GEGENARGUMENTE

Wählen ist verkehrt

I. Die Wahl: Ermächtigung der staatlichen Repräsentanten durch die Beherrschten

a) In der Wahl wird das von Parteien präsentierte und organisierte Personal gewählt, das für einen bestimmten Zeitraum Gesetze erlassen und die Regierungsgeschäfte führen soll. Der Wahl vorgelagert ist erstens die Sortierung der Angehörigen eines Gemeinwesens in Führer(Kandidaten) und Geführte – letztere sollen ja erstere wählen, zweitens ein fix und fertiger Staatsapparat, dessen Herrschaftspositionen mit der Wahl besetzt werden, und zum dritten eine definierte Staatsräson, die von den Ämtern aus gemanagt werden soll. Damit ist über die Wahl von vornherein klargestellt: Sie ist keine Einmischung der Bürger in das, was materiell-sachlich das Verhältnis von Staat und Bürger, von Herrschaft und Untertanen ausmacht. Die Frage, warum und wozu es eine solide durchorganisierte Herrschaft mit machtvollen Posten und elitären Amtsträgern braucht, die ist immer schon beantwortet und dem Wähler damit vorenthalten.

b) Wichtig an einer Wahl ist also vor allem das, was nicht zur Wahl steht, mit der Wahl aber endgültig abgehakt wird. Nämlich nichts Geringeres als die gesamte politische Herrschaft: der Staatsapparat; die Aufgaben, denen der sich widmet; die Leistungen, die er für die kapitalistische Produktionsweise erbringt; die "Sache" der Nation; und dass es Führer braucht, die sich darum kümmern. Also alles, was die normalen Leute als Beschränkung ihrer materiellen Freiheit, als Härte ihres Erwerbslebens, als Inanspruchnahme durch privat-marktwirtschaftliche und öffentlich-rechtliche Machthaber, als ihre gesellschaftlich organisierte Last zu spüren bekommen. Das alles ist selbstverständlich gebilligt, wenn es ans Wählen geht – die Stimmabgabe ist ein ganz prinzipielles Bekenntnis zur Herrschaft und zu ihrer Staatsräson: Ihre Unterordnung unter den bei der Wahl vorausgesetzten, gar nicht der Abstimmung unterliegenden Staatswillen unterschreiben also mit ihrem Wahlkreuz die, die von der Herrschaft zu Objekten und Betroffenen gemacht werden.

c) Dass es bei der Wahl um das abstrakte, von den Interessen der Wähler getrennte Ja zur Herrschaft geht, reflektiert sich in der Wahl selbst:

- Der Wähler darf Parteien bzw. Personen seiner Wahl ankreuzen. Mit dem Wahlkreuz wird von den Gründen, die der Bürger für seine Wahlentscheidung haben mag, abgesehen. Was zählt ist seine Stimme, die in die Auszählung eingeht.

- In dieser zählen alle Stimmen gleich, d. h. es wird abstrahiert von den jeweiligen gesellschaftlichen Rollen und den Interessen ihrer Träger, alle werden auf die Bestimmung reduziert, Herrschaft über sich zu wollen.

- Sobald die Stimmen ausgezählt sind, haben die gewählten Repräsentanten die Freiheit, über das Wahlergebnis zu befinden und den Wählerwillen festzulegen. Welche Koalitionen zustande kommen, wer die Opposition bildet, ist Resultat ihrer Verhandlungen und dabei sind die Abgeordneten bekanntlich nur ihrem "Gewissen", also ihren (partei-)politischen Kalkulationen verantwortlich.

