GEGENSTANDPUNKT GEGENARGUMENTE

"Der Spiegel" knöpft sich die Spekulanten vor:
Auch eine Tour, die Marktwirtschaft hochzuhalten

In einer seiner letzten Ausgaben schlägt das Magazin "Der Spiegel" in eine mittlerweile sehr beliebte Kerbe: Die Spekulanten sind an allem schuld! So zeigt das Titelbild eine offenbar verängstigte Mittelschichtfamilie, die von zwei kolossartigen Schuhen mit Hosenbeinen eingezwängt wird – der übermächtige und bedrohliche Spekulant.

"Angriff auf den Wohlstand" heißt die Hauptüberschrift und die Unterzeile: "Wie Spekulanten das Leben verteuern".

Was man sich da im Zusammenhang mit der Spekulation zu Gemüte führen soll:

"Ein Sack Reis kostet fast dreimal so viel wie im Januar, Weizen, Mais und Sojabohnen erzielten dieses Jahr schon Spitzenpreise, Gold erlebte eine wilde Achterbahnfahrt. Gold braucht kaum jemand wirklich. Öl aber ist der Schmierstoff der Wirtschaft; wenn es immer teurer wird, gerät der Konjunkturmotor ins Stocken."

Das ist schon schlimm genug, aber es kommt noch dicker:

"Und Weizen und Reis sind im wahrsten Sinn des Wortes Lebensmittel: Wenn sie immer mehr kosten, müssen arme Menschen hungern, vielleicht sogar verhungern."

Wie kommt es zu dieser dramatischen Lage?

"Schon jetzt ist der Lebensstandard vieler Menschen in Gefahr – schon bald vielleicht der Wohlstand der Nationen. Deshalb ist die Frage, ob die Preise zwangsläufig, quasi naturgegeben so steigen, weil das Angebot hinter der Nachfrage herhinkt. Oder ob da andere, heimliche Kräfte am Werk sind: Spekulanten, die sich die zunehmende Knappheit von Ressourcen zunutze machen, um schnell viel Geld zu verdienen"

Das ist eine interessante Entgegensetzung: Auf der einen Seite der "quasi naturgegebene" Mechanismus, dass die Preise steigen, wenn das Angebot hinter der Nachfrage herhinkt; auf der anderen Seite die Spekulanten, die sich das Hinterherhinken des Angebots, die zunehmende Knappheit von Ressourcen, zunutze machen, um schnell viel Geld zu verdienen. Im ersten Fall ist die Sache sonnenklar und es gibt nichts zu meckern: Die "quasi naturgegebenen" Marktgesetze gebieten, dass der Preis – eben auch für besagte Rohstoffe und Lebensmittel – steigen muss. Dann können sich die Leute die Preise nicht leisten und müssen sterben, weil es die Marktgesetze verlangen. Marktgesetztechnisch ist dann alles in Ordnung und ihr Tod ist– leider, leider – der unvermeidliche Kollateralschaden beim Wirken der Marktgesetze, auf denen schließlich unsere Wirtschaftsordnung aufgebaut ist und auf die wir nichts kommen lassen. Manchmal sind sie recht ungemütlich, aber auch einfach und konsequent.

Ganz anders sieht die Sache jedoch aus, wenn die Spekulanten ins Spiel kommen. Von denen hört man, dass sie erstens "heimlich Kräfte" sind und zweitens "schnell viel Geld verdienen" wollen. Das ist dann irgendwie unanständig, es ist ihr Geldtrieb, der das Autofahren und die Heizung teurer macht und letzten Endes die Leute verhungern lässt. Später heißt es dann noch, dass sich wegen ihnen "die Preise von der Realität entfernen" und deswegen die "Gefahr einer Blase" wächst. Damit wird angedeutet bzw. unterstellt, dass die "guten" Marktgesetze die Preise langsamer steigen lassen und schön nah an der "Realität" – was immer das ist – halten würden und die "Gefahr einer Blase" gar nicht erst entstünde. Soll man das tatsächlich glauben? Dass es zwei Preissteigerungen gibt? Eine vernünftige, die sich den Marktgesetzen verdankt, und eine bösartige, die auf die Spekulanten zurückzuführen ist?

