GEGENARGUMENTE

 

Josef Ratzinger geht in Pension, der Papst bleibt – VOM CHRISTLICHEN GLAUBEN: Opium fürs Volk – moralische Waffe für die Herrschaft, Teil 1

 

Papst Benedikt tritt zurück – ein überraschender Schritt. Diese Meldung hat sofort Tageszeitungen und Talkshows ziemlich umfassend verstopft. Der pensionierte Pontifex verweist Meldungen über Bomben und Bürgerkriege auf die hinteren Plätze – und das beileibe nicht nur in katholischen Medien oder Ländern. Entgegen anderslautender Auskünfte über die Trennung von Kirche und Staat und über den rein privaten Charakter von religiöser Überzeugung – jener großartigen Errungenschaft, die das aufgeklärte Abendland angeblich den rückständigen Gottesstaaten voraus hat – outet sich eine ganze bürgerliche Öffentlichkeit plus regierender Chefetage als tief beeindruckte Parteigänger dieser Sorte Sinnfindung. Sie werden schon wissen, was sie an diesem Verein haben. Die aufgeklärte Demokratie legt auf die religiöse Sinnstiftung offensichtlich großen Wert.

Wir gehen daher in dieser Sendung zunächst der Frage nach, was die Dreieinigkeit von Heiligem Geist, Gottvater und Jesus so an sich hat, das Erdenbürger und -mächte so schätzen und beschäftigen uns anschließend mit der Stellung der hiesigen Politik zur Religion.
 

Vom christlichen Glauben

1. Gott Vater

Mit dem Glauben an ein Subjekt namens Gott, das die Welt erschaffen hat und erhält, eines allwissenden, allmächtigen, omnipotenten Herrschers, dem alle und alles folgt, knüpft der Christ an die allgemeinen Prinzipien der weltlichen Herrschaft an, die er als Untertan kennt. Gott besitzt alle Insignien einer weltlichen Macht: Er erlässt Gebote, an die sich jeder bei Strafe zu halten hat, er besteht in ihnen auf der Wahrung von Eigentum und Ordnung, Familie, Sitte und Moral, er kassiert bei seinen Untertanen ab, er fordert die unbedingte Loyalität seiner Schäfchen zu sich ein, er sieht andere Götter gar nicht gerne neben sich, kennt also durchaus auch gute Gründe fürs Töten, wenn’s gegen die Konkurrenz geht, er lässt sich durch jedes Opfer für ihn adeln – und ist den wirklichen Machthabern und ihrer Herrschaftsführung gerade darin moralisch haushoch überlegen, dass er über den niederen Gefilden der wirklichen Machtausübung, dem irdischen Jammertal, steht. Die Richtlinien seiner Machtausübung lauten Frieden und Nächstenliebe, Gerechtigkeit und Mitmenschlichkeit, Gnade und Vergebung auf Erden und wer sich an diese Maximen zu Lebzeiten hält bzw. nicht hält, dem winken Lohn und Strafe ganz besonderer Art: Im Jenseits winken das Paradies oder das Schmoren in der Hölle, wenn das „Jüngste Gericht“ die Eintrittskarte in den Himmel verweigert. Sein Reich ist in jeder Hinsicht nicht von dieser Welt – und wird doch als nicht nur theoretisch wahr, sondern auch praktisch wirksam behauptet. Die wirkliche Welt, ob arm, ob reich, ob Machthaber oder Elendsfigur, kann gar nicht anders, als seinen Geboten zu folgen, und jedes Nicht-Befolgen, so deutet nämlich der Christ Neid und Missgunst, Krieg, Armut und Elend, münzt der Glaube konstruktiv um in einen einzigen Beleg für seine Konstruktion vom „lieben Gott“. Nicht umsonst beginnt die Bibel mit einer sorgsam ausgetüftelten Schöpfungsgeschichte, die im Dogma von der doppelten Menschennatur gipfelt, wonach jeder Mensch qua Natur ebenso ein Ebenbild Gottes, also ein per se dem Glauben verpflichteter Christ ist, wie auch ein armseliger Sünder, der ständig und notwendig vor seiner eigenen besseren, sprich: gläubigen Natur versagt.

