GEGENARGUMENTE

Die Leistung der demokratischen Wahlen – vorgeführt von Barack Obama

Wie die Unzufriedenheit der Bürger produktiv gemacht wird für die Fortschritte der Herrschaft

Wie Barack Hussein Obama den Weg zum 44. Präsidenten der USA gemeistert hat, hat zu einer Orgie der Bewunderung für diesen Mann geführt. Und das nicht nur beim amerikanischen Wahlvolk und seinen meinungsbildenden Betreuern, sondern auch bei deutschen und sonstigen Weltbürgern, die ihn gar nicht wählen können. Darüber hinaus gelten Wahlkampf und Machtübernahme des ersten schwarzen Chefs der Weltmacht Nr. 1 als ein mustergültiger Beleg für die Schönheit und die Leistungsfähigkeit der Demokratie. Nicht ganz zu Unrecht. Denn vom Standpunkt effektiver Herrschaft aus hat diese Staatsform in der Tat einige Vorzüge zu bieten.

1. Change als Angebot ans Volk:

Hoffnung auf den guten Führer – für eine neue Runde freiwilliger Auslieferung an die Staatsgewalt

Barack Obama ist als Bewerber um das höchste Amt der USA gegen altgediente Konkurrenten in und außerhalb seiner Partei angetreten. Er kommt aus der demokratischen Opposition und präsentiert sich von Anfang an als deren radikalster Vertreter. Er konfrontiert die Bürger mit der Hauptparole "change!"‚ plädiert für eine umfassende Veränderung – ohne jedes Attribut, ohne Objekt und Zielangabe. So nimmt er Bezug auf die grassierende Unzufriedenheit im Lande, erklärt sich zu ihrem Sprachrohr und Anwalt. Die vollständige Abstraktion von jedem Inhalt und von allen Gründen des Unmuts, die in der Leerformel vom notwendigen Wechsel daherkommt, ist beabsichtigt: Sie gibt jeder beliebigen Beschwerde Recht. Denn das ist der Trick dieses oppositionstypischen Wahl(kampf)programms, das mit nur einem Wort auskommt: Es bietet jedem zur Wahl aufgerufenen Bürger die Möglichkeit, seine Vorstellungen und seine Wünsche, worin auch immer sie bestehen mögen, hineinzulegen in das Versprechen vom Wandel, den der neue Präsidentschaftskandidat Obama in Aussicht stellt. Dafür ist die Parole gut und dafür gibt der Politiker in seinen Reden den passenden Nachhilfeunterricht. Er zählt gleich selbst alle möglichen Missstände auf, an welchen man als rechtschaffener Bürger Anstoß nehmen kann – Missstände, die lauter Änderungswünsche provozieren müssen. Und das sollen sie auch. Denn die will er bestätigen und verstärken, um sie einzusammeln und abzuholen und ihnen eine konstruktive Richtung zu weisen: Bei ihm ist alle Unzufriedenheit bestens aufgehoben! Und an Anlässen bietet die kapitalistische Weltmacht Amerika schließlich keinen Mangel, wie man den Wahlreden des Kandidaten entnehmen kann:

- Dass etwa verdiente Alte von ihren Renten nicht mehr leben können;

- dass Millionen Kinder nicht krankenversichert sind und die medizinische Versorgung für viele Landsleute unerschwinglich ist;

- dass immer mehr anständige Bürger ins Elend abstürzen, egal, ob sie einen oder mehrere Jobs oder gar keinen haben;

- dass die hohen Benzin- und Energiepreise zur Verarmung beitragen und die Politik sich nicht um neue Energiequellen, die Umweltzerstörung und den Klimawandel gekümmert hat;

- dass viele ihre Häuser und Vermögen verlieren, weil sie die Kredite nicht mehr zahlen können, mit denen "gierige Banker" ihre Geschäfte machen;

- dass Guantánamo den USA Schande bereitet, ein gerechter Krieg gegen die Taliban nicht gewonnen wird, während ein "dummer Krieg" im Irak unnötigerweise Soldatenleben verheizt und Amerikas Ruf in der Welt beschädigt;

solche und andere Zustände, die der gute Ami-Staatsbürger beklagen mag, firmieren in den Wahlkampfreden des Barack Obama als beliebig variierbare und kombinierbare Stichwörter, welche die Unzufriedenheit der Bevölkerung auf- und abrufen und die Notwendigkeit eines change anschaulich machen. Gleichgültig, ob es sich um materielle Sorgen der Konkurrenzsubjekte oder um Beispiele verletzten Nationalstolzes handelt, alles ist willkommen zur Aufbereitung und Bebilderung der entscheidenden Botschaft: "Amerika muss verändert werden." Eine Botschaft aus Politikermunde, die zu Recht kein demokratisch erzogener Mensch als Auftakt zu einer Debatte missversteht, was wie zu verändern wäre, sondern so versteht, wie sie gemeint ist: als Schluss des politischen Dialogs zwischen dem Volksvertreter und seinem Volk.

