GEGENSTANDPUNKT GEGENARGUMENTE

Was der Kollaps des Finanzsystems
über den Reichtum der kapitalistischen Nationen lehrt (Teil 1)

Jetzt, wo die weltgrößten Banken zusammenbrechen und sich über Nacht Vermögenswerte von vielen Milliarden in Luft auflösen, machen sich Politiker, Wirtschaftsfachleute und Journalisten Sorgen um die Wirkungen dieser Zusammenbrüche auf so etwas wie die "Realwirtschaft". Das ist bemerkenswert, denn bis vor kurzem hat der Unterschied zwischen Börsenkursen und Bankrenditen einerseits und dem Reichtum, der aus Produktion und Verkauf von nützlichen Dingen hervorgeht, andererseits, niemanden groß interessiert. Sogar dem einfachen Volk, das keine Aktien besitzt, wird in den Abendnachrichten der Stand der Börsenkurse bekanntgemacht, die unmittelbar als Auskunft darüber verstanden werden sollen, wie es um "die Wirtschaft" steht. Wenn die Laune der Börsianer gut gewesen und die Börsenkapitalisierung der DAX-Unternehmen wieder einmal gewachsen ist, dann ist – wie auch immer – der Reichtum größer geworden, von dem "wir alle" leben. Weil Banken nun aber krachen und die Finanzakkumulation nicht mehr funktioniert – und vermutlich so lange, wie sie nicht wieder in Gang kommt –, kennt die Fachwelt den Unterschied zwischen spekulativen Vermögenstiteln und wirklichem Reichtum, der in der "Realwirtschaft" durch Arbeit erzeugt wird.

Gleichwohl plädiert keiner der Experten dafür, sich auf die Produktion wirklichen Reichtums zu konzentrieren und die Finanzhäuser mit ihrer spekulativen Geldvermehrung getrost vor die Hunde gehen zu lassen. Das ist in einer kapitalistischen Nation jenseits aller Vorstellung. Gerade in dem Augenblick, in dem der Finanzzauber auffliegt, machen sich die Zuständigen größte Sorgen um den Dienst, den das Kreditwesen der Realwirtschaft leisten soll. Im Namen dieses Dienstes beschuldigen sie die Akteure an den Finanzmärkten, alles verkehrt gemacht zu haben. Lächerlich, wie die Liebhaber eines potenten Finanzsektors auf einmal Gier bei den jahrelang hochgejubelten Bankern entdecken, wie sie, die sonst Risiko und Risikobereitschaft als Vorzug des kapitalistischen Wirtschaftssystems loben, nun maßlose Risiken kritisieren, die die für gigantische Renditen bewunderten Investmentbanken eingegangen seien und wohl selbst nicht mehr durchschaut hätten.

Dabei haben die Investoren und Verwalter der großen Geldvermögen überhaupt nichts falsch und auch nichts entscheidend anders gemacht als immer schon. Sie haben das Wachstum ihrer Branche und damit ihre Bereicherung mit einer Sorte Geschäft auf immer neue Höhen getrieben, das von seinem grundsoliden Ausgangspunkt an spekulativ ist.

Geschäft mit dem Geld-Verleihen

Banken machen dasselbe wie alle kapitalistischen Unternehmer: Sie machen aus Geld mehr Geld – das allerdings ohne den Umweg über Produktion und Verkauf von Gütern, den andere für dasselbe Ziel nehmen müssen. Zur Schaffung des materiellen Reichtums tragen die Geldhäuser nichts bei. Sie verleihen Geld – und vermehren es durch eine Vereinbarung mit ihrem Kreditnehmer: Der muss es ihnen nach einer vereinbarten Frist mit Zinsen zurückzahlen. Dabei ist es den Banken sogar gleichgültig, ob ihr Kunde das geliehene Geld als Kapital investiert und dadurch Überschüsse erwirtschaftet oder ob er damit ein Verlustgeschäft macht. Seine vertragliche Rückzahlungspflicht gilt unbedingt; seine tatsächliche Fähigkeit dazu hängt jedoch davon ab, ob er sich das erforderliche Geld bis zur Fälligkeit beschaffen kann. Diesen Umstand ignoriert das Kreditverhältnis: Es tut so – und wenn es klappt, ist es für die Bank ja auch so –, als ob sich das Geld im Maß der verstreichenden Zeit automatisch vermehrte: In ihrer Hand ist Geld unmittelbar Kapital – aber nur dadurch, dass sie auf eine Geldvermehrung spekuliert, die andere betreiben und die sie nicht in der Hand hat.

