Französische Arbeiter lassen sich nicht alles 
gefallen
Auch in Frankreich finden Massenentlassungen statt, in einigen Firmen 
werden die Arbeiter militant und sperren ihre Bosse oder Manager ein. Das wird 
hier zum Teil bewundert, „die wehren sich wenigstens ...“, aber noch mehr 
skandalisiert: „Das darf es hier niemals geben!“ - so die Debatte neulich im 
ARTE-TV. Tatsächlich beantworten die Belegschaften in zahlreichen französischen 
Firmen die Mitteilung der Geschäftsleitung, dass ihre Dienste nicht mehr 
gebraucht würden, auf eine freche Art. Während deutsche Arbeitnehmer in solchen 
Lagen Särge herumtragen, in denen sie die Arbeitsplätze oder ihr Vertrauen in 
die Arbeitgeber oder gar deren Anstand beerdigen, nehmen französische Kollegen 
ihre Bosse in Geiselhaft. Sie sollen genötigt werden, es sich noch einmal anders 
zu überlegen und ihre unsoziale Entscheidung zurückzunehmen. 
Eine Sprecherin 
von Lutte ouvrière (Arbeiterkampf) :
„Die Menschen wollen ihren Arbeitsplatz 
verteidigen. Sie, die Unternehmer, können das nicht verstehen. Die Leute haben 
30 Jahre lang dem Unternehmen alles geopfert, ihre Familie, ihre Gesundheit, und 
jetzt kommt die Entlassung. Bei Molex haben die Arbeiter im letzten Jahr einen 
Preis bekommen, wegen hervorragender Rentabilität, und jetzt das! Sie 
verteidigen sich mit den Mitteln, die sie haben, und wir sind 
solidarisch.“
Die Frau vom Arbeiterkampf wird schon wissen, dass die Firma 
mit den Arbeitern als Betriebsmitteln rechnet, sie also wegen derselben 
Profitrechnung auf die Straße gesetzt werden, wegen der sie sie vorher 
eingestellt wurden. Die kämpferischen Geiselnehmer aber kümmern sich überhaupt 
nicht um den  ökonomischen Zweck eines kapitalistischen Betriebs, dem ihr 
Erwerb jetzt zum Opfer fällt; sie opponieren auf einer ganz anderen, nicht 
ökonomischen, vielmehr höchst moralischen Ebene: Ausgerechnet daraus, dass sie 
über die Jahre selbstlos immer die Opfer gebracht haben, die für Rendite und 
Erfolg der Firma erforderlich waren, daraus, dass sie immer nur die braven 
Dienstleute waren, mit denen der Chef alles machen konnte, und sie sich und ihr 
Familienleben darüber haben kaputt machen lassen - ausgerechnet daraus soll 
ihnen das Recht erwachsen, nun einmal auf sich und ihrer Weiterbeschäftigung zu 
bestehen. Sie tun so, als hätten sie mit der Dummheit, sich ein Leben lang 
ausbeuten zu lassen, eine soziale Pflicht erfüllt, wahre Treue gegen ihren 
Dienstherren bewiesen – und finden es nun sehr schofel, dass der eine ähnlich 
Treue ihnen gegenüber vermissen lässt. Sie nehmen die Ideologie vom 
„Arbeitgeber“ bitter ernst und klagen den Chef an, er habe seine Berufspflicht, 
Arbeit zu geben, verletzt.
Dass sich die Patrons aus ihrer Verantwortung für 
Arbeitsplätze stehlen, lassen die wütenden Kämpfer ihnen nicht durchgehen: Sie 
verstehen ihre Entlassung als einen Akt asozialer Gewalt und beantworten ihn mit 
ihrer für legitim befundenen Gegengewalt. Sie besetzen das Chefbüro, lassen ihn 
nicht heimgehen. Er soll sich vom drohenden Arbeiterwillen bedrängt fühlen, 
Demütigung und Abhängigkeit erfahren, wie sie für die Mitglieder der Elite 
unbekannt sind. Mit ihrer Erpressung nehmen die Aktivisten die Person, die die 
Entlassungsentscheidung gegen sie durchsetzt, persönlich  in Haftung: Das 
Treueverhältnis, das sie sich dem Chef gegenüber zugute halten, versuchen sie, 
in umgekehrter Richtung zu erzwingen.