Dieser Schluss fordert eine einzige Konsequenz, und die ist auch schon die Lösungsperspektive für alle Probleme: den Glauben des zur Wahl gerufenen Bürgers, dass ein Präsident Obama Amerika zum Besseren verändert. Dazu macht die zweite Parole Mut, die dem Aufruf zum change auf dem Fuße folgt: "We can believe in". Die kommt in der vereinnahmenden 1. Person Plural daher, der die unzufriedenen Bürger zum virtuellen Mitsubjekt des Wandels erhebt, wobei von vorneherein klar ist, wie das so beschworene Gemeinschaftswerk gemeint ist. Sie, die Bürger, sollen an ihn glauben. Und mitmachen, indem sie ihn, Obama, zum Präsidenten machen, der dann von der Spitze des Staates aus den Wechsel garantiert. Von daher passt es nur zu gut, wenn das zur Wahlkampfshow herbei geeilte Fußvolk die griffige Kurzform der Parole als Refrain anstimmt, wann immer der Mann am Mikrofon sie ihm vorformuliert. "Yes we can." Als Akklamation für einen neuen Führer und als Zeichen der Bereitschaft, die ihm angetragene Rolle zu übernehmen. Verlangt ist "hope", die Überführung der an- und eingesammelten Unzufriedenheit in eine ebenso prinzipielle wie grundlose Zuversicht, die sich auf die Wachablösung des Herrschaftspersonals richtet. Das ist die politische Willensbildung, auf welche die Demokratie so stolz ist. Sie arbeitet zielstrebig auf die Verwechslung hin, welche die Bürger sich einleuchten lassen sollen: die Verwechslung in Bezug auf den Grund ihrer Misere. Alle Schädigungen und uneinlösbaren Ansprüche, die das Wirken der Staatsgewalt und die systemgemäße Indienstnahme der Leute hervorbringt, werden dem alten Regierungspersonal angelastet; sie werden abgebucht auf dem Konto "das Erbe von Bush". Und alle Hoffnungen und Erwartungen werden nach Kräften auf ihn, den neuen Hoffnungsträger, fokussiert. Verfangen kann solch eine Kampagne nur, wenn der menschlichen Manövriermasse der Herrschaft eine andere, fundamentale Verwechslung zur Gewohnheit geworden ist: wenn Leute die Schädigung ihrer Interessen nicht gegen die Konkurrenz-Ordnung aufbringt, die sie sich dauernd bieten lassen, sondern ihre fatale Abhängigkeit von der politischen Gewalt zum Anlass nehmen, auf mehr Rücksicht und günstigere Behandlung durch die Obrigkeit zu setzen und sehnlichst auf entsprechende Angebote der ‚Zuständigen’ zu warten. Das erfolgreiche Ausschlachten dieser Dummheit ist exakt die Wahlkampfstrategie des oppositionellen Präsidentschaftskandidaten Obama. Auf dass die enttäuschten Bürger ihre Täuschung erneuern und sich ausgerechnet davon eine Besserung versprechen, dass sie einem anderen politischen Häuptling die Fortführung der Staatsgeschäfte übertragen, also ihm das Kommando über das Arsenal der staatlichen Mittel und die Entscheidung über ihre eigenen Lebensbedingungen überlassen. Dazu gehört, dass sie die Lüge unterschreiben, die ihnen Obama als Argument für die Berechtigung ihrer Hoffnung serviert – "Amerika, du bist besser." Will sagen: besser als du tatsächlich bist! Sie müssen sich als unverbesserliche Untertanen aufführen, die auf ‚Amerika’ bauen, egal, was es sie kostet. Nur dann leuchtet ihnen nämlich Obamas Diagnose ein, dass sie unter dem Versagen des letzten, des Anti-Terror-Präsidenten leiden und nicht unter der tatkräftigen Mission, der amerikanischen Nation die Weltmacht zu sichern; und dass der Glaube an den neuen Führer der einzig realistische Weg ist, ‚etwas zu verändern’ – realistisch: weil der dann über die Macht verfügt, die sie ihm geben; und zur Hoffnung berechtigend: weil der sie noch nicht hatte und Änderung verspricht.

