GEGENSTANDPUNKT GEGENARGUMENTE

Waffenstillstand in Gaza: Warum für Israels „Existenzrecht" eine „Lösung des Palästinenser-Problems" mit den Palästinensern nicht akzeptabel ist.

Wieder einmal hat sich Israel im Interesse seiner Sicherheit genötigt gesehen, Gaza massiv zu bombardieren. Aus dem gleichen Grunde wurde der Militärchef von Hamas, mit dem man vorher noch verhandelt hatte, von der israelischen Luftwaffe ermordet, weswegen die palästinensische Seite Raketen bis Tel Aviv abfeuerte.

Begrüßt wurde dieser Schlagabtausch von niemandem. Wie bei jedem Krieg wird auf das „menschliche Leid" und auf die Zerstörungen gedeutet, und jeder Mensch, der über ein moralisches Empfinden verfügt, weiß, dass das eine böse Sache ist. In unserer demokratischen Öffentlichkeit wird man jedoch keine Stellungnahme finden, die einfach nur ihre Ablehnung und Abscheu vor dem Krieg zum Ausdruck bringt. Vielmehr geht nach dieser pflichtgemäßen Eröffnungsphrase das Geschäft erst richtig los, nämlich indem die Frage gewälzt wird, für welchen der Kriegsgegner man Partei ergreifen soll. Unbedingt muss zwischen den Guten und den Bösen unterschieden werden. Dass es gute Gründe für Krieg gibt, ist damit schon einmal anerkannt - die Frage ist nur: Wer kann sie für sich reklamieren? Um das zu beurteilen, hält man sich an die Rechtfertigungen, die beide Seiten für ihr kriegerisches Tun ausgeben. Klar ist, dass jeder von sich behauptet, sich nur zu verteidigen, das „Recht auf Selbstverteidigung" auf seiner Seite zu haben. Umgekehrt beschuldigt er den anderen niederträchtiger Motive oder purer Machtinteressen.

Eben deswegen haben diese Rechtfertigungen für das Bedürfnis, sich auf die richtige Seite zu schlagen, einen Haken: Hier stehen sich zwei Behauptungen gegenüber, die sich zum Verwechseln gleichen. Davon lassen sich die Kommentatoren und Berichterstatter aber nicht abschrecken. Sie vergleichen - möglichst vor Ort – das „menschliche Leid", das die militärischen Gewalttaten anrichten. Es wird auf die international vereinbarten Regeln der Kriegsführung Bezug genommen, ob die Gewaltakte als sachgerecht und völkerrechtlich legitim zu beurteilen sind oder ob „Exzesse" und Menschenrechtsverletzungen passieren, man tut also so, als ließe sich ein Übermaß an Gewalt dingfest machen, was dann wiederum einen objektiven Beurteilungsmaßstab abgibt. Es wird beobachtet und notiert, wie hoch die Zahl der „unschuldigen Opfer", Frauen, Kinder usw., ist, womit allen anderen Toten und Verletzten attestiert wird, dass sie im Krieg wohl die unvermeidlichen Opfer sind und es nach diesem Maßstab daran nichts zu kritisieren gibt. Es wird beobachtet und notiert, welche Waffen auf welche Art und Weise eingesetzt werden: Da kann es mal ein Minus für Israel geben, weil es systematisch Hamas-Führer mit der völkerrechtlich nicht ganz einwandfrei abgesicherten Methode der vorbeugenden Hinrichtung liquidiert; ein Minus kriegt aber erst recht die Hamas, der „Terror gegen die Zivilbevölkerung" vorgeworfen wird, wenn sie ihre Raketen ins Feindesland abfeuert, während Israel bei seinen Luftangriffen auf den „am dichtesten besiedelten Landstrich der Erde" angeblich peinlichst darauf achtet, die „Zivilbevölkerung zu schonen".-

Wenn die israelische Luftwaffe dann doch fast bei jedem ihrer Angriffe tote Frauen und Kinder hinterlässt, dann gilt das als „unvermeidlicher" Kollateralschaden, an dem letztendlich die Hamas selber schuld sein soll: Sie disloziere Waffenlager und Raketenabschussvorrichtungen in Wohngebäuden und benutze so deren zivile Bewohner als „menschliche Schutzschilde". Sollte Israel tatsächlich einmal gegen das Völkerrecht verstoßen haben, dann wird so etwas immer ins Verhältnis zur Perfidie der Hamas gesetzt. Unterm Strich akzeptieren alle westlichen Beobachter, allen voran der während des kurzen Krieges vor Ort herumjettende deutsche Außenminister Westerwelle, dass Israel sein „Recht auf Selbstverteidigung" wahrnimmt, wenn es sein Militär zuschlagen lässt.