d) Diejenigen der politischen Bewerber, die von Volkes Stimme erwählt wurden, haben durch ihre Wahl das Recht – in der Regierungsverantwortung oder in der "Opposition" –, sich um die Ausgestaltung des Gemeinwesens zu kümmern. Sie sind durch die Wahl ermächtigt, die Staatsnotwendigkeiten in dem von ihnen für notwendig erachteten Sinn gegen ihr Volk zu exekutieren. Und diese Freiheit der Politik wird von Politikern hoch geschätzt. Denn mit der Wahl haben die Wähler sie beauftragt, die Staatsgeschäfte zu führen, und sich selbst damit für unzuständig erklärt. Die Wahl gibt also den Bürgern die Gelegenheit, sich in Personalfragen einzumischen, um bei der Politik ausgemischt zu bleiben. Das reklamieren Politiker auch, wenn sie gegen kritische Stimmen aus dem Volk die überflüssige Feststellung betonen, dass sie gewählt worden sind – wenn sie sich also mit dem Hinweis auf ihre Ermächtigung von keinem Argument und von keiner Demonstration beeindrucken lassen, die Pflicht zum Ruhegeben dekretieren, und es nicht nötig haben, auch nur ein Wort über die strittige Sache zu verlieren.

II. Die Verwandlung von Unzufriedenheit in Antikritik

Die Wahl stellt den Wähler vor die Entscheidung, bei wem er die Macht, der er sowieso gehorchen muss und die gar nicht zur Debatte steht, am besten aufgehoben sieht. Die Veranstaltung macht ihn zum ideellen Bevollmächtigten, und insofern zum bedingungslosen Parteigänger der Regierungsgewalt, die über ihn ausgeübt wird: In ihrem Namen darf und soll er die Kandidaten für die zu vergebenden Posten kritisch prüfen. Sie ist der Maßstab, an dem die Bewerber sich bewähren und messen lassen müssen – genau genommen nicht so sehr die Herrschaft selbst, vielmehr ein Ideal von ihr, das die Herstellung, Aufrechterhaltung und Ausübung von Herrschaftsverhältnissen als eine einzige Hilfestellung für ein bürgerliches Leben unter den "gegebenen Verhältnissen" im Kapitalismus vorstellig macht, und die Staatsgewalt als Schutzmacht für eine "gewachsene Volksgemeinschaft" im Innern und nach außen. Ein derart verkehrtes Bild der politischen Macht ist die Prämisse aller Urteile über die Wahlbewerber und deren "Glaubwürdigkeit". Alle kritische Aufmerksamkeit gilt dem vorzeigbaren und in Aussicht gestellten Erfolg der Kandidaten bei ihrer schönfärberisch dargestellten Tätigkeit – und deswegen nicht zuletzt ihrem Erfolg bei der schönfärberischen Darstellung ihrer Tätigkeit. Dieser "Kritik" fallen die nicht gewählten Kandidaten zum Opfer. Für die politische Elite insgesamt, die auf diese Art in die höchsten Ämter drängt, ist diese Überprüfung jedoch leicht auszuhalten. Denn das Kriterium, das da an sie angelegt wird, ist gar kein anderes als dasjenige, an dem die Herrschaftsaspiranten sich selber unbedingt bewähren wollen: die Macht, die mit ihrem Amt verbunden ist, fest in Händen halten; sie so gebrauchen, dass sie keinen Schaden nimmt, sondern wächst – und ihr Inhaber mit ihr; sich als Herrschaftsfigur gegen alle Anfechtungen und am Ende unanfechtbar etablieren und vor den Regierten eine gute Figur machen; mit der anvertrauten Macht möglichst derart verwachsen, dass Amt und der Name in der Figur eines demokratisch gewählten "Sonnenkönigs" austauschbar werden, der dann als Vorbild gelungener Herrschaft gilt. Die Herrschaftskritik, zu der eine freie Wahl die der Herrschaft unterworfenen Wähler herausfordert, ist entschiedene Antikritik, sowohl, was die Herrschaft selbst, als auch, was die Machtgier der zu wählenden Herrschaften betrifft.