Dabei haben sie sich komische Probleme 
eingehandelt: 
„Das  Problem ist, dass die Aktionen fast alle in 
ausländischen Unternehmen gelaufen sind. Wo ist der Ansprechpartner, fragen sich 
die Leute. Ich habe nichts gegen Ausländer, aber wer sind die Ansprechpartner, 
wenn es um Entlassungen geht? Die sitzen in Indien oder wie bei Molex, wo sich 
herausstellte, dass der festgesetzte Manager die Entscheidungen gar nicht 
trifft. Die werden woanders getroffen, 10 000 km entfernt, von Leuten, die man 
nicht kennt, von denen man nicht weiß, warum sie so entscheiden, in welchem 
Namen und mit welcher Legitimität! Da versetzen Sie sich mal in die Arbeiter, 
die schreien in den Wald und bekommen keine Antwort, das beunruhigt 
mich.“
Der Gewerkschafter von der CFDT beklagt sich, an die eigentlich 
Verantwortlichen käme man nicht heran – so als ob es an der räumlichen 
Entfernung und der fehlenden Bekanntschaft mit den obersten Bossen läge, dass es 
den Arbeitern nicht gelingt, den kapitalistischen Profitwillen eines Konzerns zu 
verhaften. Fast klingt aus solchen Kritiken eine gewisse Sehnsucht nach dem 
Patron vergangener Jahrhunderte, der am Ort wohnt, die Leute, die er ausbeutet, 
mit Namen kennt und ihnen in die Augen sehen muss, wenn er sie ins Elend stürzt. 
Oder – in einem anderen Fall – hatte der seiner Freiheit beraubte Chef etwas 
zu sagen, hält sich aber an den Rat des Präsidenten der Republik und verspricht 
seinen Bedrängern alles, was sie verlangen. Sarkozy: Unter Nötigung abgegebene 
Versicherungen haben selbstverständlich keine Gültigkeit. Der Staat schützt die 
Freiheit beider Vertragsparteien, Arbeitsverträge zu schließen und aufzulösen. 
Dass Arbeiter auf die Gelegenheit zur Arbeit existenziell angewiesen sind, 
berechtigt sie nicht zur Nötigung, wenn das Kapital sie nicht mehr 
braucht.
Auf die eine wie die andere Weise werden die Geiselnehmer darüber 
belehrt, dass sie nicht unter verantwortungslosen, nur an ihrem Profit 
interessierten Individuen leiden, die man Mores lehren könnte, sondern unter 
einem kompletten, staatlich geschützten Wirtschaftssystem. Das lässt sich nicht 
verhaften und auch nicht moralisch beeindrucken.
Wie zum Hohn bekommen die 
militanten Arbeitsplatzverteidiger auch noch  von den Vertretern genau 
dieses Systems mitgeteilt, dass sie einer ökonomischen Sachgesetzlichkeit 
gegenüberstehen, deren Prinzip und Funktionsweise sich nicht durch Appelle oder 
individuelle Verhaltensänderungen korrigieren lässt. Olaf Henkel, früherer 
BDI-Präsident, redet wie mit Kindern, wenn er auseinandersetzt, dass ein 
Kapitalist, der in der Konkurrenz steht, Zwängen ausgesetzt ist, denen er 
entsprechen muss. Seine Entscheidungen können und dürfen also nicht an den 
Interessen der davon Betroffenen gemessen werden.
