Der Kapitalismus hat alle überkommenen Produktions- und Reproduktionsverhältnisse, Sitten und Gebräuche seiner Vorgängergesellschaften mit der Einführung der Geldwirtschaft, der permanenten Umwälzung der Produktion zum Zwecke der Profitmaximierung, der dafür benötigten Entfesselung und ständigen Revolutionierung von Wissenschaft und Technik gründlich über den Haufen geschmissen – das Bedürfnis nach dem schon recht alten Glauben an eine gewisse Dreifaltigkeit trifft hingegen bei seinen mobil und flexibel gemachten Bürgern nach wie vor auf tiefstes Verständnis, auch bei vielen von denen, die eine Kirche noch nie von innen gesehen haben.
Seine Herrschaftsform, der demokratische Rechtsstaat hat die ökonomische und politische Macht der christlichen Kirche mit der Etablierung der Trennung von Staat und Kirche ausgelöscht – ihre Nachfolgeorganisationen stehen samt ihrer Weltanschauung nichtsdestotrotz unter dem besonderen, verfassungsmäßig garantierten Schutz des Staates. Die Pflege des Glaubens findet organisiert statt und die Kirche hat ihren gesetzlich gesicherten Platz im System der weltlichen Macht: Sie darf in den staatlichen Schulen ihren Nachwuchs rekrutieren und ausbilden, Steuern kassieren lassen und genießt so manchen gemeinnützigen Vorteil. Ganz zu schweigen von den Textbausteinen ihrer Sonntagspredigten von A (wie Armut, schreckliche, meist in Afrika) bis Z (Zivilisation, christliche, meist im Abendland), die bei Politikern aller Couleur sowie den Meinungsmachern der 4. Gewalt sowieso permanent vorkommen.
Was es mit der Dreieinigkeit von Heiliger Geist, Gottvater und Jesus auf sich hat, das Erdenbürger und -mächte so schätzen, war Thema der Sendung vom Dienstag. Heute geht es um die
Stellung der hiesigen Politik zur Religion: Die Trennung von Staat und Religion
1.
Die demokratischen Staaten verlassen sich bei ihrer Machtausübung auf die Zwänge von Eigentumsordnung und Geldwirtschaft. Der Glaube ist Trostspendung fürs bürgerliche Subjekt, ein konkurrierendes Sinnangebot unter anderen, insofern Privatsache – und als solche auf alle Fälle einmal kein verpflichtender, gültiger Maßstab, an den sich die Politik zu halten hätte. Allerdings nimmt der Staat zum religiösen Sinnangebot, dem christlichen speziell, ein besonderes Verhältnis ein – deren flächendeckende und historisch verbürgte Leistung für die Schmiedung einer ideellen Volksgemeinschaft im Geiste Gottes, die der wirklichen Herrschaft ihr Recht zuweist, die alle weltlichen moralischen Ge- und Verbote in das Wirken einer höheren Instanz verwandelt und damit legitimiert, die schätzt und würdigt auch der demokratische Staat. Die weltlichen Herren organisieren eine Symbiose von geistlicher und weltlicher Macht, in der sich beide nützen, indem sie einander dienen.
