GEGENSTANDPUNKT GEGENARGUMENTE

Bildungsziel – ein gutes Zeugnis:
Lernen unter dem Diktat der Note

Wie jedes Jahr wird die Vorfreude auf die Großen Ferien bei Schülern und Eltern leicht getrübt durch die drohende Zeugnisvergabe. Mittels der Noten kriegt so mancher Mensch schon im zarten Alter bescheinigt, dass er ein Versager ist und seine Erzeuger, dass sie bei der Nachwuchsproduktion eine Niete gezogen haben. Der Kalauer aus dem Lateinischen, demzufolge nicht für die Schule, sondern fürs Leben gelernt würde, stimmt leider in der Hinsicht, dass schlechte Zensuren einem das ganze Leben versauen können. Warum kommt es aber bei der Veranstaltung namens Schule vor allem und letztendlich bloß auf die Zensuren an? Mit Bildung hat die Notenbildung nämlich wirklich nichts zu tun.

Findet man Gefallen an einer Sache, sei es Italienisch, Cello spielen oder Skifahren, und möchte sie lernen, besorgt man sich eine Anleitung und das dazugehörige Material und schaut, möglichst gut voranzukommen. Auf die Idee, sich benoten zu lassen oder gar sich selbst zu benoten, kommt man normalerweise nicht. Ganz normal soll es aber sein, dass das in der Schule verordnete Lernen benotet wird, dass man dort für gute Noten lernt und mit schlechten Noten für Wissenslücken bestraft wird. Was ist das für eine Normalität?

Der Unterricht in der Schule folgt einem vorgegebenen Lehrplan. Das Wie und Warum dieses Lehrplans geht die Schüler nichts an. Die Zeit für jedes Thema ist begrenzt. Wenn eine Phase zu Ende ist, heißt das überhaupt nicht, dass alle Schüler verstanden haben, worum es da ging, und dass jeder die Prüfung bewältigt. Jedes Mal gibt es in der Klasse ein paar, die den Stoff drauf haben, eine ganze Reihe anderer Schüler kriegt die Aufgaben so halbwegs hin; und der Rest ist mit dem Stoff noch gar nicht fertig und scheitert im Test. Egal, woran das liegt - für den Unterricht spielt das keine Rolle, der geht zum nächsten Thema über, diese Chance zum Lernen ist also vorbei. So entstehen Wissensdifferenzen, die sich im Lauf der Schulzeit vertiefen; wenn ein paar Schüler mit Förderkursen oder Nachhilfestunden dann doch wieder die Kurve kriegen, ist das nur die Ausnahme, die die Regel bestätigt.

Zwangsläufig gibt es eine Dauerklage über diese Wissensdifferenzen bzw. -lücken und es wird so getan, als dürfe das die Schule eigentlich nicht zulassen. Aber hat die Schule denn ein Problem mit Wissenslücken der Schüler? Sicher: Eltern und auch Lehrer machen sich Sorgen, dass bestimmte Schüler “nicht mehr mitkommen”. Aber so, wie der Lehrplan aufgestellt ist, ist klar: Diese Differenzen und Lücken müssen entstehen. Einerseits stehen im Plan lauter Sachen, von denen behauptet wird, es sei vernünftig und sinnvoll, sie zu lernen. Andererseits wird eine Anzahl von Schülern in unterschiedlichem Ausmaß von diesem Wissen ständig ausgeschlossen, nämlich dadurch, dass man sich dieses Wissen in einer bestimmten Zeit aneignen muss - oder eben nicht. Die Zeitvorgabe halten die Besten ein, für die anderen wird der Lernprozess abgebrochen. Die Schule macht also die Zeit zum Maßstab des Lernerfolgs - und damit tut sie dem Lernen ziemliche Gewalt an. Es dauert nun mal bei jedem unterschiedlich lang, bis er alles kapiert und gelernt hat, was zur Sache gehört. Die Leute, die von sich aus Sprachen oder ein Instrument lernen, können ein Lied davon singen. Lernen ernst genommen heißt: eine Sache verstehen - das Lerntempo sagt nichts über das Verstehen aus. Der Schule kommt es aber genau darauf an: Sie macht aus dem Lernprozess mit all seinen Verzögerungen und Störungen etwas anderes, nämlich einen Indikator für Lernleistung. Auf diese Leistung ist sie scharf und sie misst sie mit den Noten.