Mit anderen Worten: Gott ist ein gleichermaßen ideeller wie idealer Herrscher, mit dem sich das Bedürfnis eines Untertanen nach einer ebenso allmächtigen wie guten und gerechten Herrschaft, die ohne Ansehen der Person Anstand und Güte belohnt, vortrefflich bedienen lässt. Mögen die diesseitigen Mächte auch oft grausam und ungerecht, schwach und erfolglos sein, Gott lassen sich alle Tugenden eines erfolgreich guten Machthabers andichten. Er ist nicht nur omnipotent, er ist nicht nur ein Gott, der straft und rächt – sondern auch ein Herrscher, der seine Untertanen wie ein Vater liebt und dem nichts Menschliches fremd ist, der auch die Nichtachtung seiner Gebote wie auch seinen ungläubigen Gegnern verzeiht, der die Liebe unter den Nächsten gebietet und das Töten verbietet, kurz: dem man als Christ gerne in Demut dient.

Diesem affirmativen Ideal eines höchsten, guten, „väterlichen“ Herrschers und Richters, der jeglicher Kritik enthoben ist, entspricht auf der anderen Seite die generelle Kritik an der sündigen Menschennatur. Während und weil Gott allmächtig und allwissend ist, ewig und allgegenwärtig den Lauf der Welt bestimmt, fällt der Christ mit der Entscheidung, an diesen Gott zu glauben und sich ihm freiwillig zu unterwerfen, das Urteil über sich, unwissend, sterblich und sündig zu sein. Er beschuldigt sich und alle anderen allen Ernstes, über einen Verstand, eine Natur und Bedürfnisse zu verfügen, kurz: nur ein Mensch zu sein. Das hat Methode: All die beklagenswerten Zustände auf der Welt haben ihre Ursache damit in verdammenswerter Hybris, Unmoral und Habgier des Menschen – so ausgeprägt ist der gläubige Wille, lästige Fragen nach Grund und Ursache von Verarmung, Krieg und Elend zu vermeiden. Nie käme ein Christ auf die Idee, die sehr weltlichen, ökonomischen wie politischen Ursachen für irgendein Unbill auf dieser Welt zu hinterfragen – lieber denkt er sich eine ideelle Gemeinschaft von Sündern aus, in der alle Gegensätze von politischen und sonstigen Machern und den von ihren Taten Betroffenen getilgt sind, in der oben und unten vereint sind im Dienste an Gott, und beschuldigt sich pars pro toto.

Mit dieser Selbstbezichtigung winkt dann andererseits auch ein Lohn ganz eigener Art: Der Glaube an die eigene Sündernatur ist nämlich schon der erste Schritt hin zu einem gottgefälligen Leben und zur Aussicht, Gottes Gnade teilhaftig zu werden, wenn schon nicht im Diesseits, so auf alle Fälle im paradiesisch ausgepinselten Jenseits. Und weil er um seine Sündernatur weiß und sich dazu bekennt, steht ihm auch das Recht zu, selbstgerecht über den Rest der Menschheit zu urteilen und sie zu sortieren: In welche, die die gerechte Strafe Gottes schon hinieden erfahren und sie verdient haben, und welche, die unverschuldet in Not, Armut und Elend leben, Leute also, mit denen man mit-leidet, für die man betet und einen Schein spendiert.

So deutet der Christ jeden Wechselfall des Lebens, alles, was jemand mitmacht bzw. mitmachen muss, ziel- und selbstsicher aus dem Verhältnis zu Gott, das er eingerichtet hat. Alles, was jemand tut und treibt, alles aber auch, was mit einem angestellt wird, löst sich darin auf, dass es einen von Gott gegebenen Sinn hat.