Die Grundlage dieser gelungenen Symbiose ist die Trennung von Staat und Religion, die der bürgerliche Staat gewaltsam durchsetzt. Er definiert sich in den Fragen seiner Staatsraison als atheistisch, setzt die Gesetze von Marktwirtschaft und Demokratie in Kraft und schmiedet eine nationale Identität, indem sich jeder an den Rechnungsarten des Kapitalismus zu bewähren hat. Die katholische Kirche, die über viele Jahrhunderte hinweg selber ökonomisches (als größter Feudalherr) wie politisches Subjekt war (in Gestalt vom Papsttum selbst sowie der von ihm beeinflussten und /oder bekämpften sonstigen Könige und Kaiser), entmachtete er. Ausdrücklich nimmt der demokratische Rechtsstaat von der Praxis seiner noch feudalistisch geprägten Vorgängerstaaten Abstand und schafft die Staatskirche ab, stutzt also den Dachverband der katholischen Gläubigen zu einer “Religionsgesellschaft” neben anderen zurück, die sich ihrer Unterordnung unter die weltliche Macht und ihrer Verantwortung vor der Regierung, die sie erlaubt, bewusst sein muß:
“Jede gesetzlich anerkannte Kirche und Religionsgesellschaft hat das Recht der gemeinsamen öffentlichen Religionsübung, ordnet und verwaltet ihre inneren Angelegenheiten selbständig, bleibt im Besitze und Genusse ihrer für Kultus-, Unterrichts- und Wohlthätigkeitszwecke bestimmten Anstalten, Stiftungen und Fonds, ist aber, wie jede Gesellschaft, den allgemeinen Staatsgesetzen unterworfen.” (Artikel 15 Staatsgrundgesetz von 1867)
Die Kirchen selbst und vor allem den christlichen Glauben, den sie betreuen, stellt er ausdrücklich unter seinen rechtsstaatlichen Schutz. Zwar dient der Glaube an Gott nicht mehr wie in den vorbürgerlichen Staatswesen als Ersatz für eine nicht vorhandene nationale Einheit von Staat und Volk, zwar legitimiert er nicht mehr wie noch bei den feudalen Herrn deren Herrschaft als “von Gottes Gnaden”, mit der Gewährung der “Freiheit des Glaubens” – “Die volle Glaubens- und Gewissensfreiheit ist jedermann gewährleistet.” (Artikel 14 Staatsgrundgesetz) – aber bekennt er sich ausdrücklich zu der von ihm geschätzten Funktion der religiösen Moral für ein modernes, freiheitlich-kapitalistisches Gemeinwesen.
Diese Funktion besteht darin, sich einen omnipotenten, jenseitigen Herrn zu imaginieren, dem sich der Gläubige gerne unterwirft – und in dieser Abstraktheit überbietet jede Religion den Verpflichtungscharakter von weltlicher Herrschaft, da Gott, Allah oder wie die höheren Wesen sonst noch heißen, per se weltweite Gültigkeit für sich beanspruchen und sich von Nationen und deren Grenzen gerade emanzipieren. Darin machen sie sich gegenseitig den Alleinvertretungsanspruch aufs Jenseits streitig – was das Diesseits angeht, kennen Religionen erst mal keine Vaterländer, was umgekehrt die Basis abgibt für die prinzipielle Funktionalität jedweden Glaubens für alle real existierenden Nationen. Meister in der Disziplin “religiöse Toleranz” ist auch hier die mächtigste Demokratie: Gerade die weltanschauliche Neutralität des amerikanischen Staates sichert dem Allerhöchsten einen festen Platz im Gefühlshaushalt der USA und lässt ihn umstandslos den “american way of life”, die absolute Unanfechtbarkeit des anständigen wie erfolgreichen Konkurrierens, in der privater Lebenskampf und nationale Sache zusammen fallen, beglaubigen. So ist Gott auch immer an prominenter Stelle mit dabei, wenn es ans Weltordnen geht – der amerikanische Präsident etwa sah sich als “wiedergeborener Christ” mit einer besonderen Beziehung zum himmlischen Herrn, der auch ohne irdischen backup in Gestalt eines Papstes seinen Feldzügen den moralischen Segen erteilt. Wer die unangefochtene Weltmacht ist, hat eben auch den Allerhöchsten auf seiner Seite.
