GEGENARGUMENTE

Die Statistiker der Nation weisen Armutsgefährdung als dauerhaftes Phänomen aus – Die bürgerliche Presse weiß, wer schuld ist - das Sozialsystem!

Laut regelmäßigen Erhebungen von Statistik Austria sind rund eine Million bzw. ein Anteil von 12 – 13 % der Menschen in Österreich akut von Armut gefährdet. Im Rahmen des EU-Projekts SILC ("Community Statistics on Income an Living Conditions", zu deutsch "Gemeinschaftsstatistiken über Einkommen und Lebensbedingungen"), an dem die Statistik Austria seit 2003 teilnimmt, hat sie in einer vertiefenden Analyse über die zwei aufeinanderfolgenden Kalenderjahre 2004 und 2005 "beträchliche Bewegungen aus und in die Armutsgefährdung festgestellt". In den genannten Jahre haben etwa gleich viele Menschen den Sprung aus der Armut geschafft, wie neue in sie hineingestolpert sind. Dazu konnte man am 11.Jänner in der Tageszeitung "Die Presse" unter dem Titel "Österreichs Sozialsystem ist ineffizient" folgendes lesen:

"Knapp 559.000 Menschen fielen im Jahr 2005 unter die Armutsgrenze. Im selben Zeitraum schafften rund 579.000 Menschen den Sprung über diese Schwelle. Obwohl also 2005 fast 30 Prozent der Wirtschaftsleistung in die Sozialbürokratie flossen, verhalf sie in diesem Jahr unterm Strich nur 20.000 Menschen aus der Armut. Großer Aufwand, wenig Wirkung…"

Eine bemerkenswerte Bilanz des Wirkens der österreichischen Wirtschaft, die man der "Presse" da entnehmen kann. Sie will und will einfach nicht verschwinden, die Armut, 2005 schon wieder 559.000 Neuzugänge bei den Armutsgefährdeten, Personen mit einem Einkommen von höchsten 900€ netto im Monat. Wie soll sie auch verschwinden? Eine Wirtschaft, die ihren Erfolg nicht im Grad der Versorgung der Bevölkerung, sondern im Gewinn misst, für die daher der gezahlte Lohn eine Kost und als solche gar nie nieder genug sein kann, die bekämpft nicht Armut, die beruht auf Armut und schafft sie daher beständig neu.

Genau so, als Widerlegung des Slogans "Geht´s der Wirtschaft gut, geht´s uns allen gut" soll man das aber nicht sehen. Dass die Armut in einer der reichsten Ökonomien nicht und nicht aussterben will, soll man nicht dem Erfolgsmaßstab marktwirtschaftlichen Treibens zurechnen, sondern dem Sozialstaat als Scheitern seiner Bemühungen, Armut zu beseitigen, zur Last legen:

"Obwohl also 2005 fast 30 Prozent der Wirtschaftsleistung in die Sozialbürokratie flossen, verhalf sie in diesem Jahr unterm Strich nur 20.000 Menschen aus der Armut. Großer Aufwand, wenig Wirkung…"

30% der Wirtschaftsleistung(!) für den Sozialstaat, soviel Geld und dann "nur" dazu, dass ein paar armen Schluckern über die Armutsschwelle geholfen wird. Schade um das Geld, soll man sich denken! Ohne wenigstens ein bisschen zu schummeln, kommt "Die Presse" aber offenbar nicht aus, um zum gewünschten argumentativen Ergebnis zu gelangen. Geflissentlich und nicht zufällig lässt sie nämlich unter den Tisch fallen, dass ihre Bilanz der "Sozialbürokratie" nur deshalb so mager ausfällt, weil die Wirtschaft umgekehrt im Schaffen von immer neuer Armut dermaßen erfolgreich ist. Aber weil sie bessere Verwendungsweisen des erarbeiteten Reichtums kennt, als einfach nur Menschen über die Runden zu bringen, lässt sie sich diese von der Statistik Austria gebotene Gelegenheit, den Sozialstaat darüber zu blamieren, dass die Armut trotz seines Wirkens nicht und nicht weniger wird, nicht entgehen.