2. Gott Sohn

Mit der christlichen Deutung von jedem Gemach und Ungemach als Gnade oder Strafe Gottes sind die Zumutungen des irdischen Jammertals nicht aus der Welt. Das ist zwar mit der Deutung auch weder behauptet noch bezweckt – dennoch wollen Zweifel am Glauben einfach nicht ausbleiben. Über die Gerechtigkeit der einen oder anderen göttlichen Offenbarung lässt sich durchaus trefflich streiten – es gehört eben schon einiges dazu, sich alle Widrigkeiten auf unserem Erdenball wie Armut, Arbeitslosigkeit, Krankheit, Not, Naturkatastrophen und Krieg als göttliche Prüfungen zurechtzulegen. Die gläubige Interpretation der Realität stellt einen bleibenden Widerspruch zum Verstand dar, aber auch mit dieser Aufgabe wird ein Christ fertig. Er macht den Zweifel am Glauben produktiv für ihn, indem er ihn zu einer Daueraufgabe ernennt, an der sich ein Christ ständig zu bewähren hat.

Da trifft es sich gut, dass die Vorfahren der modernen Christen schon dasselbe Problem hatten und zum rechten Umgang mit dem Zweifel an Gott ihm einen Sohn zur Seite gestellt haben.

Als Erlöser der Menschen, der ihnen zeigt, wie sich die schlechte Menschennatur besiegen lässt, wie sich die eigenen Glaubenszweifel durch die freiwillige Annahme der Knechtsgestalt bekämpfen lassen, ist Gottes Sohn ein Mensch. Nur als solcher vermag er die Leiden im nimmermüden Dienste an seinem Glauben auf sich zu nehmen und kann als glaubwürdiges Vorbild für die christliche Tugend der Selbstverleugnung dienen, die sonst so schnell kein Mensch zuwege bringt. Vom selbstlosen Hingeben von Speis und Trank, vom Reichen der einen wie der anderen Backe bis hin zum Leiden und Sterben in der Passionsgeschichte wird den willigen, doch schwachen Gläubigen exemplarisch das Prinzip des rechten Umgangs mit ihrer Sterblichkeit und Sündernatur vorgeführt. Andererseits ist Jesus Gottes Sohn, also kein gewöhnlicher Mensch, und steht mit der Allmacht Gottes ausgestattet für das anbrechende Reich Gottes und für die Erlösung von allen Sünden – deshalb tut er gelegentlich auch ein Wunder, wandelt auf Wassern und darf nach seinem Tod am Kreuz wieder auferstehen. In seiner Doppelexistenz führt er in Menschengestalt quasi idealtypisch die christliche Entsagung und ihr Gelingen vor und ist darin ein echter Volltreffer für jeden gläubigen Christen: In ihm goutiert der Christ sich selbst und seinen Glauben, weil er als besagtes Doppelwesen beweist, dass Glauben nicht nur möglich ist, sondern die Überwindung der Sündernatur – wenn auch nur im Kleinen- machbar.

3. Der Heilige Geist

Bliebe noch der Dritte im Bunde. Auch er ist ein guter Beleg dafür, dass das Christentum bei aller propagierten Sicherheit im Glauben selber immer das Bedürfnis verspürt, die eigenen Gedankenkonstruktionen theoretisch wasserdicht zu machen. Die Denkfigur vom lieben Gott und seinem schwachen, aber gläubigen Knecht ist nun einmal nichts anderes und soll ja auch gar nichts anderes sein als eine fromme Überhöhung der Macht einerseits und dem ihr als gute Macht freiwillig und devot dienenden Untertanen – ihren Ursprung aber soll sie definitiv nicht im ganz und gar irdischen Wunsch des Gläubigen nach Verhimmelung solcher Verhältnisse haben, sondern in einem veritablen, nämlich ganz und gar geistigen spiritus rector. Auf die Art und Weise kriegt dann das eigene Glaubenskonstrukt zuguterletzt auch noch die ideelle Gestalt eines Heiligen Etwas verpasst, der noch eine methodische Etage höher über allem schwebt, überall seinen Geist mit drin hat und mit dieser Methode Gott Vater dankenswerterweise – qua spiritueller Zeugung mit einer Dame namens Maria – zu einem Sohn verhilft. Ein ziemlich billiger Gedankentrick, der die mit den Figuren Gott und Jesus transportierte Idee des Glaubens an sie verselbstständigt und ihnen als Geist zur Seite stellt, um der eigenen Fiktion die höhere Existenzberechtigung zu verleihen.