Der Staat schätzt nämlich das jeder Religion immanente abstrakte Prinzip, dem Mitmachen in dem jeweiligen Laden, all den geforderten Pflichten und Opfern einen höheren, ganz eigenen Sinn zu verleihen, einen nämlich, der nicht von dieser Welt ist und der so unwiderlegbar gut ist wie er unwidersprechlich das Aushalten aller Zwänge hienieden als rechte Bewährung im Glauben adelt. Damit ist die dem Glauben staatlich zugewiesene Rolle klar umrissen: Die Religionsausübung wird wegen ihres Nutzens für den Sittenhaushalt der Nation gewollt und gewährt – als individuelles Recht, das sich nicht anmaßen darf, sich im bürgerlichen Leben absolut zu setzen. Niemand darf wegen seines Glaubens benachteiligt bzw. bevorzugt werden, und dass seine bürgerlichen Rechtssubjekte ansonsten ein Leben lang in Schule und Beruf durch- und in alle möglichen Hierarchien einsortiert werden, dass sie sich hinsichtlich ihres Einkommens und ihrer Lebensverhältnisse erheblich unterscheiden, ist dem freiheitlichen Rechtsstaat nur zu gut bekannt, schließlich hat er die gesellschaftlichen Verhältnisse so eingerichtet, das des einen Vorteil des andern Nachteil ist. Bei der Herstellung der handfesten Unterschiede aber, auf die es ihm praktisch in der Welt von Geschäft und Politik ankommt, sollen Differenzen in Fragen der sittlichen Moral keine Rolle spielen. Eine im Rahmen von Marktwirtschaft und Demokratie sachfremde Verquickung der staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten mit der Ausübung der Religionsfreiheit verbietet er ausdrücklich: “Der Genuß der bürgerlichen und politischen Rechte ist von dem Religionsbekenntnisse unabhängig; doch darf den staatsbürgerlichen Pflichten durch das Religionsbekenntnis kein Abbruch geschehen. Niemand kann zu einer kirchlichen Handlung oder zur Teilnahme an einer kirchlichen Feierlichkeit gezwungen werden, in sofern er nicht der nach dem Gesetze hiezu berechtigten Gewalt eines Anderen untersteht.” (Artikel 14 Staatsgrundgesetz)
Der Glaubwürdigkeit des speziell in Europa hausenden Christentums hat diese Relativierung der politischen Macht der Religion am Primat des Staates keinen Abbruch getan. Der in vorbürgerlichen Zeiten den Glauben zeit seines langen Lebens begleitende Vorwurf, er sei wegen seiner Verquickung mit der weltlichen Macht machtbesessen, grausam und korrumpiert, er sei also gar nicht mehr der göttlichen Herrschaft verpflichtet, welcher Vorwurf zu Unruhen, Richtungskämpfen und Abspaltungen unter den Gläubigen selbst geführt hat –, diese selbst verschuldete Anfechtung ist der christliche Glauben mit dem ihm aufoktroyierten Trennungsgebot ein für allemal los. Stattdessen kann er sich, nur seinen gläubigen Interpretationen verpflichtet, all den politischen Zumutungen widmen, denen die Menschheit sich ausgesetzt weiß – und Hoffnung, Liebe und Erlösung predigen, die dann im Himmelreich geboten wird. Dass er seinen ehemals herausragenden Platz im nationalen Sittengebäude teilen muß, nicht nur mit anderen Göttern, sondern auch mit Sinnstiftungsangeboten ganz anderer Art, die sich vor allem der psychologischen Betreuung des bürgerlichen Individuums widmen, ist der Preis seiner demokratisch garantierten Freiheit. Aber auch mit dieser Herausforderung weiß die Kirche schöpferisch umzugehen. In der Konkurrenz, wer ist der bessere, erfolgreichere Seelenfänger, mutiert der Seelsorger locker zum Mediator und Eheberater, wird im Unterricht das Evangelium auch gern modisch verfremdet und sind auch Sex-Themen längst kein Tabu mehr.
2.
Ganz pragmatisch und vorurteilsfrei weiß der moderne Staat die affirmative Leistung, die alle Religionen eint, für sich zu benutzen. Solange sich seine Bürger mit ihrem jeweiligen Glauben einen Reim auf ihr Schicksal, ihre Pflichten und vor allem auf ihre Enttäuschungen machen, und ihrem Dasein damit einen versöhnlichen Sinn geben, ist ihm völlig wurscht, wie sich der jeweilige Glaubensherr schimpft, zu dem sie beten, ja sogar, ob sie überhaupt zu einem beten.
