GEGENARGUMENTE

 

Europa als Friedensprojekt

 

Wenn europäische Politiker den Bürgern der Europäischen Union den Vorteil dieser Union vorbuchstabieren, kommt ein Argument mit Sicherheit: Europa sichert den Frieden. Krieg zwischen den Staaten Europas sei wegen der Existenz der Europäischen Union unvorstellbar. Die Menschen hätten daher allen Grund froh und der Europäischen Union dankbar zu sein. Im Original klingt das so:

 

Unsere Väter und Großväter zogen noch in den Krieg. Wir leben heute in dem Luxus, den europäischen Nachbarn vertrauen zu können. Ein Krieg innerhalb der EU ist unvorstellbar, Ost- und Westeuropa sind vereint. Das gemeinsame Haus Europa sichert den Frieden. Welch ein Geschenk!“ (https://ec.europa.eu/germany/eu60/frieden_de, 29.3.2019)

 

Und das ist der wichtigste Grund für das Vereinte Europa von heute: Dass es nie wieder Krieg gibt. Dass der Friede bleibt.

(https://www.bundespraesident.at/aktuelles/detail/news/neujahrsansprache-20190/)

 

Ein seltsamer Nutzen, der da versprochen wird. Das „gemeinsame Haus“ Europa sichert den Frieden in Europa. Man soll allen Ernstes die Europäische Union darüber würdigen, dass ihre Mitgliedsstaaten seit Jahrzehnten keinen Krieg gegeneinander angezettelt haben. Wer die Europäische Union dafür schätzt, dass sie den Staaten eine fast 70-jährige Friedensperiode „geschenkt“ hat, und fürchtet, dass mit einem Scheitern der Union auch ihre Friedensgarantie scheitert, der soll – anstatt sich in der Union wohl fühlen – eher über die europäischen Vaterländer erschrecken. Wenn für die die Öffnung, Erschließung und Einordnung der Nachbarn in eine gemeinsame Rechtsordnung tatsächlich die Alternative zu deren gewaltsamer Unterwerfung unter die eigene Hoheit ist und wenn Gewalt zwischen den Staaten wieder droht, sobald der Weg der Integration verlassen wird, dann sagt das auch etwas über die Idylle, die durch diese Integration ins Werk gesetzt wird.

 

Wenn Europa verhindert, dass die Mitgliedsstaaten wieder Krieg gegeneinander führen, dann unterstellt das die jedermann auch bekannten Gegensätze zwischen Nationen. Dann ist unterstellt, dass denen der kriegerische Übergang dem Grund und dem Willen nach zuzutrauen ist. Statt sich den Gegensätzen, den gar nicht weiter ausgeführten, aber doch wohl vorhandenen Gründen für lauter unzivile Übergänge zu widmen, soll man diese Staaten dafür beglückwünschen, dass sie das – bisher –nicht gemacht haben. Die ideologische Logik dieser Unlogik: Vor dem Gesichtspunkt „kein Krieg“ verblasst alles, was einen an dem Frieden stören könnte und stört. Nicht Skepsis hinsichtlich der Absichten der Staaten Europas und der Natur ihres Zusammenschlusses ist angesagt, gezielt wird auf ein großes JA zur Union ganz ohne jedes Wenn und Aber. Jede Frage nach dem persönlichen Nutzen bzw. Schaden aus der politischen und ökonomischen Ordnung verbietet sich im Angesicht der an die Wand gemalten Kriegsgefahr.

 

Das Lob „Das gemeinsame Haus Europa sichert den Frieden“ ist ein sehr widersprüchliches. Dieselben Staaten, denen man einerseits politische und ökonomische Interessen bescheinigt, die offensichtlich nichts an kriegsträchtiger Schärfe verloren haben, soll man andrerseits als diejenigen würdigen, die vor einer Kriegsgefahr warnen und nichts anderes als Frieden im Verhältnis zueinander vorhaben.

