GEGENSTANDPUNKT GEGENARGUMENTE

Nicht erst seit dem GAU von Fukushima steht fest:
Beim Strom aus dem Atom ist der Normalbetrieb das „Restrisiko“!

„Als Hausverkäufer teilte Karl Valentin dem Kaufwilligen mit, dass er in ein tausend Meter tiefes Bergwerk umziehen wolle, aus Angst vor Meteorsteinen; auf den Einwand, dass Meteore doch ganz selten seien, erwidert er: ‚Schon, aber bei mir geht Sicherheit über die Seltenheit.

Die von Betreibern und Befürwortern von AKWs bis unlängst verkündete Sicherheit, Atomkraft sei im Prinzip sicher, ist seit dem japanischen Super-Gau modifiziert worden: Aus dem bislang „Restrisiko“ genannten Gefahrenpotential als Folge von Versäumnissen bei den Sicherheitsmaßnahmen, siehe Tschernobyl, dem damals sowjetischen „Schrottreaktor“, ist jetzt der Restzufall geworden, also die nicht mit letzter statistischer Gewissheit auszuschließende Möglichkeit z. B. eines Erdbebens der Stärke 9,5. Um auch diese Gefahr auszuschalten, hat die Bundesregierung ein Moratorium für den AKW-Betrieb verfügt. Endgültig abschalten will sie die nationalen Meiler aber ebenso wenig, wie die meisten potenten Staaten auf der Welt. Was also auf jeden Fall auch nach Fukushima weitergehen wird, das ist der sogenannte störungsfreie Normalbetrieb.

Diese laut Merkel und der Atomstromlobby „umweltfreundlichste“ Form der Energiegewinnung beruht auf einer kontrollierten Kettenreaktion, die von Neutronen in Atomkernen des Urans ausgelöst wird. Jeder Zerfallsprozess setzt erneut Neutronen frei, die, auf passende Geschwindigkeit durch einen Moderator heruntergebremst, wiederum in anderen Atomkernen ihr Werk tun. Die freigesetzte Bindungsenergie der Atomkerne liefert die gewünschte Wärme. Dabei müssen die Ingenieure „nur“ noch mit der radioaktiven Strahlung fertig werden. Die geht auch von den Zerfallsprodukten des Urans aus, die sich durch die Instabilität ihrer Atomkerne auszeichnen. Diese Isotope setzen eine ungesunde Strahlung frei, welche ionisierend auf die Körperzellen wirkt.

Dass diese Alpha-, Beta- und Gammastrahlen von der Bevölkerung, die ringsum die Kernkraftwerke wohnt, durch Baukunst ferngehalten werden, ist ein Gerücht. Der gewöhnliche Betrieb eines Kernreaktors geht mit der ständigen Erhöhung der radioaktiven Strahlenwerte der näheren und weiteren Umgebung einher: Radioaktiver Dampf geht über die Schornsteine in die Luft, und die Fachleute vollbringen allerlei Rechenkunststücke, um die Belastung per Verteilung auf Raum und Zeit auf vernachlässigbare Größen herunterzuzählen. Dasselbe tun sie beim radioaktiven Kühlwasser, das in Flüsse und Meere abgelassen wird. Äußerst geschickt weisen sie per Vergleich mit der üblichen Strahlenexposition der Bevölkerung – die sie „natürlich“ nennen – nach, dass alles ziemlich geringfügig ist. Dass sich die ebenso unschädliche wie unvermeidliche „natürliche“ Strahlung über Jahrzehnte von Bombentests und AKW-Betrieb erstens erhöht und zweitens in Krebsstatistiken bemerkbar macht, ficht die kühlen Rechner nicht an. „Nichts bewiesen“, lautet der amtliche Vermerk. Bleibt noch der Atommüll. Der verstrahlt in der Asse und vielleicht mal in Gorleben. Dass dabei und auf dem Transport jede Menge Strahlung frei wird, bestreitet niemand.

