| GEGENSTANDPUNKT | GEGENARGUMENTE | 
        Die 
        „Empörten“ – eine Bewegung voller Illusionen über Demokratie und Marktwirtschaft
        
        Europa spart – am Lebensunterhalt seiner Bürger. 
        Die demokratischen europäischen Regierungen machen das Leben ihrer Völker dafür 
        haftbar, dass ihre Wirtschaft zu wenig wächst und die Kreditwürdigkeit ihrer 
        Nation im Eimer ist. Deswegen haben die verantwortlichen Staatsführer ihren 
        Bürgern ein gewaltiges soziales Abbruchprogramm verordnet. Betroffene melden 
        sich zu Wort und protestieren gegen ein Wirtschaftssystem, das, wie sie sagen, 
        die Reichen immer reicher und die Armen immer ärmer macht; gegen Politiker, 
        Manager und Banker, die die Krisenprogramme machtvoll durchsetzen und damit 
        zahllose Lebensperspektiven zerstören. Dass die Betroffenen sich zu Wort melden 
        und protestieren, ist überfällig: Nur wie! 
        
        Einer ihrer kritischen Kernsätze über den 
        Kapitalismus lautet: 
        
        „Ziel und 
        Absicht des derzeitigen Systems sind die Anhäufung von Geld, ohne dabei auf den 
        Wohlstand der Gesellschaft zu achten“.
        
        Dass sich alles um Schulden und Geld dreht, dass 
        alle ihre Berechnungen auf eine auskömmliche Existenz einem stabilen Euro und 
        einer soliden staatlichen Schuldenwirtschaft geopfert werden, ist nicht zu 
        übersehen. Die europäischen Politiker sagen auch ganz offen dazu, dass es dazu, 
        den Leuten ihren Wohlstand zu kürzen, damit Griechenland, Spanien, Portugal, 
        Italien usw. wieder auf die Beine kommen, einfach keine Alternative gibt. Da 
        könnte man sie doch einmal beim Wort nehmen: Ja, Spanien, Griechenland und alle 
        anderen Nationen, das sind nichts als Kapitalstandorte, die ihren Erfolg auf die 
        nützliche Armut der Masse ihrer Bevölkerung gründen; einen Erfolg, der sich in 
        wachsenden Schulden und Geldvermögen und einer stabilen Währung bilanziert. 
        Kapitalvermehrung und Wachstum des staatlich bilanzierten Geldreichtums, das
        ist der nationale Wohlstand, auf den es ankommt, dessen Mehrung zu fördern, 
        ist Ziel und Aufgabe der politischen Verwalter des Systems, etwas anderes hat 
        man von diesen Gesellschaften also nicht zu erwarten. Die Protestbewegung der „Empörten“ hält aber die derzeitigen 
        Verhältnisse offenbar bloß für eine Übertreibung, eine Entgleisung 
        sozusagen, die eigentlich gar nicht sein müsste in diesem System. Sie – die 
        Empörten – schreiben nämlich: 
        
        „Wir brauchen 
        eine ethische Revolution. Anstatt das Geld über den Menschen zu stellen, sollten 
        wir es wieder in unsere Dienste stellen. Wir sind Menschen, keine Waren.“
        