Seiner “Verantwortung vor Gott”, die sich nicht alle, manche Staaten aber schon explizit in ihre Gesetzgebung geschrieben haben, kommt der demokratische Rechtsstaat zuallererst darin nach, dass er der Vertretung Gottes auf Erden einiges Geld und einige Macht über die Herzen und Köpfe der Menschen verschafft. Er garantiert die Eigenständigkeit der Kirchen als Rechtssubjekt, das über ein manchmal nicht eben unbeträchtliches Vermögen frei verfügen kann, er verleiht ihm den Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts, das Steuern einnehmen darf, und treibt diese für sie ein. Für die Pflege des Glaubens genehmigt er auch glatt eine Ausnahme vom ansonsten gültigen Prinzip, dass Müßiggang im Kapitalismus aller Laster Anfang ist, und erklärt die Sonn- und Feiertage für arbeitsfrei. Er schätzt ihre moralische Voreingenommenheit beim menschlichen Leben und lässt sie Schwangere beraten, wie z.B. der deutsche Staat, auf dass viele Kindlein zu ihm kommen. Er würdigt ihre private Opferbereitschaft, ohne die sein Sozialwesen noch bescheidener aussähe, und lässt sie Kranke und Sieche betreuen. Vor allem aber lässt er sie ungehindert in den Schulen seinen nationalen Nachwuchs indoktrinieren, indem er den Religionsunterricht zum ordentlichen Lehrfach erklärt.
Viel Verständnis hat der demokratische Rechtsstaat auch für den Kampf der christlichen Lehre gegen die unliebsame Konkurrenz des organisierten “Aberglaubens”. Wenn, wie z.B. die in den USA hoch geschätzte Organisation scientology Anklang findet, mit einer Kombination von psychologisch ausgefeilten Erfolgstechniken für den modernen Konkurrenzgeier plus ihrer Überhöhung, wonach die Gleichung von Erfolg, angeberischem Selbstbewusstsein und gutem Gewissen einen angemessenen Tabellenplatz nicht nur in der weltlichen Konkurrenz, sondern auch in der göttlichen Weltordnung sichert – wenn scientology also sogar in oberen Wirtschaftsetagen Erfolg hat, dann muß dieser Glaube in Europa damit rechnen, zu einem Fall für die Behörden zu werden. Da sieht der hiesige Rechtsstaat u.U. eine Verquickung von Moral und Geschäft am Werk, die er als Unterwanderung seines Wirtschaftslebens und des Moralhaushalts seiner Nation deutet und “Sekte” nennt. Befugt zur moralischen Verdummung der Menschheit, berechtigt zur Lenkung der Volksmoral sind für’s erste die staatlich unterstützen Amtskirchen, da weiß man, was man hat.
3.
Jedenfalls in aller Regel, denn ganz ohne Konflikte kommt auch diese gelungene Beziehungskiste zwischen geistlicher und weltlicher Macht nicht aus. Gerade das, was den Reiz des mystischen Zinnobers für die Staatenlenker ausmacht, das Schmieden einer ideellen Gemeinschaft von oben und unten im Geiste Gottes, die Überhöhung von Herrschaft und Knechtschaft, das schließt allemal ein, dass der Glaube eigene, spirituelle Maßstäbe für ein rechtes Dienen und Regieren kennt, die mit den tatsächlichen Maßstäben für ein wohlgefälliges Leben im Kapitalismus nicht zusammenfallen. So bleibt es immer noch die Leistung der Auslegung und Anwendung der Glaubenssätze durch die Amtsträger der Kirche, ob und inwieweit sich der Gläubige mit der schnöden Welt von Mammon und machtgierigen Herrschern zu arrangieren gedenkt. Wo es sein muss, spart daher auch der Staat vor allen in den Grundsatzfragen von Leben und Tod seiner Untertanen nicht mit deutlichen Worten der Kritik an seiner Dienerin, der Kirche.