Das Geschäft mit Kredit beruht also durchaus darauf, dass er für kapitalistische Geldvermehrung eingesetzt wird. Im Zins eignet sich die Bank einen Teil des in Produktion und Handel erwirtschafteten Überschusses an. Ihre Macht, vom Kreditnehmer mehr Geld zurückzufordern, als sie ihm gibt, gründet darauf, dass sie ihn instand setzt, Profit mit Kapital zu machen, und zwar mit Kapital, das ihm gar nicht gehört. Er zahlt den Tribut, weil er mit geliehenem Kapital mehr Gewinn machen kann als nur mit eigenem, was auf Seiten des produktiven Kapitalisten durchaus auch eine Spekulation ist, nämlich auf künftige Erträge, die den aufgenommenen Kredit rechtfertigen und aus denen er sich bezahlen lässt.

Für die Kapitalisten in Industrie (und Handel) ist die entscheidende Bedingung des Gewinnemachens die Größe der verfügbaren Kapitalgröße. Das hat seinen Grund darin, dass sie sich um die wirkliche Quelle des materiellen Reichtums keine Sorgen machen müssen – die funktioniert nämlich zuverlässig. Es sind die Arbeiter, welche die nützlichen Dinge schaffen, die mit Gewinn zu verkaufen sind. Und deren Willen und Bereitschaft sind in einem geordneten Kapitalismus eine Selbstverständlichkeit: Arbeitskräfte gibt es in den Berufen aller Bildungsniveaus reichlich bis überreichlich und billig, und sie stehen so selbstverständlich zur Verfügung, dass sich kein Kapitalist von ihnen mehr abhängig sieht; er kalkuliert sie locker als einen Produktionsfaktor neben Rohmaterial und Betriebsstoffen.

Unter solchen Umständen hängt die Fähigkeit zur Gewinnerwirtschaftung tatsächlich nur noch ab von der Macht des Geldes. Wer sich die erforderlichen Produktionsmittel beschaffen, den nötigen Kapitalvorschuss leisten, wer Mittel auch für Phasen von Forschung und Entwicklung vorstrecken und technische Innovationen bezahlen kann, die die Anlagen der Konkurrenten übertreffen und entwerten, der macht das Geschäft. Ob und in welchem Maß eine Firma oder eine Nation auf ihrem Standort die Profitmacherei in Gang setzen, welche Waffen der Konkurrenz sie einsetzen kann, alles entscheidet sich an der Verfügung über die nötige Menge Kapital. So kommt der absurde, in sich unerklärbare Schein zustande, das Geld selbst sei die Quelle seiner Vermehrung – als sei Geld ohne weiteres und aus sich selbst heraus Kapital.

Die Vergrößerung des Kapitals, mit der ein industrieller Kapitalist die Konkurrenten übertrumpfen kann, ist beschränkt durch den in der Vergangenheit akkumulierten und erst nach dem Verkauf der Produkte investierbaren Gewinn. Über diese Schranke hilft die Bank hinweg, indem sie Kredit, also zusätzliches Kapital zur Verfügung stellt und so natürlich auch den für alle Kapitalisten gültigen Erfolgsmaßstab nach oben schraubt. Das ist ihr Dienst an der industriellen und merkantilen Profitmacherei – und darin gründet die Macht der Bank, sich an den Zuwächsen zu beteiligen, die andere aus ihren Arbeitskräften herausholen.