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Obama tut alles, was nötig ist, um die multiple Unzufriedenheit im Volk fruchtbar zu machen für einen Wählerauftrag zum Regieren, also für seinen Erfolg gegen die anderen zur Auswahl stehenden Konkurrenten, zwei ‚erfahrene Profis’ aus der politischen Elite: zuerst die demokratische Rivalin H. Clinton, dann den republikanischen Vietnam-Haudegen McCain. Und nötig ist dafür nur eines: Die Bürgermehrheit der USA muss von der ebenso irrsinnigen wie wahlentscheidenden Aussicht ‚überzeugt’ werden, dass der Glaube an ihn als Hoffnungsträger berechtigt ist, sprich: dass er es wirklich ernst und gut meint mit dem versprochenen Wandel. Weil mit der Ermächtigung des Präsidenten der Einfluss des demokratischen Souveräns, des Volkes, auf die Herrschaft beendet ist, wünscht sich das Volk glaubwürdige Führer, die ihre Freiheit zum Machtgebrauch nicht ‚missbrauchen’. Diesen Wunsch zu bedienen, um ihn politisch zu funktionalisieren, ist die Hauptsache im demokratischen Wahlkampf. Obama und seine politischen Rivalen konkurrieren dementsprechend darum, das Vertrauen der Regierten auf sich zu ziehen. Das erfordert einige manipulative Anstrengungen, "ein Spiel mit den Emotionen", das der Kandidat Obama den öffentlichen Begutachtern zufolge so "perfekt beherrscht": Das sich im Privatleben hin und wieder einstellende, aus der Kenntnis eines Menschen resultierende Einvernehmen, welches gerade die Gewissheit einschließt, dass von ihm eine Schädigung der eigenen Interessen nicht droht, soll schließlich auf das politische Gewaltverhältnis angewandt und für es produktiv gemacht werden. Um das persönliche Zutrauen für seine Installierung als Herrscherfigur zu mobilisieren, muss er es erst mal aufbauen. Es gilt, die eigene politische Glaubwürdigkeit öffentlich und öffentlichkeitswirksam, also erfolgreich in Szene zu setzen. In dieser Persönlichkeitskonkurrenz um die effektivste Volksbetörung kann der "rasante Aufsteiger Barack Obama" einige Spezialitäten vorweisen, die sich – ex post betrachtet – als entscheidende Pluspunkte erweisen.

- Er gibt das Thema vor: Bush hat schlecht regiert, deshalb braucht es eine Wende zum Guten. Die Alternative, die Amerika braucht, ist er.

- Er personifiziert den Wandel, den er propagiert. Die etwas andere Selbstdarstellung Obamas wird zu einer besonderen Qualität, die sein change-Versprechen beglaubigt. Er bietet das Bild einer Persönlichkeit, welche souveräne Kompetenz und Entschlossenheit zu effektiver Krisenbewältigung statt ideologischer Voreingenommenheit auszeichnet. Er präsentiert sich als ein neuer Typ von Politiker, der ‚authentisch’ bleibt und die politischen (Un-)Sitten verändert: der die Vermischung von materiellem Egoismus und Amtspflichten beendet, der gemeinwohlschädliches parteipolitisches Machtkalkül hinter sich lässt, der statt Arroganz und falscher Kumpanei ein ehrliches Verhältnis zum normalen Volk pflegt und so die Ernsthaftigkeit seiner "Vision" auch menschlich verbürgt.

Die Ermittlung der Persönlichkeitsattribute, mit denen Obama angeblich oder wirklich bei der Jugend und sonst wem ankommt, sollte man den professionellen Liebhabern des Personenkults überlassen. Wenn die Presse vom guten Aussehen über seine "rhetorische Brillanz" und sportliche Fitness bis zu seinem "jungenhaften Grinsen, mit dem Obama so gern die Leute fängt" lauter gute Gründe ausfindig macht, warum einer zum Präsidenten gewählt wird, dann zeigt das nur eines: Wie selbstverständlich es für mündige Demokraten ist, dass derartige Geschmacksfragen bzw. das mehr oder minder erfolgreiche Styling der Politikerfiguren als vollkommen hinreichende Motive fungieren, einer ganz und gar unpersönlichen Herrschaft die Zustimmung zu erteilen.