Christ und Welt

1.

Ein Christ macht, was alle machen: Er geht arbeiten, schaut aufs Geld, politisiert, geht wählen, zahlt Steuern und Miete, heiratet, kriegt Kinder und wenn’s hart kommt, zieht er in den Krieg. Das stinknormale Leben wird auch ein Christ nicht los. Aber dazu reicht sein Geist schon aus, dass er von ihm abstrahiert, es als bloße Durchgangsstufe und Bewährung im Glauben auffasst und alles ein bisschen anders betrachtet. Dabei hilft ihm sein Dachverband, Mutter Kirche, die ihn und seinesgleichen als Gemeinde organisiert und mit den ihr eigenen Berufsständen betreut. Dankenswerterweise kümmert sie sich auch darum, jedes Vorkommnis auf der Welt unter die Glaubensgrundsätze zu subsumieren, ihm somit die rechte, gläubige Sinndeutung zu verpassen und in urbi und orbi zu verkünden, so dass das normale christliche Basisschaf sich auf seine wahren Aufgaben hier auf Erden konzentrieren kann.

So pflegt ein Christ neben allem anderen den Geist der Gemeinde, geht hin und wieder, auf alle Fälle aber zu Weihnachten, in die Kirche, lässt sich in der Sonntagspredigt beschimpfen als schwacher Sünder und versäumt nicht die Gelegenheit, sich so ein gutes Gewissen zu verschaffen. Die weltlichen Opfer, die seine weltlichen Herren allüberall anzurichten pflegen, ergänzt er um sein eigenes in Gestalt eines Obulus in Klingelbeutel und Sammelbüchsen für Misereor, Karitas und wie die mildtätigen Vereine alle heißen. Dass die christlichen Ideale keine Richtschnur der Politik sind, davon geht der Christ selbstverständlich aus – dass sie aber gelebt werden können, dafür ist er in seiner Funktion als praktizierender Christ der leibhaftige Beweis. Er verteilt – mit tatkräftiger Unterstützung seiner Kirche – warme Decken und Suppen an Obdachlose, spendet nicht nur zur Weihnachtszeit für hungernde Negerkinder und ist damit so zufrieden, dass er gar nicht merkt, dass er mit seinen mildtätigen Gaben einer ganzen Geschäftsordnung den Segen erteilt, die ständig und laufend all die Opfer produziert, denen er bestenfalls eine kleine Linderung bei und in ihrem täglichen Überlebenskampf verschafft.

Aus der Sache mit dem Fleisch und der Wollust incl. deren Früchten sowie dem unvermeidlichen Abgang aller Menschen macht er qua Trauung, Taufe und Beerdigung einen Gottesdienst und stellt damit klar, dass die Gemeinschaft der Gläubigen auf das Leben ein moralisch-sittliches Recht anmeldet. Die tröstliche Botschaft lautet hier: Jedes Leben, so beschissen es sein mag, muss gelebt werden. Kein Wunder, dass die stinknormalen Lebensumstände der Mehrheit der Schäfchen Gottes hierzulande dem Christen kaum der Rede geschweige denn Mildtätigkeit wert sind: Leistungsdruck und Lohnsenkung, Steuerbelastung und Mieterhöhung, Entlassungen und Teuerungsrate, kurz: die ganz normale Welt der lebenslangen Verarmung schert einen Christen wenig. Sie gehört zur freiheitlich-marktwirtschaftlichen Ordnung und der Sicherung ihres weltweiten Erfolgsweg dazu, ist daher auch bei rechter, sprich: gerechter Ausgestaltung aus christlicher Warte notwendig.