„Das Problem ist doch: Wenn 
der Automobilabsatz um 50% sinkt, kaufen die Unternehmen auch keine Reifen mehr, 
und dann können wir auch keine Reifen herstellen. Wer will sie denn kaufen? Die 
Regierung kann sie nicht kaufen, wir können sie auch nicht alle auf den 
französischen Straßen anzünden. Es muss also reagiert werden, zum Beispiel im 
Interesse des anderen Reifenwerks, das noch produziert, im Elsass.“
Der 
Reifenhersteller Continental baut in der Krise Überkapazitäten ab und schließt 
eines seiner französischen Werke, um seine Rendite zu verteidigen. Das sagt der 
Propagandaprofi aus Deutschland so nicht. Das ist aber auch nicht nötig: Dass 
Arbeitsplätze rentabel sein müssen, um „sicher zu sein“, ist in der Runde, in 
der er spricht, offenbar allen klar und wird noch nicht einmal von den 
Verteidigern der Geiselnehmer bestritten. Wenn der Unternehmer sagt: 
Konkurrenz!, dann nicken alle mit dem Kopf - da gelten eben Sachzwänge, gegen 
die man nichts machen kann. Dafür muss man allerdings auch glauben, dass 
Konkurrenz eine Art Naturgesetz oder göttliche Anordnung ist. Schon kann sich 
Henkel die nächste Frechheit erlauben und Entlassungen an einem Conti-Standort 
als Akt der Fürsorge – nicht für die Dividende der Aktionäre, sondern für die 
Arbeitskräfte am anderen Standort – ausgeben. 
„Ich möchte einmal die 
Unternehmer verteidigen, das sind doch keine Sadisten, denen gefällt das auch 
nicht, Leute auf die Straße zu setzen...Es ist eine Beleidigung der Unternehmer 
und Politiker in Frankreich und Deutschland, wenn behauptet wird, dass die sich 
nicht um das Interesse ihrer Angestellten kümmerten. Das gehört doch zu ihrer 
allerersten Aufgabe! Ich möchte Ihnen noch einmal sagen, ich kenne viele 
Unternehmer, aber keinen, der gern eine Fabrik schließt oder Leute entlässt. Ich 
kenne aber viele, die mit Spatenstichen neue Fabriken einweihen und gerne Leute 
einstellen.“
Das ist glaubwürdig: Natürlich bauen Unternehmer Arbeitsplätze 
nicht gerne ab; sie stellen sie ja hin, um an ihnen zu verdienen. Und sie 
entlassen nur, wenn Arbeitskräfte sich nicht oder nicht mehr oder weniger als 
geplant rentieren. Weil sie nicht aus Jux und Tollerei, sondern aus ihren 
geschäftlichen Erwägungen entlassen, soll ihr Handeln als Einsatz für die 
Interessen der Angestellten gewürdigt werden.
Egal, ob die Geiselnehmer 
einem wie Olaf Henkel die frechen Sprüche abnehmen: Auf ihre Weise anerkennen 
auch sie selbst, dass sie es mit einem Wirtschaftssystem zu tun haben und nicht 
nur mit verantwortungslosen Individuen im Chefsessel. Sie anerkennen es dadurch, 
dass sie diese  Individuen nach einer Nacht oder schon früher wieder in die 
Freiheit entlassen. Und dann?
Dann können und dürfen die Chefs ihre 
Entlassungen durchziehen. Damit ist die Sache erledigt. Die Kämpfer, die ihren 
Lebensunterhalt verlieren und nicht wissen, wie sie einen neuen finden sollen, 
haben es „probiert“; sie haben mit der Regelverletzung auf ihre außerordentliche 
Betroffenheit aufmerksam gemacht, haben es sich herausgenommen auszurasten. Die 
Freiheitsberaubung war ein Hilferuf an die Nation und wird in Frankreich auch so 
verstanden: Angeblich findet eine satte Mehrheit der Bürger die Reaktion 
verständlich. Der Unterschied der französischen Militanz zu den Särgen, die man 
in Deutschland in vergleichbaren Situationen zu sehen bekommt, ist nicht eben 
groß: Andere Länder, andere Sitten, gleiche Fehler!