- Und es fügt sich glücklich, dass er über natürliche Ausstattungsmerkmale verfügt, die er und seine Styling-Berater gar nicht eigens konstruieren müssen und die ihm, ebenso gratis, von der Öffentlichkeit als Vorzüge gutgeschrieben werden. Er ist nicht nur jung und sieht gut aus. Für die Glaubwürdigkeit seines change-Versprechens bürgt zu guter Letzt sogar seine abweichende Hautfarbe – ein Merkmal, welches seinem Träger normalerweise zum Konkurrenznachteil gereicht. Als Schwarzer steht Obama für die Underdogs und Opfer des Systems und den Willen, ‚etwas zu ändern’. Als Schwarzer, der neben seinem Elitestudium Sozialarbeit machte, statt als Zögling eines amerikanischen Politclans à la Bush groß zu werden, eignet er sich prächtig dafür, die ur-amerikanische Unzufriedenheit des freiheitsliebenden ‚taxpayers’ mit dem ‚politischen Establishment’ und denen im fernen ‚Washington’ einzukassieren. Und als "kometenhafter Aufsteiger", der ‚es’ – sprich: eine politische Parteikarriere – trotzdem geschafft hat, kann man ihm auch die Fähigkeit zur Durchsetzung nicht absprechen.

In dem Maße, wie der Zulauf des Wahlvolks und die Umfragen bestätigen, wie sehr er bei diesem "ankommt", bekommt Obama das Charisma, das Clinton und McCain nicht haben. Mit diesem Kompliment wird die Tatsache, dass sich politische Untertanen von einem Politiker, der die Herrschaft über sie beansprucht, persönlich beeindrucken und begeistern lassen, zum individuellen Merkmal des Menschen im Staatsmann stilisiert: Die unwiderstehliche Ausstrahlungskraft, die man einem wie Obama attestiert, firmiert als überzeugendes Argument dafür, dass man sich von ihm nur allzu gerne führen lässt. Das untertänige Bedürfnis nach einer guten Führerautorität wird so zum Qualitäts- und Berechtigungsausweis für den Politiker, der es derart eindrucksvoll zu bedienen versteht.

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Im so genannten Charisma eines Staatsmanns wie Barack Obama trifft sich die akkumulierte Unzufriedenheit der Bürger mit einer politischen Persönlichkeit, die sie gekonnt ausschlachtet. Kein Wunder, dass sich in Zeiten von Krisen und Kriegen die Zahl charismatischer Führer erhöht. Die Obamania ist so ein Idealfall demokratischer Herrschaft, ein Musterbeispiel für die Leistung, welche die periodischen Wahlen gratis erbringen. Die sind ein Verfahren und eine Gelegenheit, den sich notwendig einstellenden Dissens mit der ökonomisch gebeutelten und politisch drangsalierten Bevölkerungsmehrheit immer wieder aufzulösen. Durch das Angebot eines Personalwechsels an der Spitze wird deren freiwillige Zustimmung zur Staatsgewalt stets aufs Neue mobilisiert, eingefordert und eingeholt.

Die für Meinungsbildung zuständigen Anhänger der demokratischen Herrschaftsform scheuen nicht davor zurück, vor ihren Lesern offen auszubreiten, dass deren Überlegenheit und Schönheit in der Funktion besteht, den Willen der Untertanen stets von neuem für die Staatsgewalt einzunehmen, die auf ihre Dienste aus ist: "Er (Obama) versprach den Wandel, in Wahrheit aber vermittelte er Hoffnung. … löste eine Massenbewegung aus, er schürte Begeisterung… Das ist der sagenhafte Trick der Demokratie, den das Wahlsystem und die Beschränkung der Amtszeit für das politische Spitzenpersonal bereithält. Anfang ist immer und soviel Anfang wie diesmal war selten … Plötzlich fühlt sich Amerika wieder jung". (Amerikas Befreiung, SZ, 6.11.09)

2. Change als Forderung an die politische Klasse der USA:

Selbstkritik der Weltmacht – für die Neusortierung ihrer politischen Erfolgsmittel

