GEGENSTANDPUNKT GEGENARGUMENTE

Ägypten: Volksaufstand gegen das „System Mubarak“ (2/2) –
der Westen reagiert auf einen nicht bestellten Umsturz

Die Führer der westlichen Welt wurden von einem Volk überrascht: Ohne dass sie das bestellt hätten, kündigt das ägyptische seiner Obrigkeit die Gefolgschaft auf! Wo die regierenden Freunde der Freiheit einen Umsturz von Herrschaften für angebracht halten, da bringen sie nämlich normalerweise die entsprechenden „Revolutionen“ mit den netten Beinamen gleich selber auf den Weg. Aber dass die Massen in einem Land, an dessen gefestigtem, herrschaftlichem Innenleben man aus vielerlei Gründen äußerst interessiert ist, aus eigenem Antrieb derart aus dem Ruder laufen: Damit rechnet man keinesfalls in den Metropolen, von denen aus die freie Welt regiert wird. So dauert die Urteilsbildung über den Volksaufstand in Ägypten eine gewisse Zeit, fällt dafür aber umso eindeutiger aus. Eine feine Sache sei es, dass – und vor allem: wie friedlich sich das Volk am Nil da zu einer „Bewegung für Freiheit und Demokratie“ (Westerwelle) aufgemacht habe, heißt es einhellig. Aber die Hüter dieser hohen Werte lassen es keineswegs bei einer bloßen Grußadresse an die Freiheitskämpfer bewenden. Man verwendet sich und den politischen Einfluss, über den man verfügt, für die gute Sache, die man in Ägypten auf den Weg gebracht sieht. Unisono empfiehlt der Westen Mubarak zunächst nachdrücklich „Gewaltverzicht“ gegenüber seinen aufsässigen Untertanen – und hält ihn alsbald für genauso „untragbar“ wie die Menge auf dem Tahrir-Platz. Freilich nicht ganz aus denselben Gründen. „Rückkehr zu stabilen Verhältnissen“ heißt ganz unverhohlen der höhere Sinn, den man hierzulande den Drangsalen der Demonstranten entnimmt – dabei haben die die herrschenden Machtverhältnisse doch gerade erst einigermaßen destabilisiert. Und warum es diese Rückkehr zur Stabilität unbedingt braucht, erfährt man gleichfalls:

– In dieser bekannt sensiblen „Krisenregion“ muss erstens der Frieden gewahrt, insbesondere der Friedensvertrag mit Israel eingehalten werden.
– Zweitens steht die Versorgungssicherheit in Sachen Gas und Öl bis hin zu T-Shirts und Autoteilen beim Westen obenan.
– Und drittens muss der Bestandsschutz für die jahrtausendealten Kulturgüter und die etwas jüngeren Tauchgründe gewährleistet sein.

So weit also reicht mindestens die Palette der westlichen Interessen, für die die Nation Ägypten in der Vergangenheit gut funktioniert hat und deswegen auf jeden Fall weiterhin gut funktionieren muss.

Ab sofort sind Freiheit und Demokratie in Ägypten also fest als die neue Methode verplant, mit der die Herrschaft im Land am Nil auch nach der Ära des „Diktators Mubarak“ genau das zu gewährleisten hat, wofür der mit seinem Wirken für Jahrzehnte geradestand. Die im Westen regierenden Fachleute für Freiheit und demokratische Herrschaftsformen verstehen sich bekanntlich auf den Umgang mit beidem bestens. Nun zerbrechen sie sich mitsamt ihrem öffentlich denkenden Anhang von der freiheitlichen Presse sogleich vorsorglich den Kopf darüber, wie die Freiheit auszusehen hat, die das gewünschte Ergebnis garantiert liefert: Noch bevor die Machtfrage in Kairo entschieden ist, wird der Volksaufstand kritisch entlang dem Kriterium durchgeprüft, ob er auch der Form nach alle Erfordernisse für das Gelingen des Zwecks erfüllt, für den ein demokratisch regiertes Ägypten vorgesehen ist. Da stimmt einen westlichen Beobachter der Blick auf die aufgebrachte Mischung aus zahnlosen Brotbäckern und anderen Elendsgestalten, Ärzten und Dichtern, jungen Studenten mit Handy und Notebook, Kopftuchträgerinnen und Bärtigen im Kaftan zwar schon ein wenig skeptisch: Wo ist denn der Führer, den die demnächst wählen sollen, wenn sie ihren alten losgeworden sind? Wie heißt die Partei, von der er der Häuptling ist? Was ist mit der Partei der Bärtigen, die wir zwar kennen, aber keinesfalls an die Regierung befördert sehen wollen? Aber diese Bedenken werden konstruktiv bewältigt. Schließlich hat der Volksaufstand in Ägypten schon deswegen die tatkräftige Fürsorge der westlichen Herrscher verdient, weil er von denen als Vehikel zur Beförderung der eigenen Interessen unter den Titeln ‚Demokratie und Freiheit‘ adoptiert wurde. Die westliche Fürsorge für den erfolgreichen Ausgang des ägyptischen Volksaufstands entschließt sich mutig zur interessierten Definition des Volkswillens, der gerade unterwegs ist: Was immer die Menschen dort unten im Einzelnen im Kopf haben mögen – im Endeffekt hat es sich einfach zusammenzufassen in einer nach allen Regeln der Demokratie herbeigeführten Ermächtigung einer neuen Staatsführung, die dann, selbstverständlich anders als bisher, eben demokratisch, für „stabile Verhältnisse“ sorgt.