Bei seiner kritischen Begutachtung ob der Einhaltung der göttlichen Gebote seitens des materiellen Wüstlings Mensch widmet er sich umso hingebungsvoller den Eckpunkten des Lebens zu: der Geburt und dem Tod. Was einer von seinem Leben hat, welchen Bedingungen er dabei unterworfen ist, ist vom Standpunkt des Glaubens aus uninteressant im Vergleich zur Frage, ob einer sich den höchsten Zuständigkeiten in Fragen von Leben und Tod zu entziehen gedenkt. In Fragen der Schöpfung und der sittlichen Bewährung von Gottes Geschöpfen an ihr hört für einen wahren Christen das Mitleid auf: Wenn Schwangere, die ihre Gründe haben werden, keine Kinder kriegen zu wollen, wenn ein sterbender und todkranker Mensch sich ein langes Leiden ersparen will – dann wittert der Christ darin bei allem Verständnis für die gebeutelte Menschenkreatur egoistische, unchristliche Umtriebe.

2.

Zur Welt der Politik und des Geschäfts hält sich der Christ eine kritisch-distanzierte Meinung. Auch die weltlichen Herren sind nur Auftragnehmer des Höchsten und seiner Gebote und werden ergo an ihnen gemessen. Seine Oberhäupter von der Kirche touren um die Welt, melden sich unermüdlich bei allem zu Wort und reden den wirklichen Herren bei all den Zumutungen, die sie dem gemeinen Volk servieren, immer wieder ins Gewissen. Sie fordern sie auf, bei ihrem manchmal schmutzigen Geschäft doch soziale Gerechtigkeit, Milde und Solidarität walten zu lassen – plädieren also dafür, dem christlichen Wertehimmel seinen gebührenden Platz in der Welt der politischen Gewalt zu verschaffen. Auch die von der Politik gesponserte Welt des Geschäfts kriegt dabei ihr Fett ab – sie gilt als materieller Sumpf, in dem der geistige, sprich geistliche Nährboden zu kurz kommt.

Solange aber die irdischen Herren dem Glauben freie Bahn lassen und der gläubigen Interpretation ihrer Machenschaften als Bewährungsproben im Geiste Gottes den gebührenden Platz in Gesellschaft und Staat zuweisen, solange sie ihre politischen Maßnahmen als ein Gebot christlicher Nächstenliebe verkünden, ist die Welt für einen Gläubigen im Prinzip in Ordnung. Alle gültigen Rechnungsweisen der kapitalistischen Geschäftsordnung von Reform des Sozialstaats bis hin zu weltweiten Eingreiftruppen werden in der Regel als notwendige abgehakt und begleitet von dem nimmermüden kritischen Fordern von und Hoffen auf mehr Mitmenschlichkeit, Solidarität, Gerechtigkeit und Frieden.

3.

Manchmal allerdings wird aus diesem Geiste heraus eine Minderheit von Christen sogar ungehorsam: Auch ihnen bleibt schließlich nicht verborgen, dass ihre schönen Ideale von einem gottgefälligen Miteinander, von karitativer Hilfe und Fürsorge und friedlich-gewaltfreier Politik und/oder vom unbedingten Wert des Lebens Ideale bleiben. Dann demonstrieren sie gegen eine atomare Nachrüstung und gehen zu Sitzblockaden, gewähren abgeschobenen Asylanten Asyl in der Kirche – oder machen auf unerlaubte Art und Weise mobil gegen Abtreibungsärzte und –kliniken. Für die Gottgewolltheit ihres pazifistisch-sozial oder konservativ eingefärbten Protestes wissen beide Fraktionen jedenfalls die einschlägigen Berg- und sonstigen Predigten als Beleg zu zitieren. Einig sind sie sich nämlich bei allen Differenzen über den Maßstab ihrer Kritik: Die Welt von Geschäft und Gewalt wird dahingehend kritisch begutachtet, ob und inwiefern sie eine gute oder schlechte Bedingung für die Praktizierung der eigenen, gläubigen Weltanschauung darstellt.