III. Die "demokratische Reife" einer Nation

a) Demokratische Wahlen gibt es nicht überall, sondern vor allem in den "gefestigten Demokratien" des Nordens. Da läuft das Wählen geordnet ab und stiftet mit der Auszählung der Stimmen auch wieder den politischen Frieden, den der Wahlkampf kalkuliert und befristet in Frage stellt. Dort ist dermaßen viel dermaßen fest geregelt, dass es glatt Alternativen des Wer und Wie der Machtausübung gibt, ohne dass sonst irgendetwas, geschweige denn die Macht und ihre Ausübung selber in Frage gestellt würde. Da herrscht jenseits jeder freien Wahlentscheidung das Recht, das allen gesellschaftlichen Interessen vorschreibt, wie sie zu verfolgen sind, und das durch die systematische Ermächtigung und Beschränkung aller Bürger für inneren Frieden und ein funktionales Zusammenwirken aller gegensätzlichen und konkurrierenden Interessen sorgt. Da ist die Herrschaft selbst in Exekutive, Legislative und Judikative aufgeteilt, als System arbeitsteiliger Gewalten organisiert, welches die Inhaber der Macht mit festen Teilaufgaben im Rahmen quasi objektiver Staatsziele betraut und so in grundsätzlich austauschbare Staatsdiener verwandelt. Da kommt nichts durcheinander, wenn verschiedene Parteien um die höchsten Staatsämter konkurrieren und das Wahlvolk zur Entscheidung ihres Gerangels einladen.

b) Zu derart wohlgeordneten Gemeinwesen haben es die erfolgreichen unter den kapitalistischen Ausbeutungsgesellschaften gebracht. Sie beruhen auf Gewalt und Herrschaft, denn nur die Macht des Staates schafft und schützt die Privatmacht des Eigentums an Produktionsmitteln und schließt die große Mehrheit der Untertanen davon aus. Diese Mehrheit wird durch das Recht der Macht der Eigentümer ausgeliefert und auf die Rolle des arbeitsamen Kostenfaktors für deren Gewinnmaximierung festgelegt. Der moderne kapitalistische Staat hat sogar die Rolle von Arbeitskräften unter fremdem Kommando und für fremden Nutzen durch umfassende Verrechtlichung zu einer anerkannten, mit gesetzlich geschützten Ansprüchen und Pflichten ausgestatteten Erwerbsquelle ausgebaut, die insofern gleichberechtigt neben der Erwerbsquelle der vermögenden und ausbeutenden Klasse steht. Proletarier wie Fabrikherren sind verpflichtet, auf vertraglicher Basis zu verkehren und den Arbeitsvertrag einzuhalten, der selbstverständlich die für das Kapital rentable Arbeit zum Gegenstand hat. Sogar dem Interesse, das den kapitalistischen Laden stört, sobald es sich meldet – demjenigen an einem befriedigenden Lebensunterhalt, an kurzen Arbeitszeiten und bequemen Arbeitsverhältnissen –, hat dieser Staat den ihm gebührenden, nämlich nachrangigen Platz im Gemeinwesen zugewiesen; und den schützt er dann. Wenn sie auf diesen Schutz setzen, sind die Lohnabhängigen grundsätzlich reif dafür, die Macht zu wählen, die sie lohnabhängig macht. Sie müssen dann noch ihre unvermeidliche Enttäuschung richtig verarbeiten; nämlich ihre bleibende Unzufriedenheit aufteilen: in den einen Teil, wo nichts zu machen ist, weil "die Verhältnisse nun einmal so sind", wie sie sind, wo jeder selber schauen muss, wie er durchkommt; und in den anderen Teil, wo einem zugestanden wird, sich über überflüssige Härten und Benachteiligungen zu beschweren, und den Regierenden deren Unvermögen vor ihrem eigentlichen Auftrag vorzuwerfen. Auf die Art werden Lohnarbeiter im Namen der Herrschaft, die sie auf ihre unschöne Lebenslage festnagelt, zu Kritikern der Herrschenden. Wenn sie es mit dem Übelnehmen nicht übertreiben, sondern Einsicht in das Unvermeidliche zeigen und ihre Unzufriedenheit auf eine Wahlstimme für die Partei beschränken, die sie für das kleinere Übel halten, also mit ihrem aktiven Wahlrecht so passiv bleiben, wie sich das gehört, dann ist auf sie Verlass und die Demokratie ist stabil.