        Was soll denn da heißen „wieder“? In 
        welcher Sekunde der Geschichte des Kapitalismus hätte das Geld je im Dienste des 
        Wohlergehens der Menschen und ihrer materiellen Wohlfahrt gestanden? Wie sollte 
        so ein „Dienst“ auch 
        aussehen? Etwa so, dass das Geld einen Boom auf dem spanischen Wohnungs- und 
        Arbeitsmarkt veranstaltet, wo die Menschen sich krummgelegt haben für eine 
        Wohnung und den zu bedienenden Kredit, sich abgestrampelt haben für irgendeinen 
        meist schlecht bezahlten Job? Trauern sie etwa diesen beschissenen „besseren Zeiten“ nach, weil jetzt die 
        Wohnung zwangsversteigert wird oder der Job weg ist? Dann liegen sie verkehrt, 
        denn gestern waren haargenau dieselben Systemzutaten mit haargenau den 
        gleichen Rechnungsweisen in Kraft, wie sie heute, in Krisenzeiten, 
        massenhaft Leute, die von ihrer Arbeit leben müssen, in den Ruin treiben. Was 
        diese Menschen heute erleben ist nichts anderes als die unausweichliche 
        Konsequenz von gestern, wo ihre Perspektiven mit einem Auskommen samt Wohnung 
        und Job auch nichts anderes waren als Instrumente privater Eigentümer, mit ihren 
        Schulden oder ihrer Arbeit ihr Geldvermögen zu vermehren. Arbeiten für Geld, 
        Wohnen nur, wenn man einen Bankkredit bedient oder Miete bezahlt, ein Bankwesen 
        überhaupt, usw. usf. – das gehört zum bleibenden Inventar einer kapitalistischen 
        Wachstumsmaschine und stiftet die alltäglichen Notlagen für die, die in diesen 
        Verhältnissen ihren Lebensunterhalt bestreiten müssen, der von der Bedienung all 
        dieser Geschäftsrechnungen abhängt. Deswegen steigen im Krisenfall, wenn die 
        ganzen Wachstumsansprüche der Wirtschaft nicht zur Zufriedenheit aufgehen, auch 
        die Unkosten für all diejenigen, die vom Dienst an diesen Ansprüchen leben. 
        
        Ihre Not von heute beweist also etwas ganz 
        anderes als eine „ethische 
        Verantwortungslosigkeit“. Sie beweist, welche armseligen und prekären 
        Rechnungen sie gestern mit dem kapitalistischen System eingegangen sind. 
        Und sie beweist überhaupt nicht, dass in der Krise jetzt der
        „Missbrauch“ des Geldes 
        eingerissen wäre und die Macher des Systems ihrer
        „Verantwortung“ nicht gerecht würden, wie es im Manifest der 
        Bewegung behauptet wird. Nicht einmal jetzt wollen sie die Einrichtungen, die 
        ihnen das Leben jetzt so schwer machen, angreifen; sie bilden sich statt dessen 
        ein, mit einer anderen, wie sie meinen, 
        verantwortungsvolleren Einstellung seiner Agenten wäre der kapitalistische 
        Laden für ihre Lebensinteressen dienstbar zu machen – da können sie lange 
        warten, die Angesprochenen weisen doch unmissverständlich auf ihre nationale 
        Verantwortung hin, die ihnen keine Alternative zu ihrem Verarmungsprogramm 
        lässt. 
        
        In ihrem Manifest 
        fordern sie öffentliches Eigentum anstelle von Privatisierung – 
        das soll es bringen, wo ihnen doch jetzt gerade die öffentliche Gewalt als 
        Arbeitgeber, Rentenverwalter oder Steuereintreiber das Leben schwer macht? Ist 
        es nicht zu bescheiden, als Konsequenz von Zwangsräumungen und Versteigerungen 
        empört Mietbeihilfen zu fordern – und gegen das Recht der 
        Immobilieneigentümer, an den Wohnbedürfnissen ordentlich zu verdienen, kein 
        böses Wort zu verlieren? Ist es nicht jämmerlich, die Verstaatlichung von 
        Banken zu fordern – also ihre staatlich betreute Sanierung, damit dann 
        nach der Krise ihre Kredit- und Spekulationsgeschäfte wieder erfolgreich 
        losgehen? Gibt es denn nicht mehr zu fordern als Arbeitsplatzsicherheit? 
        Die ganze Hoheit über die Arbeit soll bei den Herren Arbeitgebern bleiben – sie 
        sollen die lohnabhängige Bevölkerung nur ganz bestimmt in den bezahlten Dienst 
        an ihrem Eigentum nehmen! Ein sehr bescheidener Antrag, der überhaupt nur im 
        Vergleich einen Vorteil bietet – zur einzigen Alternative nämlich, die das 
        marktwirtschaftliche System für Arbeitnehmer bereithält: dem Elend der 
        Arbeitslosigkeit.
        