Unzufrieden mit den Wirkungen der staatlichen Politik ist nicht nur die Masse der amerikanischen Bevölkerung, der Obama die konstruktive Perspektive bietet, dann doch ihn zu wählen. Unzufriedenheit hat sich auch angesammelt in weiten Teilen der politischen Elite, die mit der Führung der Staatsgeschäfte betraut ist und um sie konkurriert. Alle Kandidaten, die sich diesmal zur Wahl stellen, verlangen deshalb Korrekturen am Gebrauch der Macht, vor allem eben Barack Obama. Der change, der da gemeint ist, betrifft nicht das Einkassieren der Stimmung und Stimmen der Wahlbürger, sondern in der Tat die materielle Ausgestaltung der Herrschaft. Dieser Wechselbedarf hat seinen Bezugspunkt nicht in den scheiternden Privatrechnungen und Wünschen der Leute aus dem Volk; sein Kriterium ist umgekehrt der Erfolg der amerikanischen Staatsgewalt, dem die Indienstnahme der Leute gilt. Und da liegt – so das Ergebnis der Besichtigung durch den Oppositionskandidaten – einiges im Argen. Seine allgemeine Bestandsaufnahme -

"Unsere Nation ist im Krieg, unsere Wirtschaft in Aufruhr und das amerikanische Versprechen ist wieder einmal in Gefahr." (August 2008) -

diagnostiziert eine bedrohliche Lage für die Weltmacht Nr. 1 und steht für einen ebenso umfassenden Sanierungsauftrag, dem er sich zu widmen verspricht. Die Misserfolge und Drangsale der Nation sind für ihn – wie für jeden Staatsmann – selbstverständlich kein Anlass, die ökonomischen und strategischen Ansprüche des Staates zurückzuschrauben, sondern ein zwingender Grund, die – vom zuletzt amtierenden Präsidenten – eingesetzten Mittel und Strategien in Frage zu stellen und alternative, erfolgsträchtigere Rezepte in Anschlag zu bringen. Aus diesem Blickwinkel heraus

- werden das Desaster, in das sich das Finanzkapital hineingewirtschaftet hat, sowie die eskalierenden Einbrüche der "Realwirtschaft" zu eindeutigen Belegen für mangelnde Aufsicht über die spekulativen Geschäftspraktiken im Kreditsektor bzw. für viel zu halbherzige Rettungsmaßnahmen;

- firmieren der faktische Bankrott der US-Autoindustrie, die auf ‚überholte Spritschlucker’ setzte; die gestiegenen Öl- (und Benzin-)Preise; die nicht verfügbaren alternativen Energiequellen; die verweigerte Klimapolitik … einzeln und in der Summe als klare Indizien für ‚überholte Rezepte’ und ‚verpasstes Umsteuern’ in der Wirtschafts-, Energie- und Umweltpolitik – für eine verantwortungslose Passivität des Staates, die "Amerika erpressbar und von seinen Feinden abhängig macht";

- gelten die nach wie vor nicht erledigten Feindstaaten und Terroristen ebenso wie die mangelnde Unterstützung des Antiterrorkrieges durch die Verbündeten als eindeutige Beweise für falsche militärische Prioritätensetzungen und Strategien sowie für einen fahrlässigen Verzicht auf das Instrument der bi- und multilateralen Diplomatie, weshalb den Feinden Amerikas (Iran, Syrien etc.) keine echten Testangebote für eine freiwillige Unterordnung eröffnet und die Freunde Amerikas unnötigerweise verprellt wurden. Usw.

Unabhängig davon, was aus solcher Kritik im Einzelnen praktisch folgen wird, stellt Obama mit all seinen negativen Befunden über das Wirken des George W. Bush eines klar: Er wird der Politik Amerikas eine Änderung der Mittel und Wege verordnen, um sicherzustellen, was nicht mehr sicher ist: dass Amerika der selbstverständliche Nutznießer der globalisierten Konkurrenz und die Führungsmacht ist, der kein Staat der Welt den verdienten Respekt versagen kann.