c) Aktiv sind in der Demokratie diejenigen, die das passive Wahlrecht wahrnehmen und sich in die Machtpositionen hineinwählen lassen; der Wille des so genannten demokratischen "Souveräns" ist Produkt der von ihnen betriebenen politischen Willensbildung. Wenn sie sich konkurrierend um das Vertrauen der Wähler bemühen, dann verlangen sie von denen immer wieder eine ziemliche Frechheit: Die Wähler sollen strikt unterscheiden, zwischen einerseits der Herrschaft – einen unparteiischen "Sachzwang" des "Zusammenlebens", den sie brauchen –, und dem Personal der Herrschaft andererseits. Wahlkämpfer greifen jede vorhandene oder erregbare Unzufriedenheit im Volk auf, verwandeln sie in einen Ärger über Versäumnisse und Fehler der Mächtigen und geben ihr in dieser Fassung unbedingt Recht. Sie stellen dem breiten Publikum seine systemnotwendigen, mit seiner ökonomischen Rolle einhergehenden Nöte als Resultat des vermeidbaren "Versagens" der Regierung dar, die "es nicht kann". Gegen die Opposition, die die Beschädigung aller möglichen Interessen als "Versäumnis" anprangert, bestehen die Amtsinhaber auf der sachzwanghaften Notwendigkeit ihrer Aktionen angesichts einer Lage, in der auch die Opposition nicht anders handeln könnte; die in Wahrheit "keine Konzepte" hat, sondern nur "leicht reden" kann, weil sie keine "Verantwortung trägt". Im Endeffekt definieren die feindlichen Werbestrategen, wenn sie dem Volk sagen, welche seiner Nöte es unter ihrem Kommando nicht bräuchte, die Nöte, die schon sein müssen – für den Standort, die Konjunktur, die Arbeitsplätze, das Budget etc. Die sollen dann gegen den Verdacht immun sein, dass da ein ziemlich massenfeindliches Interesse am Werk ist.

IV. Das demokratische Gütesiegel: Führerqualität

Das demokratische Kunststück, dem Wahlvolk Alternativen vorzulegen, damit es durch die Wahl zwischen ihnen unterschreibt, dass es keine Alternative hat, kommt zum Kern der Sache, wenn sich die Konkurrenten um die Wählergunst unmittelbar als Personen empfehlen, die Führung bieten, und sich durch nichts als die gekonnte Demonstration ihrer Führungsqualitäten mehr vom Konkurrenten unterscheiden wollen. Die Wähler, die sich von solchen Machtmenschen die Frage vorlegen lassen, wer "der Beste" ist, anerkennen in aller Freiheit, nämlich indem sie eine Auswahl treffen, dass sie Herrschaft brauchen, und finden überhaupt nichts dabei, sich von Machthabern ihre Existenzbedingungen diktieren zu lassen – nach Gesichtspunkten und im Interesse von Zielsetzungen, denen sie nicht wirklich auf den Grund gehen. In ihrer vollendeten Form hat die Freiheit, die die Wahl stiftet, doch gewisse kulturelle Voraussetzungen: Sie fordert vom Wähler die Bereitschaft, sich durch die Inszenierung von Führungskraft und Leutseligkeit, durch inszenierte Schaukämpfe und inszenierten Jubel, durch flotte Werbesprüche und die Wucht des seinetwegen betriebenen Aufwands beim Einseifen beeindrucken zu lassen; sie verlangt danach, die Angeberei politischer Häuptlinge vergleichend zu würdigen und die Prominenz insgesamt "irgendwie gut" zu finden. Die Dummheit ist gefragt, über politische Machthaber persönliche Geschmacksurteile zu fällen; sei es auf der Hurra-Ebene oder unter Berufung auf einen "persönlichen Eindruck", sei es in der Rolle eines ideellen Image-Beraters oder des abgeklärten Durchblickers, der die politische Überzeugungskraft eines Kandidaten nach dem dabei erzielten Erfolg benotet. Funktionierende Demokratien zeichnen sich durch eine pluralistische Öffentlichkeit aus, die ihre abschätzigen wie respektvollen Einschätzungen für jedes Anspruchsniveau gerecht verteilt, und so ihr Publikum zum sachkundig-kritischen Genuss des parteiischen Personenkults erzieht, aus dem diese Öffentlichkeit auch zwischen den Wahlen besteht.