        Die „Empörten“ 
        sagen:
        
        „Wir sind keine Systemfeinde – 
        das System ist uns gegenüber feindlich.“ 
        
        
        Keine Frage, da haben sie Recht: Das System ist ihnen 
        gegenüber feindlich. Ein Generalangriff auf ihre Lebensbedingungen hat 
        stattgefunden und findet noch statt. Das Leben, in dem sie sich bislang schlecht 
        und recht durchgeschlagen haben, wird ihnen nicht nur immer schwieriger, sondern 
        in immer größerem Umfang unmöglich gemacht. Immer mehr, auch und gerade die 
        immer wieder zitierten „gut ausgebildeten 
        Jugendlichen“, werden auf Dauer arbeitslos gemacht, die Staaten streichen 
        gnadenlos die Sozialleistungen zusammen usw. Das „System“ nimmt ihnen die Perspektive, 
        die sie gewohnt waren. Dagegen halten sie, dass sie doch nichts Unbilliges 
        verlangen, wenn sie dieses Leben weiterführen können wollen, dass sie doch ganz 
        normale Menschen sind und überhaupt nicht nachvollziehen können, warum man ihnen 
        so übel mitspielt: 
        
        „Wir sind normale Menschen. 
        Wir sind wie du: Menschen, die jeden Morgen aufstehen, um studieren zu gehen 
        oder einen Job zu finden, Menschen mit Familien und Freunden. Menschen, die 
        jeden Tag hart arbeiten." 
        (Manifest der spanischen Demonstranten)
        
        Da muss man die „Empörten“ fragen: Wie kommen sie darauf, 
        dass sie mit der Berufung auf ihre Normalität so etwas wie einen 
        Berechtigungsausweis erworben hätten, ein Recht, von ihrer Obrigkeit 
        berücksichtigt zu werden? Und umgekehrt: Liegt denn ein Vergehen der 
        Obrigkeit vor, wenn die die Normalität neu definiert? Denn das ist 
        es, was geschieht und was die „Empörten“ 
        nicht begreifen wollen. 
        
        Sie sagen, sie seien es gewohnt, hart zu arbeiten. Sie sagen 
        auch, sie seien es gewohnt, mit bescheidenen Ansprüchen durchs Leben zu gehen – 
        das tragen sie ja wie ein Gütesiegel vor sich her, wenn sie sagen: Wir fordern 
        doch nichts Besonderes, eben nur unsere Normalität. Sie beteuern also ihre 
        Bereitschaft, in diesem System als kleine Rädchen – weiter! - mitzuarbeiten. 
        Dabei haben sie sich das, wo sie wie gewohnt ihre Dienste tun wollen, nicht 
        ausgesucht, geschweige denn selber hergestellt. Vielmehr wurde ihnen 
        diese Normalität hingestellt, nämlich von ihrer Obrigkeit. Die hat mit 
        ihren Gesetzen bis ins Kleinste hinunter geregelt, wie diese Normalität 
        auszusehen hat bzw. wie man sich in ihr zu bewegen und bewähren hat. Sie hat 
        festgelegt, wie man sich seinen Lebensunterhalt überhaupt nur verdienen kann 
        oder ohne einen Verdienst auskommen muss, wie man eine Familie gründet und 
        organisiert, wie man sich einen Altersunterhalt erwirbt oder auch nicht, usw. 
        usf. In einem Wort: In der Normalität, die die
        „Empörten“ zurückhaben wollen, waren sie nichts anderes als abhängige Variable, 
        eine Manövriermasse des Staates. Wenn sie jetzt sagen: „Wir hatten eine Chance, die man uns jetzt 
        nimmt“, dann war das eine „Chance“, 
        die der Staat eingerichtet hatte – und zwar nicht, um den Leuten ihre Normalität 
        zu ermöglichen, sondern nach seinen Berechnungen und zu seinem 
        Nutzen. Daran hat sich gar nichts geändert, was das jetzige 
        Handeln der Staaten nur beweist und was die „Empörten“ selbst erfahren und beklagen: Auf Basis der von ihnen erlassenen 
        Gesetzeslage machen die, die für die Belange des Staates zuständig sind, also 
        die Politiker, die Gesetze, mit denen sie die neue Normalität herstellen, 
        die für den Staat notwendig ist – und wenn das die Lebensnotwendigkeiten 
        der Leute über den Haufen wirft, dann setzt der Staat damit seine 
        Notwendigkeiten durch. Es ist keine dem „System“ eingeschriebene Eigenschaft, 
        sich nach den Lebensnotwendigkeiten der ihm unterworfenen Leute zu richten, 
        deren Lebensumstände werden vielmehr eingerichtet und sie haben sich 
        danach zu richten, was dieses „System“
        für sich für notwendig hält. Es stellt klar, wie kläglich sich die 
        Berechnung der so genannten „kleinen Leute“ 
        zu dem verhalten, was die in diesem „System“ zählenden Berechnungen sind. Was das „System“ aktuell für notwendig hält, 
        ist im Übrigen kein Geheimnis, wird sogar offen gesagt: Diese Gesellschaft 
        beruht auf und lebt vom Funktionieren des Kreditsystems – und wenn dessen „Rettung“ an erster Stelle steht, dann 
        gibt es nicht nur Wichtigeres als die Normalität, nach der die „Empörten“ sich sehnen, diese 
        Normalität ist mit der durchzuziehenden Rettung des Kreditsystems ganz 
        offensichtlich unvereinbar. Wie es der griechische Finanzminister 
        ausdrückte: 
        