In der Regel gilt jedoch auch diesen Sorten von Protest der demokratische Rechtsstaat samt seiner kapitalistischen Wirtschaftsordnung als die beste aller möglichen Welten für die Freiheit eines Christenmenschen und ist ein Adressat, der nur an seine eigentlich guten Absichten erinnert werden muss. Wer vom Staat einen anderen Umgang mit Raketen, Flüchtlingen, Embryonen und Sterbenden fordert, erkennt ihn als den irdischen Herrn über Leben und Tod an und fordert von ihm, sich bei der Ausübung seiner Herrschaft doch bitteschön an seine wahre Verpflichtung auf die Gebote des Herrn zu erinnern.

4.

Zu potentiellen Staatsgegnern werden Christen und Kirchenmänner in Staatswesen, wo sie die Rolle des Glaubens und ihres zuständigen Dachverbands, der Kirche, behindert bzw. gefährdet sehen. Hier steht für sie die sittliche Gemeinschaft der Gläubigen und mit ihr die ideelle Volksgemeinschaft, die oben und unten im Glauben vereint, auf dem Spiel, die sie für die Basis des nationalen Gemeinwesens hält. Die Rettung des demokratischen Vaterlands vor Faschismus und Kommunismus ist dann das Gebot der Stunde. Auch hier freilich, beim Widerstand gegen die aus Sicht des Christentums gleichermaßen gottlosen Systeme von Faschismus und Kommunismus, zeigt sich wieder einmal die grenzenlose Anpassungsfähigkeit der Christengemeinde.

So störte sich ihre Kritik am Faschismus nicht daran, dass der Daseinszweck des Menschen seine Aufopferung für eine höhere Sache sein soll – diese Denkfigur ist dem dienstbaren Knecht Gottes nur zu gut vertraut – sondern an der sehr einseitigen Interpretation der höchsten Sache, um die es dabei zu gehen hatte. Weil dem Faschismus für den Sieg des deutschen Volkstums der Umweg über einen anderen Allerhöchsten als der Inkarnation der deutschen Staatsmacht, den Führer hinderlich war, wurde die althergebrachte Rolle der Kirche als Haupt-Sittenwächter im Staat abgelöst von einer neuen Staatsmoral, die dem Volk einen gewandelten Tugend- und Pflichtenkatalog diktierte. Statt Friedens- und Nächstenliebe wurde der Schicksalskampf für die Überlegenheit der arischen Rasse propagiert und kirchliche Ermahnungen und christliche Vorbehalte gerieten zu unerträglichen Behinderungen dieses Vorhabens. Zum Glück setzte jedoch auch der Führer auf die nationale Anpassungsfähigkeit des christlichen Glaubens. Sofern sich die Kirchen dem Alleinvertretungsanspruch der nationalsozialistischen Weltanschauung beugten, durfte auch im Faschismus weiterhin gebetet und auf einen Sieg des wirklichen Herrn hienieden gehofft werden. Die Mehrheit der Kirchenvertreter und Gläubigen machte in stummem Protest ihren Frieden mit Judenvernichtung und Weltkrieg – bis auf einige wenige, die die Freiheit des Christenmenschen verteidigten und sich gegen die Beschränkung der Rolle der Kirche als ideologischer Zuträger für Volk und Reich wehrten. Sie wurden vom nationalsozialistischen Staat zu Opfern gemacht, mit anderen ihm unliebsamen Staatsgegnern in KZs umgebracht und dürfen posthum die zweifelhafte Würdigung ihrer Glaubensbrüder genießen, als Beleg für die per se antifaschistische Gesinnung der Kirche herzuhalten.