Auf dieser Basis der Merkel-Doktrin vom uneingeschränkten „Existenzrecht" des Judenstaates als Bestandteil deutscher Staatsräson reflektiert die demokratische Öffentlichkeit sachgerecht den Ertrag und die Probleme des jüngsten Waffengangs um Gaza. Hat die israelische Luftwaffe mit ihrem Zerstörungswerk Hamas nachhaltig geschwächt und dadurch weitere Raketenangriffe verhindert? Hat Israel mit seinen „gezielten Tötungen" die Raketen der Palästinenser provoziert? Und hat das tagelange Bombardement weniger die Hamas als die Zivilbevölkerung in Gaza fertig gemacht? Das in den Medien ausgegossene Mitgefühl für die toten „unschuldigen Opfer" in Gaza gibt's in mindestens ebenso großer Dosierung für die „unerträgliche Nervenanspannung", die der Bevölkerung im Süden Israels die Raketenbedrohung abverlangt. Deshalb auch die fast schon sportliche Bewunderung für die Abschusszahlen des neuen Raketenabwehrsystems der israelischen Streitkräfte. Ganz gleich, ob die „Eiserne Kuppel" oder der Waffenstillstandsvermittler Ägypten dafür sorgen, dass sich das Störpotential der radikalen Palästinenserführung in den Grenzen von Gaza hält, auf jeden Fall besteht jede mögliche israelische Regierung, die amtierende oder eine nach den Wahlen mögliche Oppositionskoalition auf der von Israel angepeilten und mit jedem Militärschlag mehr durchgesetzten „Lösung des Palästina-Problems".

In dieser, also der israelischen, „Lösung" ist die so genannte „Road Map", an deren Ende die „Zwei-Staaten-Lösung" stehen sollte, zwar noch nicht offiziell ausgemerzt worden, aber schon längst zu einer puren Worthülse verkommen. Immer wieder stellt Israel klar, dass ein palästinensischer Staat, wie verkrüppelt und ohnmächtig auch immer, für es nicht in Frage kommt, und es bekämpft unerbittlich alles, was auch nur ansatzweise in diese Richtung weist. Was zumeist übersehen wird: Israel befindet sich in seinem Verständnis immer noch im Akt der Staatsgründung. Angefangen hat das mit der gewaltsamen Landnahme auf Palästinensergebiet und inmitten einer arabischen Staatenwelt - die Feindseligkeiten waren damit vorprogrammiert. Israel beansprucht für seine „Sicherheit" zusätzliches Staatsgebiet. Gemäß seiner Gründungsdoktrin vom alttestamentarischen Erez Israel schließt das zumindest ganz Palästina und womöglich noch den Golan und Teile des Südlibanon ein. Mit dieser zusätzlichen Landnahme ist es aber nicht getan: Die Dauerkonfrontation mit den Palästinensern und den arabischen Staaten findet damit ja kein Ende, deren Feindseligkeit besteht zwangsläufig weiter, weswegen „Frieden" sich für Israel so buchstabiert, dass es jeden gegnerischen Willen unterbinden, machtlos machen kann. Das geht nicht unter dem Status einer regionalen Supermacht, die ihr Umfeld zuverlässig abschrecken, also jede mögliche Gegenwehr schon im Vorfeld ersticken kann. Das hat Israel von den USA zugestanden bekommen, und daran hat auch die Regierung Obama im Prinzip nichts geändert, auch wenn sie immer wieder ihre Unzufriedenheit mit dem Dauerkriegszustand zu erkennen gibt. Deswegen ist mittlerweile die Position der Partei des israelischen Außenministers Liebermann zur aktuellen Definition des israelischen Sicherheitsinteresses geworden: Die Palästinenser sollten sich eine Heimat suchen, in der ihre Ansprüche nicht mit den Rechten Israels kollidieren, also in den arabischen Staaten. Offen diskutiert wird bereits das Folgeproblem, ob nicht auch die bei der Staatsgründung verbliebenen Palästinenser mit israelischem Pass in ihre „arabische Heimat" transferiert werden sollten, wegen der „inneren Sicherheit" Israels und zur Erhaltung seines jüdischen Volkscharakters.