Gelernt werden muss also: Bei den Schülern soll es kommt es nichtnicht darauf ankommen, aus welchem Elternhaus sie kommen, über welche Körperkräfte oder sonstwas sie verfügen, sondern die geistige Anstrengung und die dafür notwendige Disziplin werden ihnen abverlangt. Die dabei erbrachten Leistungen interessieren die Schule aber nur unter dem Gesichtspunkt, darauf Noten zu vergeben, mit denen die Schüler miteinander vergleichen werden können. Das heißt: Entscheidend ist nicht, was ein Schüler kann, sondern was er besser oder schlechter als die anderen kann, wie viel mehr oder weniger vom Lernstoff als andere er hat aufnehmen können, schließlich: an welcher Stelle in der Lernhierarchie er steht. Mit den Wissensunterschieden hat die Schule also kein Problem. Umgekehrt: Sie ist daran interessiert, die herzustellen und in Tests und Prüfungen zu ermitteln und in Noten zu fixieren.

Dieser Umgang mit dem Lernstoff ist paradox. Einerseits kommt es der Schule auf bestimmte Wissenselemente an, die stehen deshalb auch im Lehrplan, und es wird behauptet, die wären vernünftig und sinnvoll. Aber dadurch, dass die Wissensvermittlung Material der Leistungsmessung ist und für den Vergleich der Schüler benutzt wird, sorgt die Schule ständig selbst dafür, dass nur bei den wenigsten Schülern das geplante Wissen ankommt und dann absteigend immer weniger bei den anderen. Der Ausschluss vom Wissen findet ganz explizit beim Übergang auf die weiterführenden Schulen statt. Die höheren Lehranstalten sind dem viel versprechenden Nachwuchs vorbehalten, während den “schlechten Schülern” nur die Hauptschule bleibt, die als “Restschule” verachtet wird. Ein rundes Viertel der Hauptschüler verlässt die Schule als Analphabeten. Die deutsche Gesellschaft, die sich so gern als “Wissensgesellschaft” präsentiert, verträgt offensichtlich sehr gut eine große Anzahl von Unwissenden.

Der Zweck der permanenten Vergleicherei ist kein Geheimnis: So betreibt die Schule Auslese, Selektion. Die Hierarchie, die sie an den Schülern herstellt, ist die Vorarbeit für die Verteilung auf die Berufshierarchie, sie ist ein wesentliches, wenn nicht das entscheidende Kriterium für den Zugang zur “Arbeitswelt”. Das Wissen bekommt damit quasi auch sein Abschlusszeugnis ausgestellt: Für die Lerninhalte, die die Schule auftischte, musste man sich interessieren, aber nicht weil man eine Sache möglichst gut begreifen bzw. beherrschen wollte, sondern weil der Wissenserwerb ein Karrieremittel ist. Natürlich hat man damit seine Karriere noch nicht in der Hand. Denn die Vergleicherei, der man in der Schule unterworfen war, wird nun fortgesetzt von den em Sinne und in Fortsetzung der ständigen Vergleicherei, der man zuvor unterworfen wurde,sondern nur in d Herren der “Arbeitswelt”. Sie benutzen die von der Schule produzierten und festgeschriebenen Leistungsunterschiede zur Verteilung aufmit den von ihnen festgelegten Berufen und sie legen fest welche Bezahlung sie sich dafür leisten wollen. Am oberen Ende der schulischen Leistungsskala sammeln sich die, denen Staat und Wirtschaft später einmal eine Arbeitsstelle mit “Verantwortung” und gutem Gehalt zutrauen. Die so genannten schlechten Schüler finden sich umgekehrt wie von selbst in den Jobs ein, die am schlechtesten bezahlt werden und gleichzeitig am anstrengendsten sind.