        „Unsere Maßnahmen sind hart 
        und ungerecht, aber es führt kein Weg daran vorbei.“
        
        Die „Empörten“ 
        sagen: "Das System ist uns gegenüber feindlich." Sie konstatieren also, 
        dass von Seiten des „Systems“ eine 
        Kündigung ausgesprochen wurde, die auf ihre Lebensumstände keinerlei 
        Rücksicht nimmt. Sehr deutlich sagen sie aber auch, dass sie – wie die erste 
        Hälfte des Plakatspruches versichert - eine Gegenkündigung gegenüber dem, was 
        sie von Seiten des Staates erfahren, nicht aussprechen wollen:
        „Wir sind keine Systemfeinde“. 
        Das „System“ sagt ihnen nach ihrer 
        eigenen Auskunft den Kampf an, sie wollen diesen Kampf aber nicht erwidern. Mit 
        diesem Widerspruch gehen sie so um, dass sie ihn immerzu nur beschwören: 
        Seht ihr denn nicht, was ihr uns antut, das kann doch niemand wollen, das haben 
        wir doch nicht verdient! Der ganze Protest ist durchdrungen von einer 
        hartnäckigen Verständnislosigkeit, ist ein in Beschwerdeform vorgetragenes 
        einziges Jammern, und er fasst sich in dem Ausruf zusammen: Das kann doch 
        nicht wahr sein! 
        
        Nun ist es aber wahr, und die „Empörten“ suchen nach 
        Erklärungen für das eigentlich Unfassbare. Auf die Erklärung, dass das „System“ jetzt wie früher nach
        seinen Notwendigkeiten handelt und dass die „Empörten“ jetzt wie früher nur das Material dafür abgeben, kommen sie 
        nicht oder - „Wir sind keine Systemfeinde“ 
        - wollen sie nicht kommen. Das eigentlich Unfassbare können sie sich nur damit 
        erklären, dass eine große Abweichung, ein Verstoß vorliegt, nämlich des „Systems“ gegen sich selbst - die „existente“ Demokratie ist gar nicht 
        echt: 
        
        „Die Demokratie gehört den 
        Menschen (demos = Menschen, krátos = Herrschaft), wobei die Regierung aus jedem 
        Einzelnen von uns besteht. Dennoch hört uns in Spanien der Großteil der 
        Politiker überhaupt nicht zu. Politiker sollten unsere Stimmen in die 
        Institutionen bringen, die politische Teilhabe von Bürgern mit Hilfe direkter 
        Kommunikationskanäle erleichtern, um der gesamten Gesellschaft den größten 
        Nutzen zu erbringen, sie sollten sich nicht auf unsere Kosten bereichern und 
        deswegen vorankommen, sie sollten sich nicht nur um die Herrschaft der 
        Wirtschaftsgroßmächte kümmern und diese durch ein Zweiparteiensystem erhalten, 
        welches vom unerschütterlichen Akronym PP & PSOE angeführt wird.“(ebenda)
        
        Sie imaginieren sich ein positives Prinzip der 
        Demokratie, wo sie – unter Missbrauch von Etymologie und Vernunft – die 
        wahren Herren derer sind, als deren entbehrliches Menschenmaterial sie sich 
        gerade erleben: „Demokratie (demos = 
        Mensch, krátos = Herrschaft), die den Menschen gehört, wobei die Regierung aus 
        jedem Einzelnen von uns besteht“. 
        