So demonstriert die change-Kampagne des Barack Obama eine zweite herrschaftsförderliche Leistung, welche der demokratische Herrschaftsmodus beinhaltet. Die turnusmäßige Wahl-Entscheidung über die neue Regierungsmannschaft bietet den Vertretern der politischen Klasse die institutionalisierte Gelegenheit zu einer Zwischenbilanz über die Lage der Nation, die sie am Ende der Amtsperiode vorfinden. Vor allem die bis dato oppositionellen Politiker, denen die Befangenheit und das Beschönigungsmotiv der jeweiligen Regierungsmannschaft abgeht, sind geradezu prädestiniert für eine kritische Überprüfung der angewandten Strategien und Rezepte, wie die Volksvertreter den zweckmäßigen Gebrauch des Arsenals der politischen Gewalt nennen, dessen sie sich frei bedienen können. So vollziehen die professionellen Experten der nationalen Machtelite regelmäßig eine interne politische Abrechnung, indem sie ihre Maßnahmen im Lichte der (uneingelösten) Machtambitionen des Gemeinwesens bestätigen oder verwerfen. Und ‚frische Kräfte’ und Hoffnungsträger wie Obama können – erst einmal gewählt – die Freiheit eines ‚Neuanfangs’ in Anspruch nehmen, nach innen wie nach außen. So beweist die demokratische Konkurrenz ehrgeiziger Machtmenschen ihre Funktionalität für eine effektive Staatsgewalt.

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Wer diese Konkurrenz gewinnt – und damit, wie viel Kontinuität und wie viel Wende von der nächsten Regierungsmannschaft ausgeht -, das macht ein demokratischer Staat wie die USA davon abhängig, wem das unzufriedene Volk am Wahltag wie viel Zustimmung erteilt. Das Objekt der Herrschaft hat zwar nichts zu sagen über das Was und Wie der fälligen politischen Veränderungen, dafür sind alleine die Experten der Staatsführung zuständig. Die aber müssen ihren Willen zur Ausübung der politischen Gewalt dem Votum des Volkes aussetzen, das dann nach seinen Beweggründen und seinem Geschmack entscheidet, welche der gebotenen Alternativen zum Zuge kommt und welche nicht. Das ist ein Risiko für die Kandidaten, für die Demokratie ist es keines – jeder Urnengang führt schließlich zur gewünschten Ermächtigung einer Staatsführung. Dieses Mal delegiert die Mehrheit ihren Willen an Mr. Obama. Seine Rechnung geht auf, die Unzufriedenheit der Bevölkerung produktiv zu machen für eine Korrektur des Machtgebrauchs, die einzig am Erfolg der Staatsgewalt Maß nimmt. Es gelingt ihm, eine radikale Wechselstimmung im Land zu erzeugen und die Hoffnungen von unten mit seinem Aufbruchsprogramm von oben zu verknüpfen. So bekommt er das Vertrauen, das er verlangt, und damit die Freiheit, seine Unzufriedenheit mit der Lage der Nation in Politik umzusetzen.

3. Ein Programm zur Sanierung einer angeschlagenen Weltmacht

Dass die Ermächtigung Barack Obamas zum Regieren eine neue Offensive der amerikanischen Staatsgewalt einleitet, zeigt sich – noch vor der angekündigten "Revision" sämtlicher Betätigungsfelder der Staatsgewalt und unabhängig von deren praktischen Konsequenzen im Einzelnen – gleich nach dem Wahlsieg des schwarzen Präsidenten. Erstens an seiner Klarstellung gegenüber dem heimischen Volk und zweitens an den Reaktionen der imperialistischen Konkurrenten der USA.

a) Eine neue nationale Kraftanstrengung steht an

Am Abend nach seinem Wahlsieg tritt Obama vor die begeisterten Massen und schwört das Volk auf Realismus ein.

Er verkündet den hoffnungsfrohen Bürgern gleich mal, dass mit seiner Wahl ein Gutteil des Änderungsversprechens bereits erfüllt ist, mit dem er angetreten ist. Schon damit, dass er jetzt an der Spitze des Staates steht, ist die Parole "Yes we can", dass wir Amerika verändern können, bewiesen; und insofern ist die Unzufriedenheit mit der Politik des Vorgängers offiziell anerkannt und praktisch eingelöst. Aus dem puren Umstand, dass er als Schwarzer von ganz unten den Aufstieg bis ins Präsidentenamt ganz oben geschafft hat, verfertigt er ein einziges Lob auf die Groß- und Einzigartigkeit der amerikanischen Nation. "Männer, Frauen und Kinder jeder Rasse und jeden Glaubens" können und sollen in ihm als neuem Chef der USA die Wahrheit des american dream bewundern. Obamas Wahlsieg ist den Kommentatoren Grund genug, in das Hohelied auf die Wiedergeburt, manchmal gar die Vollendung des amerikanischen Traums einzustimmen und die Läuterungsfähigkeit dieser Nation zu bewundern: "B. Obama ist nun letztes Beweisstück auf dem Weg in die post-rassistische Gesellschaft." ("Amerika ist angekommen", SZ, 7.11.09) Dabei beweist schon die dauernde Betonung, dass er "als Schwarzer" tatsächlich gewählt wurde, eher das Gegenteil. Ausgerechnet die Tatsache, dass nach 250 Jahren – will sagen: trotz des notorischen Rassismus, der zur amerikanischen Demokratie seit ihrer Gründung dazugehört – erstmals ein Exemplar einer ‚diskriminierten Minderheit’ die politische Regie über die Klassen und Rassen übernimmt, soll all diejenigen zufrieden stimmen, welche als dienstbare Masse und Klasse für die Macht und den Reichtum dieser Nation verplant sind und bleiben. Die jedem gebotene Möglichkeit des Aufstiegs, die ihnen Obama vor Augen führt, soll sie mit der trostlosen Realität der gesellschaftlichen Hierarchie versöhnen, der sie nicht entkommen.