So waren die westlichen Hüter von Recht und Ordnung weltweit auch zunächst einmal zufrieden, als sich herauskristallisierte, dass der Volksaufstand sich in der Armee den Garanten schlechthin für Stabilität in Ägypten als Paten für ihren Aufstand ausgeguckt hatte. Schließlich ist es eine Sache, aus der Ferne Vorschriften zu erlassen, was die Aufständischen sich mit ihrem Umsturz recht eigentlich hatten erkämpfen wollen = sollen, und dem was wirklich passiert. Durch den Putsch des Militärs – durchgeführt auf die Forderung des Protests hin, also mit dessen ausdrücklicher Zustimmung – wurde der Aufstand – zunächst – befriedet, und gleichzeitig von der Armee der Übergang zu Demokratie und Freiheit ebenso versprochen wie die stabilen Verhältnisse auf die es den Auguren aus den westlichen Regierungszentralen so sehr ankam.

Die Haudegen, die sich 30 Jahre lang bestens als Stütze des „Systems Mubarak“ bewährt haben und auch zu seinen maßgeblichen Profiteuren gehören, sind mit ihrer Aufgabe auf dem für sie ungewohnten Terrain keineswegs überfordert, Herrschaft ist ja auch kein Lehrberuf. An alle maßgeblichen Organe der Interessenvertretung, die es im Land gibt, ergeht die Einladung, mitzumachen beim Aufbau demokratisch formvollendeter Wahlalternativen; auch aus der bislang staatszersetzender Umtriebe verdächtigten Muslimischen Brüderschaft dürfen sich einzelne Gruppierungen um die Aufwertung zum legitimierten Wahlverein bewerben. In der Hauptsache aber erfährt der regierende Militärrat von den auswärtigen Interessenten an einer erfolgreichen Demokratisierung Ägyptens, was er für die zu tun bzw. auf jeden Fall zu unterlassen hat. Die Geldgeber aus Amerika an erster Stelle, dann aber selbstverständlich auch alle anderen Mächte, die ihr spezielles Interesse an einem stabilen Ägypten haben, bieten den neuen Machthabern ihre Hilfe an. In Sachen Demokratie sind sie ja Experten, und sie geben überaus deutlich zu verstehen, warum ihnen so viel an einer erfolgreichen Demokratisierung dieses Landes gelegen ist. Für sie ist die Einführung dieser Verfahrensweise zur Ermächtigung des Herrschaftspersonals vor allem eines: eine einzigartige Gelegenheit, Einfluss zu nehmen; nicht bloß auf diese oder jene Regierungsentscheidung, sondern auf die Bildung des Staatswillens, auf die Ausformulierung und Verwirklichung der passenden Herrschafts-Räson. Denn was als Erstes, als erster Schritt zu wahrer Demokratie und freien Wahlen ansteht, ist die Einführung eines Parteienpluralismus; und das überlassen die Politiker aus den Heimatländern der Demokratie mitnichten den eingeborenen Patrioten und schon gar nicht den Facebook-Kindern. Mit ihrem Expertenrat begleiten sie die Formulierung von Zulassungsbedingungen für politische Vereine, damit die Wahlfreiheit des Volkes sich nicht an der falschen Stelle austobt und womöglich den Radikalen unter den Muslimbrüdern zu einem Anteil an der demokratisierten Staatsmacht verhilft. Und mit Rat und Tat, mit Geld und Abgesandten aus ihren eigenen Parteien und Parteistiftungen mischen die Zuständigen aus Europa und Amerika zielstrebig mit bei der Gründung von Wahlvereinen, die dem Volkswillen die richtigen Vorgaben machen:

– alternativlose Orientierung auf Marktwirtschaft, vorzugsweise mit größeren Freiheiten für auswärtige Investoren,
– Beteiligung am nahöstlichen „Friedensprozess“
– sichere Passage durch den Suez-Kanal

Fest stehen damit jedenfalls die Leistungen, die jede künftige Herrschaft in Ägypten zu erbringen, und die Maßstäbe, denen sie dabei zu genügen hat. Für diese zentralen westlichen Interessen am neuen, besseren Ägypten sollen gefällige Wahlalternativen gefunden und zuverlässiges Personal an die Staatsspitze bugsiert werden.

Dem Volk wird ganz nebenbei vorsorglich erklärt, dass für es die schöne Aufgabe vorgesehen ist, diese neue Demokratie aufzubauen, ohne sich materiell etwas davon zu versprechen. Vor allem hat es ab sofort daheim zu bleiben und soll seine neue Freiheit vor allem nicht mit einer Einreisefreiheit nach Europa verwechseln – dies umso weniger, sagt die deutsche Kanzlerin, als mit der errungenen Freiheit ja ein denkbarer Asylgrund entfällt... Als hätte Mubarak je als ein solcher Grund gegolten, Flüchtlingen Asyl zu gewähren! Schließlich war Mubarak damals noch kein „Diktator“, sondern „unser“ verlässlicher Freund am Nil.

Der vollständige Artikel ist in GegenStandpunkt 1-11 erschienen
Volksaufstand in Ägypten: Viel Aufruhr – für nichts als einen Antrag auf bessere Herrschaft, den das Militär erhört