Akkumulation des Finanzkapitals

Freilich, der Profitmacherei mit der Lohnarbeit einen Dienst zu leisten, ist nicht der Zweck der Bank. Sie dient nicht der Realwirtschaft, sondern nutzt – wie jedes kapitalistische Unternehmen – den Bedarf anderer aus, um daraus für sich ein Plus zu machen. Die kapitalistische Realwirtschaft und das ganze Produzieren und Konsumieren der Gesellschaft, das daran hängt, ist für das Finanzkapital Mittel seiner Selbstverwertung – und das keineswegs nur in der beschränkten Perspektive der Finanzmagnaten selbst, sondern objektiv: Die Banken entscheiden darüber, welche Firma Kredit bekommt, damit also über die nötigen Waffen der Konkurrenz verfügt, und sie entscheiden, welche keinen Kredit bekommen, wessen Schulden prolongiert werden, welcher säumige Schuldner dagegen Konkurs anmelden muss. Deshalb sind sie die wirtschaftlichen Machtzentren, die den Gang des Kapitalismus bestimmen.

Ihr vom Staat verliehenes Recht, das ihnen zur Verfügung stehende Geld direkt in Kapital zu verwandeln, d. h. es allein durch Verleihen und Zurückfordern zu vermehren, nutzen Banken, so gut sie können. Dabei kämen sie nicht weit, wenn sie (nur) das Geld verliehen, das ihre Eigentümer aus Privatvermögen eingebracht haben, und dann warten müssten, bis es mit Zinsen zu ihnen zurückfließt. Wie ihre Kreditnehmer "arbeitet" auch die Bank mit Geld, das ihr nicht gehört. Sie leiht es sich beim Publikum, indem sie Einlagen einwirbt und für Sparbücher, Festgeld, manchmal auch für Girokonten, Zinsen verspricht. Sie beschafft sich Verfügung über fremdes Geld, um ihrerseits gegen höhere Zinsen anderen Verfügung über fremdes Geld zu gewähren.

Auf diese Weise trennt die Bank das Eigentum an Geld von der Verfügung darüber und macht einen doppelten Gebrauch vom Geld. Von ihrem Gläubiger bzw. Kreditgeber, dem Inhaber eines Kontos bei ihr, nimmt sie Geld und verleiht es weiter. Das Eigentumsrecht bleibt beim Kreditgeber, das Geld selbst wandert zum Kreditnehmer, dem Schuldner der Bank, der damit wie mit eigenem Geld umgehen kann. Den Einlegern verspricht die Bank gleichwohl die jederzeitige oder an Fristen gebundene Verfügung über das eingelegte Geld, das sie gar nicht mehr hat – und das sie erst in irgendeiner Zukunft und dann abhängig von Geschäftserfolg und Solvenz ihres Schuldners wieder zurückzubekommen hofft. Das ist die zweite Stufe der Spekulation.

Gleichgültig, wie sie dieses Kunststück im einzelnen hinbekommt – sie praktiziert es nicht nur im Verhältnis zu ihren Einlegern, sondern auch zu sich selbst: Weggegebenes Geld, das sie bis zur Rückzahlung, die fraglich ist, nicht hat, betrachtet sie als Vermögenswerte, die sie hat, und führt sie als "Aktiva" in ihren Büchern. Ihre Anspruchstitel auf Verzinsung und künftige Rückzahlung lässt sie aber keineswegs in ihren Büchern herumliegen, um untätig auf die Tilgung zu warten. Sie behandelt die Schulden ihrer Kreditnehmer als "Assets", als zinstragendes Kapital, das sie mit Gewinn an andere Geldanleger weiterverkauft oder zur Grundlage eigener neuer Kreditaufnahme macht, um ohne neues eigenes Kapital denselben Kreisverkehr der Verdopplung des Geldvermögens immer wieder und auf immer größerer Stufenleiter zu eröffnen.

Wie sich die Akkumulation des Finanzkapitals gegen die "Realwirtschaft" verselbständigt, wie der zunehmende Erfolg des Finanzkapitals notwendigerweise zur Finanzkrise führt und wie die Staaten ihr Finanzsystem retten, analysieren wir in Teil 2.

Lesetipp:
Mehr über das Thema "Finanzkapital" (Teil I: Die Basis des Kreditsystems: Von der Kunst des Geldverleihens) steht im soeben erschienenen GegenStandpunkt 3-08. Dort ist im Artikel "Anmerkungen zur Krise ’08" auch das Wichtigste über die aktuelle Finanzkrise nachzulesen.