Womit nebenbei auch gleich eines geklärt ist: Was den harten Kern des amerikanischen Traums, den Zwang zur Bewährung in der kapitalistischen Konkurrenz, betrifft, so ist ein change nicht vonnöten. In diesem System haben alle ihre Chance, eine andere bekommen sie jedenfalls nicht!

Der nötige Wechsel aber wird kommen. Die Erneuerung dieses Versprechens erhält am Abend des Triumphes bloß eine andere Betonung. Der Hoffnungsträger warnt vor falschen Hoffnungen und Erwartungen, um Enttäuschungen zu vermeiden. Das Volk soll sich nichts vormachen über die Schwere der Aufgaben, die anstehen, um die Krise der Nation zu meistern – und darüber, dass sie dafür ein- und geradestehen müssen, wenn Amerika gewinnen und seine Weltmacht sichern will:

"Heute sage ich Ihnen, dass die Herausforderungen echt sind. Sie sind ernst, und es gibt viele davon. Sie werden nicht leicht oder in kurzer Zeit zu bewältigen sein. Aber, Amerika, du musst wissen: Sie werden bewältigt

Während wir die Größe unserer Nation erneut beschwören, sind wir uns bewusst, dass Größe nie selbstverständlich ist. Sie muss verdient werden … Es war nie der Weg für die Kleinmütigen, die Vergnügen statt Arbeit oder nur die Freuden des Reichtums und des Ruhms gesucht haben. Es waren vielmehr die Risikofreudigen, die Tatkräftigen." (Inaugurationsrede, 20.1.2009)

Der neue Präsident betont, dass die Nation an allen Fronten bedroht ist. Er will die imperialistischen Ansprüche der USA gegen alle Schranken und Widerstände durchsetzen und präsentiert diesen Willen als Notwendigkeit, sich den großen ökonomischen und strategischen Herausforderungen zu stellen, denen Amerika sich gegenübersieht. Mit der Beschwörung amerikanischer Erfolgstugenden, die Legende sind, der selbstlosen harten Arbeit und der heldenhaften Kampfbereitschaft der Pioniere, kündigt er an, dass er seine Bürger für die Erneuerung der Nation in die patriotische Pflicht nehmen wird, ob sie sich dabei glücklich schätzen oder nicht:

"Alle Amerikaner müssen erkennen, dass sie Pflichten für sich selbst, für die Nation und für die Welt erfüllen müssen, Pflichten, die wir nicht grimmig hinnehmen müssen, sondern glücklich erfüllen … Das ist der Preis, und das ist das Versprechen, Bürger unseres Landes zu sein." (ebd.)

Die Hoffnung soll bleiben, aber ohne Illusion: Das Glück eines jeden Bürgers besteht schon darin, Insasse dieses hervorragenden Amerika zu sein, und dafür hat er gerne den Preis zu entrichten! Obama hat die Zustimmung der Mehrheit erhalten, ab sofort wird er sie in Anspruch nehmen. Der "Beitrag aller" ist verlangt. Und Einwände gegen die Opfer, welche die Sanierung des Kapitalismus und die "Größe unserer Nation" erfordert, sprechen ab sofort nicht mehr gegen die Regierung in Washington, welche die nötigen Maßnahmen verordnet – Bush ist schließlich weg. Sie sprechen vielmehr gegen die "Kleinmütigen", die gründlich missverstanden haben, was er, Obama, ihnen versprochen hat.