        Als Bürger schlechthin treten sie auf, vergessen, dass sie sich nicht wegen solcher 
        politologischen Kalauer über die Demokratie, sondern wegen eines sozialen 
        Anliegens zusammengefunden haben. Nicht mehr als Klasse von Ausgegrenzten, als 
        Anhängsel eines Geschäftsinteresses, das ihnen (k)eine Arbeit gewährt, führen 
        sie sich auf, sondern kritisieren als Staatsbürger, die sich für einen 
        besseren Bauplan ihres Gemeinwesens zuständig erklären. Der besteht zwar in 
        nichts anderem als in der billigen Vorstellung, dass wenn alles anders wäre, 
        eben alles auch nicht so hässlich wäre. So arbeiten sie sich dazu vor, sich eine 
        virtuelle Welt auszudenken, ein wahres, gutes und schönes Gemeinwesen, in dem 
        die handfesten Interessensgegensätze zwischen ihnen und ihrer Obrigkeit ebenso 
        wenig vorkommen, wie die zwischen ihnen und all den unternehmerischen, 
        grundeigentümerlichen, finanzkapitalistischen Instanzen, die ihnen das Leben im 
        schnöden Alltag schwer machen. 
        
        „Politiker sollten unsere Stimmen in die Institutionen 
        bringen, die politische Teilhabe von Bürgern mit Hilfe direkter 
        Kommunikationskanäle erleichtern, um der gesamten Gesellschaft den größten 
        Nutzen zu erbringen"(ebenda). 
        
        Wenn das allen Bekenntnissen der Politiker zur Demokratie 
        zum Trotz derzeit nicht geschieht, wenn auf die Lebensumstände der Menschen 
        keine Rücksicht genommen wird, kann das nur einen Grund haben, diese „Mächtigen“ sind
        verantwortungslos und versagen an ihrer
        eigentlichen Aufgabe der Bewahrung der „Normalität“, und zwar, weil sie nur auf ihren eigenen Vorteil schauen und 
        das Gute, Wahre, Schöne gegen Silberlinge verkaufen. Kurz: Das „System“ handelt nicht auf der 
        Grundlage seiner eigenen Gesetzgebung, sondern ist zu einem einzigen 
        Rechtsverstoß verkommen – es ist, wohin man schaut, von
        „Korruption“ durchdrungen. In den Worten eines Manifests:
        
        „Wir sind besorgt und wütend 
        angesichts der politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Perspektive, 
        die sich um uns herum präsentiert: Die Korruption unter Politikern, 
        Geschäftsleuten und Bankern macht uns hilf- wie auch sprachlos. Und diese 
        Situation ist mittlerweile zur Normalität geworden - tägliches Leid ohne 
        jegliche Hoffnung." 
        (ebenda)
        
        Es ist erstens ein Rätsel, warum dieselben Politiker, 
        Geschäftsleute und Banker, die für die alte und angeblich aushaltbare Normalität 
        zuständig waren und sie verbürgten, so plötzlich eine verbrecherische Laufbahn 
        eingeschlagen haben sollen. Es ist zweitens ein Fehler, diesen 
        Figuren, den Zapateros und Papandreous eine Absage entgegen zu schleudern, auch 
        wenn sie noch so frech - „Haut alle ab!“ - daherkommt: Diese Absage richtet sich gerade 
        nicht gegen die legitimen Machtbefugnisse, die das Amt diesen 
        Personen verleiht, sondern eben nur gegen die Personen. Was soll dabei 
        mehr herauskommen, als neue Personen, die dieselben Ämter 
        besetzen? Weswegen drittens die Aufregung über Korruption lächerlich 
        ist, denn was ist eine persönliche Bereicherung schon im Vergleich zu der 
        Gewalt, die Personen nach allen Regeln der Demokratie befugt gegen andere 
        ausüben können? 
        