Soweit die in Kauf genommenen „Nebenwirkungen“ des „Normalbetriebs“ ohne Stör- und Unfälle. Durch die wird die banalisierte „Nebenwirkung“ – die radioaktive Strahlung – zur katastrophalen Hauptsache. Tagtägliche Vorkommnisse wie ein undichtes Ventil, eine beschädigte Kühlwasserleitung, eine streikende Pumpe etc. führen nicht einfach zum Ausfall der Leistung, für die so eine Anlage da ist. Vielmehr ist jede technische Panne noch so gewöhnlicher Art der Auftakt zum Ausbruch einesUnglücks“. Was droht, ist die unkontrollierte Kettenreaktion, durch die sich der Reaktor von seiner Pflicht zur Stromerzeugung verabschiedet und die Strahlung ganz zu ihrem Recht kommt. Die Schwierigkeiten, die bei dem Versuch auftreten, den Übergang von der Störung zum Unfall zu vermeiden, lassen das Gerede von der Sicherheit irgendwelcher AKWs schlicht lächerlich erscheinen. Alles, was vorkommt, ob es nun als Kühlmittelverlust, dessen mangelnder Nachschub oder schon als Folge – zu viel Temperatur oder Druck – registriert wird, ist geeignet, den Reaktor nicht mehr – die unkontrollierte Kettenreaktion dafür um so besser funktionieren zu lassen.

So läuft in Atomkraftwerken ein dauernder Test ab, welcher mit dem hundertprozentigen Gelingen jeder Teilfunktion von Maschine und Mensch experimentiert. Und dieses nützliche Experiment findet nicht als Überprüfungsveranstaltung statt, denn die Kontrolle von (möglichen) Fehlern und Schwachstellen ist ohne ein wenig Abschalten nicht zu machen. Da AKWs aber zum Anschalten da sind, wird mit dem Abschalten gewartet, bis eine Störung es erforderlich erscheinen lässt. Sicher dagegen ist, dass die Radioaktivität innerhalb eines Reaktors ihre Spuren am Material hinterlässt. Was die Strahlung an Kühlmittelleitungen, Druckkessel etc. an eigenartigem „Verschleiß“ hervorruft, haben sich die Betreiber von AKWs erst durch die Erfahrung einbläuen lassen – allerdings ohne den Schluss zu ziehen, dass man doch besser die Finger von dem Zeug lassen sollte.

Die Gefahr von verheerenden Aus-, Zu-, Ab- und Unfällen ist den verantwortlichen Machern dabei vertraut. Im Hin und Her von Ursache und Wirkung nehmen Naturwissenschaftler und Techniker allen Ernstes ein undichtes Ventil, eine Fehlentscheidung der Bedienungsmannschaft oder beides plus ungenau vorausberechnete Versprödungen von Material als Ursache und Inhalt der Gefahr, die von der inszenierten Kettenreaktion ausgeht.

Praktisch macht sich die Sorge um die Betriebsbedingung „Sicherheit“ = Risiko so geltend, dass die Konstruktion eines AKW ein einziges Projekt zur Vermeidung fälliger Störfälle wird.

Das „Schlimmste“ wird dann mit einer Notabschaltung verhindert. Cadmiumstäbe stehen bereit, um zwischen die Brennstäbe geschoben zu werden: Keine kritische Masse mehr. Kettenreaktion gestoppt – lautet die Absicht. Doch die Erfinder dieser Sicherheitsvorkehrung sind Fachleute – und sie sagen offen heraus, worin das „Problem“ dieser Sicherung besteht: Falls diese Maßnahme notwendig ist, ist es auch schon sehr heiß im Reaktorkern, und verbogene Brennstäbe können ganz gut den Einschub der Notbremse verhindern. Was sie da zu Protokoll geben, ist seltsam. Zumindest für eine Sicherheitsvorkehrung. Je notwendiger eine Schnellabschaltung, desto fraglicher ihr Gelingen!

Notkühlsysteme sollen der Hitze ein Schnippchen schlagen, die entsteht, wenn das Wasser zum Warmmachen einmal ausfällt. Dem Misslingen einer Notabschaltung ist dadurch zu begegnen, dass diese Systeme funktionieren. Der Meinung sind auch die Japaner. Bloß – funktionieren sie, wenn schon so hohe Temperaturen erreicht sind, dass Verpuffung angesagt ist? Und viel Druck am falschen Platz, also Explosionen?

Nicht umsonst gibt es den Berstschutz. Einerseits soll die Betonglocke die Wirkung eines bereits erfolgten schweren Unfalls wenigstens eine gewisse Zeit zurückhalten. Für diese „Sicherheitsgarantie“ gilt dasselbe wie für alle anderen. Was sie taugt, hängt schwer von den Charakteristika des Unfallverlaufs ab: Bei welcher Hitze entwickelt sich wie viel Druck, welche Sorten Gas entstehen in welchen Mengen (Explosionsgefahr) etc. „Beherrscht“ und „geschützt“ ist damit gar nichts. Andererseits fiel den Sachverständigen nach Tschernobyl auf, dass so ein Berstschutz unter Umständen sogar die Handhabung und Löschung eines Reaktorbrandes erschwert.

