde wird:

Dieser Widerspruch ist seit jeher der Gegenstand der Gesundheitspolitik im Kapitalismus. Sie erfindet immer neue Konstrukte, die die Vereinbarkeit der beiden gegeneinander stehenden Imperative bewerkstelligen sollen. Dabei tritt z. B. die Senkung der Lohnnebenkosten, also die Kürzung des Beitragsaufkommens, in Gegensatz dazu, dass wegen der bedeutsamen Geschäftserfolge der Gesundheitsindustrie nicht weniger Geld verfügbar sein darf. So erzeugen Entscheidungen für eine Art, den Widerspruch zu vereinbaren, fortwährend neuen Handlungs- und Reformbedarf. Das Resultat sieht in der neuesten Fassung ungefähr so aus:

Weil der Lohn die Finanzierung der Krankheitskosten nicht mehr hergibt, also die Einnahmeseite Not leidend wird, suchen die Reformpolitiker nach neuen Finanzierungsmethoden, denn irgendwo muss das Geld ja herkommen, mit dem die Gesundheit und damit die Brauchbarkeit des Volkes gepflegt werden soll und das andererseits eine volkswirtschaftlich so verantwortungsvolle Aufgabe hat. Dazu wird als "Eckpunkt" der "Jahrhundertreform" ein Gesundheitsfonds erfunden. In der Debatte ist darüber hinaus, dass der Gesundheitsfonds nicht nur die Kassenbeiträge einsammeln, sondern zusätzlich mit Steuermitteln und Solidarbeiträgen der Privatversicherungen bestückt werden soll. Neue Quellen über die Abzüge vom Lohn hinaus sollen so zur "Verbreiterung der Finanzierungsbasis" der Krankenversicherung aufgetan werden, die aber nicht durch weitere Beitragsaufschläge die Lohnkosten für die Kapitalisten verteuern sollen: Mehr Geld muss "ins System", aber das darf den Zug zum Niedriglohn nicht aufhalten, weshalb die Gesundheitskosten "vom Lohn entkoppelt" werden sollen. Es soll also Schluss sein mit dem Automatismus, dass steigende Beiträge zum Gesundheitssystem immer auch gleich über den Arbeitgeberanteil die Lohnkosten steigern. Das ist das ganze Geheimnis der viel zitierten "Verbreiterung der Finanzierungsbasis" für die gesetzlichen Krankenversicherungen.

Uneinigkeit herrscht innerhalb der Koalition und der Parteien über das Ausmaß, das diese "Verbreiterung" annehmen soll, wer also außer den Lohnempfängern künftig mitzahlen soll:

Die politisch verantwortlichen Reformer bewahren sich in dieser x-ten "Jahrhundertreform" nicht nur die Kompetenz, die Höhe des Beitrags an die Kassen festzulegen. Als die Manager des Gesundheitsfonds entscheiden sie auch darüber – auch wenn sie über Details noch munter streiten –, wie viel an Steuer- und anderen Mitteln sie einfließen lassen wollen, um so ganz souverän darüber zu bestimmen, auf welche Seite des von ihnen gestifteten und verwalteten Widerspruchs sie sich gerade mehr schlagen wollen:

Ein "verbessertes Gesundheitswesen" – samt all den Geschäftsgelegenheiten, die es bietet – kostet eben auch etwas – dies ist die negative Seite des Widerspruchs –, aber – dies dessen positive Seite – diese Kosten leisten immerhin einen Beitrag zum deutschen Wirtschaftswachstum. Unter dem strengen Gebot der "Kostensenkung" soll gleichzeitig das Geschäft mit der Medizin am Laufen gehalten werden und sogar wachsen dürfen. Wie das geht? – Da hilft ein weiteres Axiom nicht nur dieser Reformabteilung: Die beste Gesundheitspolitik ist die, die den Prinzipien des Geschäfts auf dem Feld des Gesundheitswesens noch stärker Bahn bricht. Das führt zu einer nicht besonders erfindungsreichen Diagnose, die auch schon das ganze Therapieprogramm beinhaltet: Die mangelnde Konkurrenz im Gesundheitswesen soll Grund allen Übels sein, mehr Wettbewerb soll alles billiger machen.

Von wegen also "Totalversagen": Die Reformvorhaben sind die Fortsetzung der Politik, die widersprüchlichen Zielsetzungen des Gesundheitswesens im Kapitalismus vereinbar, also politisch "praktikabel" zu machen: Der Widerspruch zwischen stets kostenbewusster Wiederherstellung der Bürger und einer dafür dienlichen wachstumsorientierten und konkurrenztüchtigen Gesundheitsindustrie auf Weltniveau wird zeitgemäß gesundheitspolitisch fortentwickelt.