        Aber all das interessiert die „Empörten“ nicht weiter – 
        Hauptsache, sie haben ihre Schuldigen gefunden und können an das eigentlich 
        gute „System“ weiterhin glauben. Die 
        Schuldigen nun mit aller Macht zu bekämpfen, kommt ihnen nicht in den Sinn, 
        vielmehr wollen sie bei „den Mächtigen“ 
        damit Eindruck machen, dass sie ihnen anklagend ihre eigene „Hilf- und Sprachlosigkeit“ vorhalten. 
        Warum meinen sie, damit bei „den Mächtigen“ 
        einen Stich machen zu können? Ist es so, dass sie sich gar nicht Anderes 
        vorstellen können, als dass ihre Lebensumstände weiterhin von Politikern, 
        Geschäftsleuten und Bankern festgelegt werden, dass sie sich weiterhin nach 
        deren Vorgaben richten müssen? „Tägliches Leid ohne jegliche Hoffnung“ sagen sie pathetisch – sie wollen 
        also wieder hoffen können. Sie selber sind „hilf- und sprachlos“ und können nur darauf hoffen, dass „die Mächtigen“ sich wieder besinnen, 
        denn nur die können ihnen wieder eine bessere Normalität verschaffen. 
        Mehr ist der ganze Protest nicht.
        
*
        
        Dieser Protest hat eine Bibel, das 2010 erschienene, 
        millionenfach verkaufte 14-seitige Pamphlet
        „Empört euch!“; ihr 
        Evangelist und Prediger ist der französische Résistance-Veteran Stéphane Hessel. 
        Zahlreichen Protestierenden muss diese Schrift dermaßen gefallen haben, dass sie 
        sich gleich „die Empörten“
        nennen: Sie meinen tatsächlich, dass die öffentlich vorgetragene 
        moralische Entrüstung, die zur Schau getragene Betroffenheit eine 
        Trumpfkarte ihres Protests wäre, weil sie sich mit ihren bescheidenen 
        Forderungen nach Wohnen und Arbeiten, ihrer unbedarften staatsbürgerlichen 
        Haltung absolut im Recht wähnen: Eigentlich wäre ihnen das in den 
        Grundrechten des herrschenden Systems versprochen, beteuern sie und deuten die 
        schönen Ideale guten Regierens als eine einzulösende Pflicht einer Herrschaft, 
        die ihnen zwar praktisch das Gegenteil beweist, bei der sie aber trotzdem Gehör 
        zu finden hoffen.
        Von der Kanzel der moralischen Empörung herab predigt auch 
        St. Stéphane. Seine Liste der Missstände liest sich in etwa genauso wie 
        die der jungen Empörten, die in Madrid oder Athen auf die Straße gehen: die 
        Streichung der „sozialen 
        Errungenschaften“, die unwürdige Behandlung der Immigranten, die 
        private Geldbereicherung, der „Vorrang 
        des Geldes“ über die „gerechte 
        Verteilung des Reichtums“, „der 
        Abstand zwischen den Ärmsten und den Reichsten, der noch nie so groß war wie 
        heute“, die „aktuelle 
        Diktatur der Finanzmärkte, die den Frieden und die Demokratie bedrohen“
        und dergleichen mehr. 
        
        Nur: Wo sich die Demonstranten wegen ihrer materiellen 
        Belange aufstellen, da stellt Hessel die Sache auf den Kopf: Er fordert die 
        Jugend zur Empörung auf, weil er die materiellen Nöte der Leute wie vieles 
        andere als Beweis für einen Notstand und einen Geschädigten anderer, höherer Art 
        begreift. Seine Republique, für die er 
        in der französischen Resistance kämpfte, sieht er als eine bedrohte sittliche 
        Gemeinschaft, die es zu retten gilt. Der Veteran der Resistance fordert dazu 
        auf, die Nation, für die er gekämpft hat, zu verteidigen und erinnert an das „Fundament seines politischen Engagements“, 
        
        „die Jahre der 
        Resistance und das Programm, das der Nationale Widerstandsrat vor 66 Jahren 
        erarbeitete. In diesem Rat kamen alle im Widerstand aktiven Bewegungen, Parteien 
        und Gewerkschaften im besetzten Frankreich zusammen und proklamierten ihre Treue 
        zum kämpfenden Frankreich und dessen Führer General de Gaulle. Dieser Grundsätze 
        und Werte bedürfen wir heute dringender denn je. Wir müssen alle darüber wachen, 
        dass unsere Gesellschaft eine Gesellschaft bleibt, auf die wir stolz sein 
        können, und nicht zu der Gesellschaft der illegalen Einwanderer, der 
        Abschiebungen und des Misstrauens gegen die Immigranten wird; in der man die 
        Rente in Frage stellt; deren Medien sich in den Händen der Reichen befinden – 
        Dinge, die wir niemals akzeptiert hätten, wenn wir die wahren Erben des 
        nationalen Widerstands wären.“ (www.faz.net – Auszüge aus Hessels Pamphlet „Empört Euch!“)
        