V. Die Sicherstellung der Herrschaft vor dem Wähler und der Wahl

a) Trotz der umfassenden Durchsetzung und Anerkennung des Rechts, der gelungenen Integration der ausgebeuteten Klasse ins Gemeinwesen und der erfolgreichen politischen Willensbildung verlassen sich die Demokraten von oben nicht auf die hergestellte Harmonie zwischen der Herrschaft und ihrer Basis: Sie entziehen den Staat der Beurteilung, indem sie die Performance der Staatsagenten zum Gegenstand der Beurteilung machen, sie ersparen dem Staat den Unmut der Geschädigten und das Risiko der Zustimmung des Volkes zu ihm, indem sie die Karrieren seines Personals dem Risiko der Ablehnung aussetzen.

b) Die Wahl, das ist diesmal speziell dem Agieren der ÖVP zu entnehmen, hat ihre vornehmste Aufgabe in der Emanzipation geplagter Regierungen vom blöden Volk. Dem dürfen in aller Regel keine Sachentscheidungen ausgeliefert werden, wie sie der EU-Reformvertrag eine ist – schon gar nicht, wenn die Volksabstimmung darüber mit großer Wahrscheinlichkeit verkehrt ausgeht. Sobald die SPÖ aus politischer Verantwortungslosigkeit mit dieser Regel brechen möchte bzw. in einem Brief damit kokettiert, bleibt der staatstragenden ÖVP eine bezeichnende Alternative. Sie kann das Volk, das wegen seiner diesbezüglich Unfähigkeit vom Mitregieren tunlichst fernzuhalten ist, zu der politischen Tätigkeit aufrufen, die es wirklich gut kann: Zum allgemeinen Wählen, zur Volksabstimmung über die politischen Führer, also zu Personalentscheidungen. Das ist die Art von Entscheidungen, auf die das Volk sich gut versteht und der erprobte Weg, es ohne unerwünschte Folgen an all den politischen Fragen teilhaben zu lassen, die es so oft nicht richtig kapiert. So einbezogen kann es nicht nur keinen Schaden anrichten, sondern im Rahmen seines staatsbürgerlichen Berufes den Beitrag zur Lösung der nationalen Problemlagen liefert, zu dem es durch die Verfassung bestellt ist: Es überträgt an seine Repräsentanten die Kompetenz zu Sachentscheidungen, die dann – unwiderruflich bis zur nächsten Wahl – im Namen des Volkes durch die Verantwortungsträger getroffen werden, denen die Wähler dazu die Ermächtigung geliefert haben.

c) Melden sich in einem Land politische Alternativen zum Staatsprogramm und bestreiten praktisch dessen Gültigkeit, oder wollen sich gar die Untertanen mit ihrer Rolle als Wahlvolk nicht mehr bescheiden und lieber ihre Interessen selbst in die Hand nehmen, dann stellt nicht der Staat sich und sein Programm, sondern eben die Wahl zur Disposition. Mit diversen Notstandsgesetzen, mit denen er noch den härtesten Gegensatz zwischen sich und seinen Bürgern kodifiziert, stellt er ein letztes Mal klar, dass das demokratische Prozedere Mittel der Herrschaftsausübung ist, so dass, wenn die fraglose Zustimmung zu ihm nicht gegeben ist und deswegen lieber auch nicht abgefragt wird, deren Herstellung auf der Tagesordnung steht – und zwar mit dem Einsatz von Polizei und Militär, womit denn sonst?