Bloß, die Armut abzuschaffen, hatte der Sozialstaat gar nie vor. Das wäre ja gleichbedeutend damit, durch die Beseitigung der Ursachen der chronischen Not der lohnabhängigen Menschen – durch Beseitigung der Marktwirtschaft -, den Sozialstaat selbst überflüssig zu machen. Das war und ist das Programm seiner politischen Verwalter aber nicht. Der Sozialstaat ist nicht als vorübergehende Einrichtung gemeint, mit dem Auftrag, mit den Ursachen der Armut auch sich selber lieber heute als morgen überflüssig zu machen, sondern als auf Dauer angelegte Institution, die in der ebenso dauerhaft unsicheren Existenz der Arbeitnehmer ihre bleibende Grundlage hat und erhält. Seine Aufgabe ist es nicht, die Armut abzuschaffen, seine Aufgabe ist es, sie in Grenzen einzubannen, auf dass das Kapital in seiner - seinem Zweck geschuldeten - Rücksichtslosigkeit, nicht die Grundlagen seines eigenen künftigen Wachstum schädige. Demgemäß ist er darauf gerichtet, die Folgen und Auswirkungen kapitalistischer Benutzung von Arbeitern – wie es heißt - "abzufedern" und "abzumildern".

Die derart betreuten Arbeitnehmer waren und sind angehalten, statt sich an der offensichtlichen Normalität von Armut und Existenzgefährdung von Menschen ihres Schlags zu stören, sich diesen Sozialdienst des Staates fürs Kapital als Sorge um ihr Wohlergehen zurecht zu legen, die Leistungsfähigkeit des "sozialen Systems" zu bewundern und dankbar zu sein.

Mit dieser Ideologie wird heute aufgeräumt. "Die Presse" - und nicht nur sie - entdeckt am Sozialsystem eine Behinderung der Leistungsfähigkeit der Wirtschaft. Sie will nicht recht glauben, dass wirklich unbedingt so viel Sozialstaat nötig ist:

"In Österreich wird zu wenig überlegt, was Wohlstand schafft, und zu viel, wie man ihn verteilt. Jeder dritte Euro, den die Österreicher erarbeiten, wird durch die Sozialbürokratie umverteilt. Ist die effektiv? Ja. Denn ohne Sozialleistungen wären fast alle Pensionisten und mehr als jeder zweite Alleinerzieher armutsgefährdet. Ist sie effizient? Nein, denn der Anteil der Armutsgefährdeten sinkt nicht – das trifft besonders Frauen, vor allem alte."

Was jahrzehntelang als ein Gütesiegel der "sozialen" Marktwirtschaft galt, auch für die von der Marktwirtschaft ständig hervorgebrachten "sozial Schwachen" zu sorgen, das will "Die Presse" so einfach nicht mehr als Erfolgsausweis gelten lassen, ungeachtet dessen, dass ohne Sozialleistungen nahezu alle Pensionisten armutsgefährdet wären. Sie dreht den Spieß um. Hieß es früher, den Kapitalismus zu "zähmen", damit die "sozial Schwachen" nicht unter die Räder kommen, verlange Armutsbekämpfung heute:

"Weg mit Vorschriften, die Unternehmern das Leben schwer machen. So bäckt man größere Kuchen. Und ermöglicht es den Bürgern, sich selber ein Stück davon abzuschneiden."

All das an gesetzlichen Regelungen, was notwendig ist, einzig wegen der Rücksichtslosigkeit des Kapitals seinem menschlichen Inventar gegenüber, all das, was also das Kapital gerade daran hindern soll, die Arbeiterschaft als Ganze irreversibel zu schädigen – von Arbeitszeitgesetzen über Arbeitnehmerschutzbestimmungen bis zu Kranken-, Pensions- und Arbeitslosenkassen -, all das, erfahren wir, produziere überhaupt erst den Schaden, der verhindert werden sollte. Erst dann käme so richtig ein "Kuchen" raus, der sich sehen lassen könnte, dann wären die Arbeiter am besten bedient, wenn auf sie und ihre Bedürfnisse endlich keine Rücksicht mehr genommen zu werden bräuchte. Dann gäbe es etwas, von dem sie sich ein schönes Stück abschneiden könnten, wenn sie nur dürften, wenn das dann nicht schon wieder den Kuchen kleiner machen würde.