        Hier meldet sich ein Mahner, der von tiefer Sorge um das 
        gute Erbe seiner Grande Nation, das er an verantwortlicher Stelle mit 
        gestiftet hat, getragen ist, und das stilisiert er sich so zurecht:
        
        „Erinnern wir uns, dass die 
        soziale Sicherheit im Sinne des Widerstands begründet wurde, mit dem Ziel, allen 
        Menschen das Grundbedürfnis nach materieller Sicherheit zu gewährleisten. Ganz 
        besonders zu Zeiten, in denen sie nicht oder nur unzureichend aus eigener Kraft 
        für ihr existenzielles Überleben sorgen können. Eine Rente, die allen 
        Arbeitnehmern einen würdevollen Lebensabend sichert. Die Energiequellen Strom 
        und Gas, die Kohlebergwerke, die großen Banken sind nationalisiert. Das Programm 
        (des 
        damaligen Rates des französischen Widerstands von 1944; d.V.) empfiehlt die
        ‚Rückkehr zur Nation der großen monopolistischen Produktionsmöglichkeiten, 
        Frucht der gemeinsamen Arbeit, der Energiequellen, der Bodenschätze, der 
        Versicherungen und großen Banken, die Einrichtung einer wirklich 
        wirtschaftlichen und sozialen Demokratie.‘“(ebenda) 
        
        Die Restaurierung der vom Krieg zerstörten Nation, ihre 
        Herrichtung zum erfolgreichen Kapitalstandort mit allen sozialen Einrichtungen, 
        die eine auch auf Dauer rentable Benutzung der arbeitenden Klasse braucht, 
        verklärt Hessel zum Vorhaben, alle Franzosen von materiellen Sorgen zu befreien, 
        sie so in einer Republik zu vereinen, die ein einziger Hort praktizierten 
        französischen Gemeinsinns ist und die sie daher mit Recht als ihre 
        wahre Heimat auffassen können. Dieser große Patriot hat selbst 
        hingebungsvoll mitgewirkt an der Überhöhung des postfaschistischen 
        Staatsprogramms und an den Idealen demokratischer Herrschaft in der 
        UNO-Menschenrechtskonvention von 1948. Jahrelang hat er seinen Landsleuten den 
        Sieg über den deutschen Faschismus und die nachfolgende Etablierung der neuen 
        französischen Herrschaft als nationale Verpflichtung gegenüber hehren Idealen 
        und Werten der Menschheit verkauft hat und von Frankreich auf seinem Weg
        „zum demokratischen Staat in seiner 
        Vollendung“ – und jetzt, wo er in Gestalt von Arbeitslosigkeit, 
        Rentenkürzung, Verelendung der Jugend, Privatisierung der erfolgreichen 
        französischen Konzerne mit den Ergebnissen des 65-jährigen Wirkens dieser 
        schönen Demokratie konfrontiert ist, ordnet er die in sein patriotisches 
        Weltbild ein und ist radikal enttäuscht: Diese großartige Nation hat sich von 
        sich selbst entfremdet, so, wie sie aktuell verfasst ist, können Franzosen sich 
        in ihr unmöglich gut beheimatet finden! So werden die Vielen, die sich über die 
        Durchkreuzung ihrer Lebenschancen empören, in ihrem Fehler bestätigt. Von 
        genau denen, denen sie ihr Elend zu verdanken haben, wünschen sie sich 
        Verhältnisse, mit denen sie sich ihre Besserstellung ausrechnen: Für ein 
        auskömmliches Leben in der Klassengesellschaft zu sorgen, fällt in ihrem 
        unverwüstlichen Glauben ja genuin in den Zuständigkeitsbereich demokratischer 
        Herrscher, also sollen die auch endlich ihrem Auftrag nachkommen. Für den 
        französischen Großmoralisten ist dieser Auftrag dem neuen Frankreich gleich bei 
        seiner Geburt mit auf den Weg gegeben worden, so dass für ihn Franzosen nicht in 
        ihren beschädigten Interessen einen Grund zur Empörung haben. Der Umstand, dass
        ihr Vaterland es so weit hat kommen lassen, dass ein Humanist, der 
        nichts begreifen will, an ihm verzweifelt, ist für ihn der Generalgrund 
        für Empörung. Seinen jungen Landsleuten ruft er daher
        „Empört Euch!“ zu und versichert ihnen, dass sie dann, wenn sie 
        nur suchen, die Gründe ihrer Empörung ganz bestimmt finden werden – und auch, 
        welche Konsequenz daraus folgt:
        