VI. Der aktuelle Wahlkampf: Armut als "Argument"

Mehr Familienbeihilfe, kostenloses Kindergartenjahr, Halbierung der Mehrwertsteuer auf Lebensmittel, Erhöhung des Pflegegeldes, "bedarfsorientierte Mindestsicherung", Abschaffung der Studiengebühren, überproportionale vorzeitige Pensionserhöhung und manches mehr wird angeboten. Bevor man sich über die aufgelisteten guten Werke freut und als Wähler höchstens skeptisch gegenüber der "Umsetzung" so vieler schöner "Wahlversprechen" wird, sollte man innehalten und sich vergegenwärtigen, was da verkündet wird. In allen Varianten der angekündigten Volksbeglückung ist nämlich von Armut die Rede, nur von Armut und von nichts als von flächendeckender Armut.

Es verhält sich offenbar so, zumindest kann man das den Verlautbarungen entnehmen, dass kein normaler Mensch mehr von seinem Einkommen einigermaßen leben kann: Als Familienerhalter oder Alleinerzieherin, als Konsument von Lebensmitteln und Benzin oder Heizöl, als potentieller oder aktueller Pflegefall, als Pensionist, als Langzeitarbeitsloser ohnehin, ebenso als "prekär" Beschäftigter in einem Teilzeitjob – in all diesen Ausprägungen ist der österreichische Mensch finanziell schlicht und ergreifend überfordert. Ein paar lumpige Preiserhöhungen, und er schafft es nicht mehr. Familien sind "armutsgefährdet", Pflegefälle sowieso, Pensionisten schon gleich, inzwischen verarmen immer mehr stinknormale Konsumenten und die Bezieher von "Leistungen" der Arbeitslosenversicherung seit je: Wenn dem nicht so wäre, dann wäre kein Wahlkämpfer je auf die Idee mit der Familienbeihilfe, der Mehrwertsteuersenkung, dem kostenlosen Kindergarten etc. usw. gekommen. Alle diese Wahlversprechen dokumentieren die ganz normale Armut. Im Versprechen auf Linderung werben die zu wählenden Machthaber allen Ernstes mit der unter ihrer Regentschaft erzeugten Armut der Wähler – bei den Wählern, und natürlich für sich und ihre Macht.

An dieser Armut kann sich grundsätzlich auch nichts ändern, das wird von den edlen Spendern gleich dazu gesagt. Damit die teuren Sozialleistungen und Familienförderungen "finanzierbar" sind, muss "die Wirtschaft" auf alle Fälle einmal florieren, weil der Staat bekanntlich nichts "verteilen kann", was nicht vorher erarbeitet wurde; und damit diese eigenartige Wirtschaft zufrieden stellend läuft, darf sie nicht überfordert werden – etwa durch Löhne bzw. Arbeitszeiten, die ordentlich hoch bzw. angenehm kurz sind. Sehr eigenartig: "Die Wirtschaft" macht die Leute erst arm, indem sie als zu minimierender Kostenfaktor bezahlt und als zu maximierender Leistungsfaktor ausgequetscht werden – und das alles, um die Armen nachher mit Sozialleistungen zu beglücken!? Es ist etwas banaler: Die Lohnsenkungswellen der letzten zwei Jahrzehnte im Interesse des Kapitalstandortes haben die Einkommen und Lohnersatzleistungen soweit dezimiert, dass darunter nicht nur die Leute, sondern vor allem ihre staatlich erwünschten Dienste leiden, z.B. was die Aufzucht der nächsten Generationen betrifft. "Familie" ist in der Diktion der ÖVP synonym für "Armut"; und ihre sozialstaatlichen Funktionen der Familie, von einer einigermaßen geregelten Existenz als lohnarbeitender Aktiver mit Kindern, bis zu einer halbwegs geordneten Lebensführung als Pflegefall in gerade noch oder auch nicht mehr erträglicher Altersarmut – die werden gestützt. Natürlich nur, soweit die "Finanzierbarkeit" gegeben ist.