Auch mit den realsozialistischen, atheistischen Staaten ließ sich aus Sicht der Kirchen durchaus ihr Frieden machen – solange nämlich die Machtverhältnisse so waren, wie sie waren, und die Gemeinschaft der Gläubigen sich damit zufrieden geben musste, als Zuträger zur sozialistischen Moral, als Beweis für die sowieso schon immer existente Einheit von Staat und seinem Volk geduldet zu sein. So lange – wie z. B. in Polen vor dem Ende des Ost-West-Gegensatzes – ein weniger frommes Nationalbewusstsein nicht zu haben war für die KP, wurde die Mutter Gottes als Transmissionsriemen eines polnischen Patriotismus durchaus geduldet, und so lange ein frömmerer Staat nicht zu haben war, arrangierte sich auch die katholische Kirche mit ihm. Als der organisierte Rechtsanspruch ihres immer schon gebeutelten, da fremd regierten Volkes für eine genuin polnische, im Glauben vereinte wahre Volksgemeinschaft hetzte die katholische Kirche nur von den Kanzeln gegen die politische Überfremdung des existenten polnischen Staats durch die damalige SU. Kaum aber setzten sich dort in einem Massenprotest Werftarbeiter gegen ihre materielle Beschränkung zur Wehr und entblödeten sich nicht, ihren Kampf in den um einen besseren, polnischen Staat zu überführen, in dem und dem gläubig zu dienen sich lohnt, da sah sich die Kirche durch ihre gläubige Basis ins Recht gesetzt und pochte auf mehr Rechte im Staat der Atheisten. Den Sieg jedenfalls des freien Westens über den Sozialismus feierte und feiert seitdem das Christentum auch als einen Erfolg für sich.

5.

Ein Christ hadert wegen seines Glaubens mit vielem, was die Welt von Geschäft und Gewalt so hervorbringt. Aber auch mit seinem Glauben bzw. der für ihn zuständigen Aufsichtsinstanz, vor allem der katholischen Kirche, hat ein Christ manchmal so seine Schwierigkeiten. Und das ist kein Wunder – schließlich beansprucht dieser nicht mehr und nicht weniger als der gültige moralische Leitfaden zur Beurteilung der Welt zu sein. Es liegt in der Natur der Sache, dass die Interpretation der Welt vom Standpunkt des Glaubens aus ein kirchliches Dogma ist, das seine ganz eigenen Kriterien vor allem in den Fragen von Zeugen, Leben und Sterben kennt, die nicht umstandslos zusammenfallen mit den Notlagen und Erfordernissen sowie anders gestrickten sittlichen Deutungen eines bürgerlichen Lebens, denen auch ein Christ sich zu stellen hat. Ob in Fragen der Empfängnisverhütung oder der Anerkennung der Homosexualität, ob in Fragen des Scheidungsrechts, ob in Fragen der Abtreibung oder der Sterbehilfe, aber auch in Fragen der innerkirchlichen Demokratie kollidieren Glaubensgrundsätze notwendig mit oft sogar staatlich erlaubten oder tolerierten Selbstverständlichkeiten des heutigen Lebens. Der Ruf nach einer zeitgemäßen Anpassung veralteter Glaubensgrundsätze, die Forderung nach einer Reform der Kirche gehören daher zum christlichen Glauben wie das Amen in der Kirche – ebenso wie die entsprechenden Konter, die darin eine häretische Aufweichung der kirchlichen Glaubensgrundsätze sehen. Egal, ob die Kirche den einen oder anderen Grundsatz dann aufgibt oder auf ihm beharrt, eins steht jedenfalls fest: Das gemeinsame Sorgeobjekt dieses Dauerclinchs, die ungebrochene Anziehungskraft des Glaubens, geht aus diesem Streit immer als Sieger hervor.