Wie unterschiedlich die Schulkarrieren aber auch enden - eine Gemeinsamkeit nehmen alle Schüler mit, wenn sie die Schule verlassen. Denn ihre schulische Erfahrung hat ihnen die Milch der kapitalistischen Denkungsart eingetrichtert: Bei Mathematik, Erdkunde oder Deutsch mag es hapern, aber alle, egal, ob sie zu den Erfolgreichen oder zu den so genannten “Lernschwachen” gehören, haben gelernt, dass das schulische Leben und daran anschließend ihr gesamtes Leben sich darum dreht, sich in der Konkurrenz zu bewähren. Die Voraussetzungen und Bedingungen dieser Konkurrenz sind ihnen vorgegeben: Sie treten ihnen unerbittlich gegenüber in Gestalt des Lehrplans und des gesamten Schulapparates, der sie unablässig prüft, bewertet und sortiert. 8 Jahre lang und länger transportiert die ständige Vergleicherei die immergleiche Botschaft: Du musst aus dem, was dir vorgesetzt wird , für dich das Beste machen. So ist das in der Schule vermittelte Wissen nicht nur dafür da, die Schüler für das Berufsleben vorzusortieren, man lernt in der Schule auch insofern “für das Leben”, als es einem in allererster Instanz darum gehen muss, sich in der Konkurrenz bestmöglichst durchzuschlagen. Ein kritischer Blick auf den Stoff und auf die Bedingungen, die einem vorgesetzt werden, ist da nicht gefragt - der Schüler muss vielmehr den kritischen Blick auf sich selber richten: Ich bin herausgefordert, etwas aus mir zu machen – und das als grundsätzliche Haltung und Stellung zur Welt und ganz getrennt von einem bestimmten Zweck. Man muss also gedanklich und praktisch den Spagat hinkriegen, den Zwang, den einem die Schule und überhaupt die kapitalistische Welt, die in ihren Grundfesten unverrückbar ist, vorsetzt, als Chance für sich selbst zu verstehen und sich entsprechend zu bemühen. Da muss man sich eben einfinden in die Methoden und Techniken der Konkurrenz, wozu auf dem Übungsplatz Schule auch gehört, Wissen durch Spicken zu ersetzen, den Lehrer mit Heucheleien für sich einzunehmen oder für eine Prüfung Unverstandenes stur auswendig zu lernen, um es am nächsten Tag wieder zu vergessen usw. usf. Solche Fähigkeiten und Charaktereigenschaften haben in dieser Gesellschaft ihren bleibenden Wert, auch den späteren Chef kann man schon mal so beeindrucken.

Schüler – und ihre Eltern – sind notorisch unzufrieden mit der Schule. Immerzu geht es nicht gerecht zu, individuelles Leistungsvermögen und der Leistungswille werden von den Lehrern nicht erkannt bzw. nicht gefördert, andere Schüler werden ungerecht bevorzugt, die häuslichen Voraussetzungen werden nicht genügend berücksichtigt usw. usf. Das sind aber notwendigerweise folgenlose Beschwerden, die an deren Grund nichts ändern. Schüler und Eltern anerkennen damit ja gerade, wie wichtig die Schule als Bewährungsfeld fürs künftige Leben ist, sie anerkennen damit auch die Autorität der Schule – und so müssen sie auch anerkennen, dass das Urteil der Schule in letzter Instanz gilt und Klagen über Ungerechtigkeit vielleicht gut für den Seelenhaushalt, aber nicht mehr als ein Beiwerk sind. Darum kann sich die Schule auch darauf verlassen, dass am Schluss charakterlich gebildete Leute herauskommen. Charakterlich gebildet insofern, als Schüler im weit überwiegenden Normalfall die Schule mit dem Bewusstsein verlassen: Meine Noten und mein Abschluss – die habe ich mir selbst zuzuschreiben, der bin ich. Sowohl der bescheidene Verlierer wie der großsprecherische Gewinner müssen sich in die vorgegebene Konkurrenzwelt einordnen – nun aber mit dem Selbstbewusstsein, auf das diese Konkurrenzwelt so großen Wert legt: Das entspricht mir.