        „Den jungen Leuten sage ich: 
        schaut Euch um, ihr findet genug Themen, Euch zu empören – wie man mit den 
        Immigranten umgeht, mit Menschen ohne ‚juristische Legitimation‘, mit den Roma 
        und Sinti. Ihr werdet konkrete Situationen finden, die Euch zu kraftvollem 
        Handeln als Bürger veranlassen werden. Sucht und ihr werdet finden!“(ebenda)
        
        Die Empörung, die Hessel einfordert, zielt also ausdrücklich 
        nicht auf eine Absage, sondern auf eine verantwortungsvolle Haltung, die 
        anständige französische Bürger angesichts des Zustands ihres Landes einzunehmen 
        hätten, auf ein „kraftvolles“ 
        staatsbürgerliches Engagement, das sich der Nation als sittlichem Kollektiv 
        verpflichtet weiß. Werdet radikal – aus Sorge um euer Vaterland!
        
        *
        
        Zwei haben sich jedenfalls schon mal gefunden: Auf der einen 
        Seite viele junge Menschen, die sich weigern, der beschissenen Lage, an der sie 
        Anstoß nehmen, auf den Grund zu gehen und daher Kritik durch 
        Alternativvorschläge ersetzen, wie Demokratie und Kapitalismus doch auch gut zu 
        ihrem Vorteil funktionieren könnten. Und ein Fundamentalkritiker auf der anderen 
        Seite, der von vorneherein jeden materiellen Grund zur Kritik zum bloßen Anlass 
        degradiert, sich in der Empörung Luft zu verschaffen, auf die er als 
        Patriot sich versteht, und darin die Perspektive für eine Generation sieht, die 
        für ihr Auskommen keine mehr hat. Als gute Bürger sollen die Jungen den 
        nationalen Gemeinsinn repräsentieren, der den Regierenden abgeht, und können 
        sich – und sollen sich vor allem auch – bei allem, worüber sie sich empören, in 
        einem sicher sein: Insofern sie sich nur nach Maßgabe all der idealen 
        Prinzipien, denen nach Auffassung guter Menschen das Gemeinwesen verpflichtet 
        ist, um dessen sittliche Vervollkommnung bemühen, ist ihre Empörung 
        absolut gerechtfertigt. Nicht zufällig spricht der Mann damit vielen aus dem 
        Herzen, die Grund haben, aufzubegehren, das aber so verkehrt tun. Zwar ist das 
        Gefühl, unbedingt im Recht zu sein, der einzige Ertrag, den eine 
        symbolträchtige Versammlung von ihrer Regierung enttäuschter Bürger vor 
        Parlamenten oder auf großen Plätzen abwirft. Aber insofern die derart Empörten 
        das gar nicht als Mangel ihres Protestes, vielmehr umgekehrt ihr massenhaftes 
        Versammeln schon als dessen Erfolg begreifen, haben sie in den 
        Herzensergießungen eines missionierenden Vaterlandsliebhabers ihre goldrichtige
        „Bibel“ gefunden: Sie 
        deuten auf ihre elende Lage und landen mit ihrer Kritik bei der Beschwörung 
        eines Idealbilds von Demokratie, der so ein Elend doch fremd zu sein habe – und 
        bekommen von einem Missionar des Sich-Empörens gesagt, dass ihr alberner 
        Idealismus die einzig senkrechte Antwort auf ihre Lage ist, weil nämlich die 
        Demokratie grundsätzlich als Verfahren zur Fürsorge für die eingerichtet wurde, 
        um deren Lebensglück es notorisch schlecht bestellt ist.