So kehrt auf allen Stufen sogenannter Reaktorsicherheit die technologische Eigenart dieser Anlagen wieder: Ihr Betrieb ist ein einziges Risiko. Und das heißt überhaupt nicht, dass Atomkraftwerke, wie andere Fortschrittsapparate auch, eben so ihre Risiken haben. Auf letztere Sichtweise haben sich diejenigen eingelassen, die am Betrieb interessiert sind und das von ihnen produzierte Risiko als eine Reihe von Bedingungen handhaben, mit denen es „fertig zu werden“ gilt. Und zwar betriebsdienlich. So ist der Betrieb von Kernkraftwerken, damit sie sich auch rentieren, ein praktikabler Kompromisse zwischen Betrieb und Risiko.

Das Paradox, dass sich die Vermeidung unvermeidbarer Schäden bis hinauf zum GAU sowieso nicht bewerkstelligen lässt, „wir“ also mit ein wenig „Restrisiko“ allemal leben müssen, gebietet ein neuartiges Kalkül, das per höchstrichterlichen Beschluss auch Rechtsqualitäten annimmt. Die Atomenergiepolitik ergänzt die marktwirtschaftliche Rechnung Kosten/Ertrag um die billige wie gebotene Abwägung von Kosten und Risiko, was 1979 vom Bundesverfassungsgericht letztinstanzlich abgesegnet wurde:

„Einigkeit besteht darüber, dass diese Risikovorsorge nicht die Ausschaltung jeglichen Risikos mit absoluter Sicherheit erfordert, da ansonsten die Nutzung der Technik nicht mehr möglich wäre.“

Die Verhinderung radioaktiver Strahlenschäden ist ohnehin nicht zu garantieren, jeder Euro für aufwendige Konstruktionen und Sicherheitssysteme ist dafür aber ein garantierter Abzug vom bezweckten Gewinn. Eine Herausforderung für staatliches Abwägen, das entgegen landläufiger Auffassung nicht zwischen Risiko und Kosten, sondern zwischen in Kauf genommenen Schäden und Kosten hin- und hergeht. Die staatlich bewerteten (Unfall‑)Folgen durch den Reaktorbetrieb werden mit den Kosten ihrer Verhinderung verglichen. Beeinträchtigung der Volksgesundheit versus Rentabilität heißen die beiden Extreme des Kalküls, zwischen denen ein kapitalistischer Musterstaat keine großen Entscheidungsprobleme hat. Die Logik der Wahrscheinlichkeitsrechnung verbürgt ihm da, dass seine Atomenergiepolitik nicht mit der unmittelbaren Zerstörung des benutzten Menschenmaterials zusammenzufallen braucht.

An ähnliche staatlichen Vorgaben haben sich wohl auch die Kapitalisten und Techniker der Kernindustrie in Japan gehalten:

Je dicker die Wandstärke der Kühlmittelleitung (gut gegen vorzeitiges Bersten!), desto geringer der Wirkungsgrad bei der Wärmeübertragung (schlecht für die Bilanz!). Je empfindlicher der Messfühler für die Notabschaltung (gut für die „Sicherheit“!), desto geringer die Auslastung des Reaktors, weil zu oft abgeschaltet wird (schlecht für die Bilanz!). Je vielfältiger die Auslegung der Sicherheitssysteme bis zum Berstschutz (gut für die Bewältigung verschiedenster Unfallhergänge!), desto ungünstiger ist das Verhältnis von Kosten und Überschuss!

Nach dieser maßgeblichen Rechnungsart wird die Welt der Technik auf den Kopf gestellt. Nicht die verschiedenen Unfalltypen eines Atomreaktors bestimmen den technischen und finanziellen Aufwand zu ihrer Bemeisterung. Umgekehrt: Das, was man finanziell aufwenden will und technisch meint, gerade noch beherrschen zu können, definiert die Sorten von Unfall, mit denen überhaupt nur gerechnet wird.

Dazu passt dann das großzügige Angebot der Kanzlerin, wegen des aktuellen GAUs in Japan 3 Monate lang „ohne Tabus“ die Sicherheit der deutschen Atommeiler überprüfen zu lassen. Bis zum nächsten GAU hilft dann wieder das Vertrauen in die speziell deutsche Sicherheit enorm über die Zweifel weg. Die Politik, ausgerechnet, garantiert die Haltbarkeit von AKWs. Die sind freilich gerade so haltbar wie die Argumente ihrer politischen Fürsprecher und kapitalistischen Nutznießer.