Die christliche Überhöhung seiner irdischen Herrschaft über Tod und Leben seiner Untertanen als Dienst an der Schöpfung Gottes schätzt der Staat zwar sehr – einigen gewissen, aus seiner Sicht fundamentalistischen Übertreibungen in der Frage des “unbedingten” Rechts auf Leben erteilt er allerdings eine klare Absage. Nur zu gut kennt er die von ihm gesetzten Bedingungen, von denen hierzulande das Kinderkriegen und Sterben abhängt. So sehr er einerseits unbedingt will, dass sich sein benutzbares Staatsvolk vermehrt und daher Abtreibung unter Strafe stellt, so sehr ist ihm andererseits keinesfalls fremd, dass die Mehrheit in seinem Land sich das Kinderkriegen dank Lohnsenkungen und umfassender Sozialstaatsreformen kaum noch leisten kann, manche das daher auch nicht wollen – nicht weil sie Gegner dieser Verhältnisse sind, sondern bloß, um sie einigermaßen auszuhalten. Und so sehr ihm einerseits die niederen Motive von erbwütigen Angehörigen, von überforderten Pflegekräften und zur Sparsamkeit verdonnerten Kliniken und Ärzten missfallen, einem ihnen anvertrauten Leben ein schnelles Ende zu bereiten, so sehr ist es ihm andererseits auch gleichgültig, wenn ein nicht mehr benutzbarer Sterbenskranker sein Leben nicht mehr leben will.
In beiden Fällen urteilt und entscheidet der Staat jedenfalls nach seinen Kriterien, ob sich da nicht private, womöglich unerwünschte Kalkulationen zwischen seine Oberhoheit und das Kind bzw. den Sterbenden drängen. Im ersten Fall setzt er mittels Beratungspraxis und Fristsetzungen auf die Ausübung von nicht nur moralischem Druck auf die dafür empfänglichen Frauen und hält so die ohnehin nur schwer zu verhindernde Abtreibungspraxis in ihm genehmen Grenzen – im zweiten Fall der ebenfalls schwer zu verhindernden Grauzone zwischen sinnloser Lebensverlängerung und problematischer Lebensvernichtung schwankt er (derzeit noch) zwischen einer strikt bis ins kleinste rechtliche Detail ausgeklügelten Erlaubnis zur Sterbehilfe und der bisherigen Grauzone. In beiden Fällen, Abtreibung wie Sterbehilfe, stellt er seine staatsmaterialistischen Erwägungen über die privaten Kalkulationen seiner Untertanen mit Tod und Leben, in beiden Fällen stellt er sein Aufsichtsmonopol über die Härten, die das kapitalistische Rechnungswesen auch am Lebensanfang und Lebensende so mit sich bringt – und stellt damit auf alle Fälle seinen Umgang mit Tod und Leben seiner Staatsbürger über den, den die Stellvertreter Gottes auf Erden mit ihren fundamentals vom unbedingten Recht auf Leben einfordert. Wenn die Kirche daraus ihre Konsequenzen zieht, ihr damaliger Papst oder dessen damaliger Ratzinger ein Machtwort spricht und den Rückzug aus der kirchlichen Beratungspraxis von Schwangeren verlangt, wie in Deutschland, dann ist das erstens aus Sicht des Staats zwar bedauerlich, aber nicht zu ändern. Zweitens ist klar, der demokratische Staat setzt nicht nur Recht, er ist auch immer im Recht – auch ethisch lässt sich ein pragmatisch-aufgeklärter Staatsmann nicht ins Abseits stellen. Und drittens ist gegen derartige fundamentalistisch-konsequente Verteufelungen von Verhütung und Abtreibung, Sterbehilfe usw. gar nichts einzuwenden, wenn sie als moralische Waffe gegen egoistische Umtriebe der Untertanen dienen, weswegen die Kirchenmänner sie auch ruhig weiter von Kanzeln verkünden sollen.
4.