Der Spiegel spricht von einem "quasi naturgegebenen" Verhältnis von Angebot und Nachfrage, auf das dann der Preis "zwangsläufig" reagiert; hier: Wenn die Nachfrage größer ist als das Angebot, muss der Preis steigen. Das Angebot reagiert seinerseits auf diesen steigenden Preis und wird größer, die Nachfrage reagiert ebenfalls und wird kleiner – dann treffen sich die beiden, Angebot und Nachfrage "gleichen sich aus", der dann herrschende Preis heißt ‚Gleichgewichtspreis’. Das macht einen harmonischen Eindruck: Der Preismechanismus sorgt – ohne dass die Individuen voneinander wissen – dafür, dass der existierende Bedarf gedeckt wird, was anfänglich auseinanderklafft, wird regelmäßig zusammengeführt – und deswegen ist diese Theorie auch so beliebt, zählt zu den ehernen Dogmen der Wirtschaftswissenschaften. Allerdings ist sie erstens – mal rein wissenschaftlich betrachtet – Blödsinn, weil sie nämlich dem Preis zwei genau entgegengesetzte Funktionen zuspricht: Er reagiert auf das Verhältnis von Angebot und Nachfrage, und indem er darauf reagiert, reguliert er es zugleich. Zweitens spricht diese Theorie den Marktgesetzen eine Art Naturhaftigkeit zu, tut so, als wären Angebot und Nachfrage zwei Größen, die ihr Verhältnis unter sich ausmachen und die die "Wirtschaftssubjekte" in ihrem Handeln insgeheim lenken. Aber Angebot und Nachfrage gibt es ja nur, weil sie von Anbietern und Nachfragern gebildet werden, und die sind es auch, die die Preise festsetzen. Deren Richtschnur ist ganz gewiss nicht, für einen Ausgleich von Angebot und Nachfrage zu sorgen, vielmehr wollen sie eine Differenz zwischen beiden ausnutzen – eine so genannte "Knappheit" ist den Anbietern ein willkommener Anlass, den Käufern einen höheren Preis abzupressen, und wenn es zu viele Anbieter gibt, dann werden sie von den Käufern erpresst, mit dem Preis runterzugehen. Und keiner sagt dann hinterher: Schön, dass wir Angebot und Nachfrage ausgeglichen haben. Käufer und Verkäufer stehen in diesem Wirtschaftssystem immer in einem Gegensatz zueinander, jeder sucht seinen Vorteil auf Kosten des anderen – unter der Überschrift ‚Konkurrenz’ ist das auch jedem geläufig. Diesen "Wirtschaftssubjekten" geht es also erstens nicht darum, möglichst viel Leute mit einer möglichst gelungenen Versorgung zu beglücken – also auch nicht darum, die Hungernden in der Welt mit Lebensmitteln zu versorgen –, wenn sie beim Festsetzen der Preise an die Mehrung ihres Reichtums denken. Zweitens handelt es sich dabei nicht um eine Bösartigkeit oder um schlechten Charakter, vielmehr kommen diese Leute damit nur dem Auftrag unserer schönen Ordnung, die eine Eigentumsordnung ist, nach: Jeder soll mit seinem Eigentum wirtschaften, und der Zweck dieses Wirtschaftens ist nicht die Herstellung schöner Produkte, sondern die Vermehrung des Eigentums in seiner einzig zählenden Gestalt, im Geld.