b) Erwartungen und Befürchtungen bei den Freunden in Europa

Was die weltpolitische Bedeutung des "überzeugenden Wahlsiegs" von Barack Obama betrifft, so sind die Reaktionen der europäischen Hauptverbündeten Amerikas aufschlussreich. Denn die diplomatischen Grußbotschaften, welche die Regierungen von Berlin und Paris nach Washington senden, erschöpfen sich keineswegs in der Übermittlung von Freude und guter Hoffnung auf gedeihliche Zusammenarbeit mit dem Präsidenten, der den ‚unilateralen’ George W. Bush ablöst. Der deutsche Außenminister schreibt einen Offenen Brief, in welchem er den Willen des "lieben Barack Obama", "partnerschaftlich (zu) handeln und Neues (zu) wagen", in den höchsten Tönen lobt, um ihm gleich mal mitzuteilen, was er, Steinmeier, unter dem change versteht, den Deutschland und "die Menschheit" von Amerika erwartet. Der französische Präsident und die deutsche Kanzlerin eröffnen die Sicherheitskonferenz von München (die "gespannt auf den Auftritt des US-Vizepräsidenten Biden wartet") mit einer präventiven "gemeinsamen Erklärung", welche der Obama-Regierung schon mal eine neue transatlantische Geschäftsordnung vorschlägt, mit welcher man endlich "gemeinsam die globalen Herausforderungen" angehen und bewältigen kann – als Bedingung für eine fruchtbarere Kooperation in und außerhalb der Nato. Sie stellen demonstrativ und vor jeder Konsultation mit der neuen US-Regierung ihre Positionen in allen weltpolitischen Angelegenheiten klar – von der nötigen Regulierung der finanzkapitalistischen Konkurrenz über den dringenden Einbau Russlands bis zur unvermeidlichen Klimapflege; und sie erklären deren Anerkennung zur "Nagelprobe" auf die "Fähigkeit, gemeinsam zu handeln" und "Globalisierung friedlich leben zu können" (Merkel, Sicherheitskonferenz, 7.2.). Mit all dem zeigen die Führer Europas, dass sie eines genau wissen: Die demokratische Ermächtigung des Barack Obama zum Präsidenten der USA und sein Programm zur Korrektur der von der alten Regierung begangenen ‚Fehler’ signalisieren keineswegs, dass Amerika bescheiden geworden ist angesichts seiner laufenden ökonomischen und militärischen Drangsale, sondern den politischen Willen dieser Nation, sich neu aufzustellen und als überlegene Weltmacht zu behaupten. Wenn die von Bush degradierten Repräsentanten des "alten Europa" nun in Obama "vor allem eine Chance sehen" (Merkel), ihren Interessen mehr Geltung zu verschaffen, dann verkünden sie ihre Absicht, den change der amerikanischen Politik für ihre europäischen Machtansprüche zu instrumentalisieren. Und wenn sie dem "Yes we can" aus Übersee gleichzeitig die beschwörende Hauptparole ‚Nobody can walk alone’ –

"Kein Land der Welt, und sei es das mächtigste, kann auch nur eines der Probleme allein lösen." (Steinmeier, Offener Brief) –

entgegenhalten und sich auf neue Anforderungen aus Washington gefasst machen, dann offenbaren sie ihre Befürchtungen: dass die Erneuerung Amerikas durch Obama eine Offensive der Weltmacht verheißt, die neue Zumutungen für die Verbündeten einschließt. Sie gehen davon aus, dass der Kampf der Weltmacht gegen Krise und Niedergang weiteren Konfliktstoff und neue Herausforderungen für sie bedeutet, gegen die sie Position beziehen und sich wappnen müssen. Kein Wunder ist es deshalb, wenn Merkel und Sarkozy ihren Antrag auf einen "engen Schulterschluss zwischen USA und Europa", auf so etwas wie eine gemeinsame Weltherrschaft also, um eine eindeutige Konkurrenz-Ansage ergänzen: "Wir Europäer müssen mit einer Stimme sprechen" (Titel der gemeinsamen Erklärung Merkel/Sarkozy) – und die militärischen Machtmittel der EU "weiter bündeln und erhöhen". So geht das europäische Plädoyer für Realismus statt Hoffnung: Amerika muss schon zu der Partnerschaft gezwungen werden, die wir von Obama erwarten.