Als moralische Waffe zur Feindbildpflege nach außen leistet der hier gepflegte Umgang mit der Religion und die hiesigen Anforderungen an einen dem eigenen System nützlichen Glauben auch einiges. Wenn demokratisch-westliche Nation sich dazu entschließen, aus ihren imperialistischen Gründen heraus einen anderen Staat nicht nur als unliebsamen Konkurrenten, sondern als tendenziell feindlichen, ergo zu bekämpfenden zu definieren, dann wurde und wird neben seinem falschen Wirtschaftsgebahren, neben seinem unterdrückerischen politischen System durchaus auch sein Umgang mit der Religion als ein Indiz dafür aufbereitet, dass hier eine falsche Herrschaft ein an sich gutes, im rechten Sinne gläubiges Volk unterdrückt. Die hierzulande gelungene Funktionalisierung des Glaubens für die demokratische Herrschaft wird zum Maßstab genommen, anderen Staaten ihren Umgang mit der Religion und damit ihre Art, Staat zu machen, abzusprechen, als Ergänzung zur praktischen Bekämpfung mit Erpressung, Embargos und Waffengewalt. Bis zum Abtritt des realen Sozialismus störte an dem unter anderem auch, dass in seinen Staatswesen der Glaube zwar toleriert, eine staatstragende Rolle ihm aber nicht zuerkannt wurde – ein eindeutiger Beleg dafür, dass so eine Herrschaft, die sich gegen eine gläubige Verklärung der von ihr geschaffenen materiellen und gesellschaftlichen Verhältnisse wandte, eine einzige Unterdrückungsmaschinerie war, die bekämpft gehörte.
Wenn heute vor allem die islamischen Staaten des Nahen und Ferneren Ostens unter dem Stichwort “Terrorismusbekämpfung” ins Fadenkreuz “aufgeklärter”, demokratischer Staaten geraten, wenn verschleierte Frauen und von der Scharia verstümmelte Verbrecher als Beleg dafür dienen, dass eine korantreue staatliche Herrschaft sich sachfremden, weil religiösen Gesichtspunkten beugt, wenn umgekehrt Prediger und Gläubige, die den Westen der Teufelei und Verderbtheit beschuldigen, wenn ausgerechnet die sich den Vorwurf der Politisierung der Religion zuziehen, und wenn mit solchen Feindbildern ein Kreuzzug ganz neuer Art entfacht wird, dann entbehrt das nicht einer gewissen Ironie.
Zum ersten, weil die identitätsstiftende Wirkung des flächendeckend verankerten christlichen Volksglaubens incl. Feindbild gegen ungläubige oder zu gläubige, also “fanatische” Regierungen und verführte Volksmassen von jeder westlichen Regierung geschätzt und nach Kräften gefördert wird – solange der rechte Glaube sich für sie und ihre Ziele stark macht und als Gegner des Glaubens nur der verkehrte Staat angeprangert wird, den sie wie weiland die realsozialistischen aus ihren anderen Gründen heraus auf die Abschussliste gesetzt haben. Eine der großen Leistungen des verblichenen Karol Wojtyla soll ja der Sieg über den gottlosen Kommunismus gewesen sein – und da hat niemand im Rückblick die Einmischung der Religion in die Politik kritisiert und den Verdacht auf Fundamentalismus und Terrorismus lanciert, indem die Kirche sich gegen die weltliche Macht aufgestellt habe und damit hinter die Errungenschaften der Aufklärung zurückgefallen sei! Es ist offenbar wirklich so primitiv: Wenn es dem Westen nützt, dann ist der auch religiös inspirierte Kampf gegen eine weltliche sozialistische Macht in Ordnung – aber wenn ein religiös motivierter Trupp gegen den Westen kämpft, dann ist die Religion, auf die sich diese Gegner des Westens berufen, als Irrlehre entlarvt.
Zum zweiten, weil mit der auch vom Orient eingeforderten Trennung von Staat und Religion sich die Mächte des Abendlandes dazu bekennen, dass das eingebildet Absolute, der jenseitige Herrscher, sich gefälligst an ihrem Staat, seinen Gesetzen und seinen Lebensverhältnissen, zu relativieren hat und ihn absolut zu setzen hat. Mit einem gut gemeinten Ratschlag für die inkriminierten Staatswesen, es den erfolgreichen Nationen auf dem Globus nachzumachen und ihrem Islam den so verstandenen richtigen Platz in der Gesellschaft zuzuweisen, damit sie selber besser funktionieren, sind solche Hinweise nämlich nicht zu verwechseln. Vielmehr wird der Islam damit ideell funktionalisiert für eine Verhimmelung der westlichen Aufsichtsmächte über seine Heimatstaaten: Pro-westlich sollen die Auslegungen des Koran gefälligst ausfallen!