Was diese Vermehrung des in Geld gemessenen Eigentums angeht, ist freilich eine Einschränkung zu machen. Die eine, die größere Hälfte der Menschheit kann man in der Hinsicht vergessen. Deren Ding ist die Geldvermehrung nicht – aus dem einfachen Grund: Sie hat keins bzw. reicht es gerade, das Leben zu bestreiten. Das heißt aber nicht, dass sie sich nicht fürs Wachstum nützlich machen kann. Immerhin haben die "Wirtschaftssubjekte", die diese Hälfte bevölkern, sich selbst und können sich selbst anbieten – sie heißen dann "Arbeitssuchende". Ihre Suche ist dann von Erfolg gekrönt, wenn sie bei einer Minderheit, die "Arbeitgeber" heißen", eine Anstellung finden. Der "Arbeitgeber" nimmt ihr Angebot wahr – unter einer Voraussetzung: Das Geld, über das er verfügt und das er unter anderem für ihren Lohn ausgibt, muss dabei mehr werden. Die "Arbeitnehmer" haben dann bei der Vermehrung des Geldes mitgeholfen, es gehört ihnen allerdings nicht, was man daran sieht, dass sie immer wieder bei ihrem Arbeitgeber antreten müssen und der immer reicher wird.

Die andere, die kleinere Hälfte, die allein Güter produzieren lassen kann, die aus deren Verkauf Gewinn erzielt, die mit ihrem Geld auch in Form von Kredit und Kapitalanlagen handeln und so ihr Geld vermehren kann, die hat ein eigenes Problem. Die Leute, die dort zugange sind, wollen und müssen in der Konkurrenz mit ihresgleichen bestehen. Und diese Konkurrenz – und nicht der Ausgleich von Angebot und Nachfrage – diktiert ihnen erstens, dass die Geldvermehrung möglichst schnell zu geschehen hat und dass sie zweitens – entgegen dem Märchen vom bescheidenen Profit, mit dem man auch zufrieden sein kann – gar nicht groß genug sein kann, also maßlos ist.

Womit wir wieder bei den Spekulanten wären. Die gehören zu dieser Mannschaft der Geldvermehrer, sie setzen ihre Preise nach denselben Prinzipien fest wie die, sie gehorchen ebenso dem Diktat der Schnelligkeit und der Maßlosigkeit, und wenn man ihnen überhaupt etwas nachsagen will, dann dies, dass sie die gewöhnlichen kapitalistischen Rechnungen eine Schraube weiterdrehen. Ihr Geschäft ist der Vergleich von Gewinnen und der Ertragsträchtigkeit von Geldanlagen und ihre besondere Leistung – man könnte auch sagen: ihr "volkswirtschaftlicher Nutzen" – besteht darin, diesen Vergleich in der Zukunft vorzunehmen, also künftige Erträge bzw. Ertragsaussichten auszuspähen und darauf – spekulativ eben – zu setzen. Sie entfernen sich also nicht von der "Realität", wie der Spiegel sagt, sondern sie nehmen die kapitalistische Realität vorweg. Für eine Wirtschaftsweise, die auf maßloses Wachstum ausgerichtet ist, die auf der ständigen Suche nach der bestmöglichen Kapitalanlage ist und die das damit verbundene Risiko eben wegen des Konkurrenzerfolgs bewusst in Kauf nimmt, ist das genau passend – die Spekulanten betätigen sich als Agenten der maßlosen Ausweitung des Kapitals. Insofern verkörpern sie geradezu das Prinzip dieses Wirtschaftssystem, und wenn der Spiegel auf sie schimpft, wenn er notwendige Konsequenzen dieses Systems – vom Hunger bis zur Produktion einer "Blase" – diesem Stand in die Schuhe schieben will und das ausgerechnet mit dem Vorwurf untermauert, dort wolle man "schnell viel Geld verdienen" – wo will man das denn nicht?! –, dann erfüllt das in schon ziemlich dämlicher Weise den Tatbestand der Irreführung. Aber den ideologischen Ertrag muss man dem Spiegel lassen: Das kapitalistische Alltagsgeschäft des "schnell viel Geld verdienen" ist aus dem Schneider, wenn man dessen ungute Wirkungen auf die Tat böser Menschen zurückführt. Dann ist mal wieder die "Gier" an allem schuld und nicht der Zwang zur Profitmacherei.