Vom Standpunkt Israels aus ist jede Kritik an den Formen der Wahrnehmung seines Sicherheitsinteresses eine Provokation und zieht sich den Vorwurf zu, Kritik am jüdischen Staat sei letztlich dem „Antisemitismus" des Kritikers geschuldet. Dieser Staat behauptet schließlich seit seiner Gründung - in der westlichen Welt unwidersprochen -, seine Gewalt sei die Testamentsvollstreckung der Opfer des „Holocaust" und deshalb sei Kritik an ihm die Befürwortung eines zweiten Genozids an den in Israel endlich zum Staatsvolk gewordenen Juden. Deshalb gehe in der Hand Israels selbst die Atombombe als „unverzichtbar" für den "Schutz des jüdischen Volkes und seiner Rechte" in Ordnung, während der Iran notfalls mit einem Krieg von seinem Kernenergieprogramm abgehalten werden müsse. Und von daher macht die Regierung Netanjahu auch kein Hehl daraus, dass die Blockade Gazas nicht nur Waffenschmuggel für Hamas verhindern, sondern der dortigen Bevölkerung die Lebensbedingungen so schwer wie möglich machen soll, weil sie die Herrschaft erklärter Feinde Israels duldet. Die Freunde und Förderer des israelischen „Rechts auf Selbstverteidigung" ignorieren wissentlich oder unbedarft, dass sich der zionistische Staat ungeachtet des Waffenstillstands weiterhin in einem erklärten Krieg mit der Hamas-Administration befindet: Weder deren Wahlsieg in der Palästinenser-Autonomie, noch ihre Machtübernahme in Gaza hat Israel anerkannt. Hamas ist für den jüdischen Staat eine „terroristische Vereinigung", deren Vernichtung als Frontabschnitt im „Krieg gegen den Terrorismus" Israel von der Bush-Administration zugestanden worden ist. Die Blockade gegen den Machtbereich der Hamas ist eine Kriegsaktion und die Leiden der Zivilbevölkerung sind kein Kollateralschaden, sondern eine Waffe in diesem Krieg, mit der Hamas die menschliche Basis weggenommen werden soll. Dieser Krieg kannte ja auch schon 2008 eine „heiße" Phase, in deren Verlauf 9000 palästinensische Zivilisten dafür büßten, sich als Bevölkerung für die Hamas zur Verfügung zu stellen.

Nach dem Waffengang wird jetzt über mögliche Lockerungen der Blockade des Gaza-Streifens unter ägyptischer Aufsicht spekuliert. Es gehört zu den erlesenen Widerwärtigkeiten des israelischen Umgangs mit dem störenden Fremdvolk auf seinem „gelobten Land", dass mit dem Zuschlagen seiner militärischen Macht Fakten gesetzt werden, angesichts derer das bloße Überlebenlassen der Opfer wie ein „Zugeständnis" daherkommt.

Die Freunde & Förderer eines permanent kriegführenden jüdischen Staates im Nahen Osten müssen sich schon entscheiden: Entweder sie schenken sich ihre Klagen über die „unerträgliche Lage" der Palästinenser, die eine „Lösung des Nah-Ost-Konflikts" dringend erfordere, oder sie nehmen endlich die von Israel praktisch durchgesetzte Lösung der „Palästinenserfrage" zur Kenntnis und wenden sich gegen die Freiheit Israels, im Nahen Osten ausschließlich nach seinen selbstdefinierten „Sicherheitsinteressen" als Staat zu existieren und zu agieren.