Zum dritten, weil die imperialistischen Staaten nicht ganz unschuldig an der Sorte religiös inspirierter Feindschaft sind, gegen die sie zu Felde ziehen. Dank der weltumspannenden Wirkungen des imperialistischen Geschäfts gilt auch in den abgelegensten Wüsteneien des Nahen und Fernen Ostens das Gesetz, dass hartes Geld verdient werden muss, was zu einer grundlegenden Umwälzung der bisher in diesen Ländern ökonomischen und sozialen Verhältnisse geführt hat. Das Resultat ist, dass diese Staaten nicht die materielle flächendeckende Existenzbedingung ihrer Völker sind, so dass sie anders als in den erfolgreichen Demokratien dieser Welt über keinen überzeugenden Staatszusammenhalt in Form eines erfolgreichen Kapitalismus verfügen. Diesen Zustand überhöht die Religion, indem sie die im gemeinsamen Glauben vorgegebene nationale Identität zur sittlichen Grundlage der jeweiligen Nation erklärt: In einigen Staaten wie Algerien und Ägypten in oppositionellem Kampf gegen die Regierungen, denen sie vorwirft, die Nation zu gefährden, wegen Verwestlichung der Sitten und Zerstörung der gläubigen Untertanenmoral – in anderen Staaten, wie dem Iran, pflegt die Regierung selbst diese Linie und räumt der Religion nicht nur für den sittlichen Haushalt der Nation weitreichende Rechte ein. Zwar vermag auch der islamische Glaube keine Berge zu versetzen, geschweige denn den ersehnten nationalen Erfolg herbeizuregieren – für die Stiftung eines ordentlichen Patriotismus und Rassismus, der ungläubig mit materialistisch und “westlich” identifiziert, taugt er aber allemal.
5.
Letzteres lässt vom Nutzen der Religionsfreiheit für ihre Nationen überzeugte demokratische Staatsmänner auch nach innen aktiv werden. Weil sie selbstverständlich davon ausgehen, dass die von ihnen erlaubten Religionen, allen voran das Christentum, Garant der von ihnen gewünschten Volksmoral sind, geraten Angehörige des Islam hierzulande als Träger einer fremden, tendenziell feindlichen Volksmoral unter Generalverdacht. Diesen zu entkräften müssen sie sich anstrengen – zwar müssen sie nicht gleich zum Christentum konvertieren, aber sie müssen sich “integrieren”, d.h. sich zum hiesigen Staat bekennen und ihren guten Willen demonstrieren, in diesem Laden nicht nur zu arbeiten, Steuern zu zahlen und zur Schule zu gehen, sondern dazugehören zu wollen: durch Deutschkurse und Predigten in einer dem Staatsschutz verständlichen Sprache, durch die Distanzierung von falschen Predigern, und den Dialog mit den christlichen Kirchen.
So sieht sich Anfang des 21.Jahrhunderts – Allah sei Dank – der christliche Glaube und seine Mutter Kirche durch das seit dem 11. September aufgewertete Feindbild “Islam” enorm beflügelt. Kreuze statt Kopftücher – das gilt nicht länger als intolerante, altmodische Engstirnigkeit, sondern das ist das neue Gebot von political correctness. In Sachen religiöser Toleranz ist das Christentum einfach unschlagbar – in aller Freiheit den Gläubigen von einem der Haupt-Konkurrenzvereine Bescheid stoßen, was sich in Sachen Integration gehört und was nicht, und sich gleichzeitig heuchlerisch von den irdischen weltlichen Auftraggebern dieser Kampagne kritisch distanzieren und vor einem Generalangriff auf die Religionsfreiheit warnen – das ist die recht verstandene Demut vor dem Herrn, die Erdenbürger am Christentum so schätzen.