 

Damit ist aber recht eigentlich ein Rätsel formuliert. Wenn der bestimmende Zweck der Europäische Union wäre, dass „es nie wieder Krieg gibt“, wie es der Bundespräsident Van der Bellen in seiner Neujahrsansprache behauptete, wieso haben sie für dieses Anliegen eine ganze politische und wirtschaftliche Union mit all ihren bekannten Implikationen gegründet? Wäre es nur darum gegangen, im Verhältnis zueinander Krieg als Mittel zur Geltendmachung ihrer Interessen auszuschließen, hätte es dafür doch die tatsächlich stattgefundene Integration nicht gebraucht. Diese Integration besteht doch nicht darin, dass etwas – Krieg – nicht stattfand, sondern dass einiges stattfand: Ein Binnenmarkt wurde geschaffen, auf dem Deutschland und ein paar andere Länder sich die Kaufkraft des ganzen Kontinents aneignen und immer mehr Wachstum und Geschäft bei sich konzentrieren, während andere Länder Deindustrialisierung und Arbeitslosigkeit ernten, und eine Währung, die die Finanzkraft der europäischen Zentralmacht Deutschland gigantisch steigert, während andere Staaten wegen ihrer Unterordnung unter die Bedingungen der harten Währung in Dauerkrisen versinken und verarmen.

 

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Wieso die europäischen Staaten ihre gegensätzlichen Interessen zwar nicht aufgegeben, aber im Interesse an dieser Union doch soweit relativiert haben, dass Krieg als von ihnen ins Auge gefasste Möglichkeit ihrer zwischenstaatlichen Auseinandersetzung für sie nicht in Frage kommt, wofür es die Union braucht, warum der innereuropäische Friede auch heute, mehr als 60 Jahre nach den Römischen Verträgen, so wichtig ist, kann man der Rede des österreichischen Bundespräsidenten bei den Stuttgarter Europatagen im November 2018 entnehmen:

 

Nationale Souveränität á la 19. Jahrhundert ist etwas, was ich für eine Illusion halte Warum? Europa ist viel zu klein, um in Kleinstaaterei zurück zu verfallen. Freiwillige Verzwergung nach dem Modell Boris Johnson/UKIP/Le Pen ist das letzte was wir brauchen. Es muss uns klar sein, dass wir nur gemeinsam, in transnationalem Verband mit allen anderen Mitgliedsstaaten, unsere Interessen und Prioritäten auf der internationalen Ebene mit Nachdruck und Gewicht vertreten können. Wem auch immer gegenüber. Das können von Fall zu Fall die Vereinigten Staaten von Amerika sein. Es kann Russland sein, es kann auch China sein.“ (https://www.bundespraesident.at/aktuelles/detail/news/rede-zu-europa-stuttgarter-europatage/)

 

Die Europäische Union in Frage zu stellen, hält er für einen schweren Fehler und das ganz und gar nicht im Sinne eines Appells an mehr nationale Bescheidenheit und Zurückhaltung, ganz im Gegenteil. Die Europäische Union in Frage zu stellen, so seine Sorge, würde, statt der nationalen Souveränität zu dienen, diese beschädigen. Für die sieht er nämlich ein viel ausgreifenderes Betätigungsfeld als bloß die unmittelbare Nachbarschaft.

 

Österreich – und nicht nur Österreich – braucht dieses Europa, um den Weltmächten – allen voran den USA und Russland, aber auch China vergisst er nicht zu erwähnen – ökonomisch und politisch auf Augenhöhe begegnen zu können. Europa braucht es, um diesen Großmächten Paroli bieten zu können. Kleinere Brötchen zu backen, hielte er für einen Österreich wie allen anderen europäischen Staaten alles andere als gut zu Gesichte stehenden Akt der „Selbstverzwergung“. Ein Programm der Bescheidenheit und der Zurückhaltung sieht anders aus.

 

Eines kann man dieser Aussage in Sachen Notwendigkeit der Europäischen Union entnehmen. Alle europäischen Staaten lassen sich auf die Vergemeinschaftung von immer mehr Politikfeldern bloß deshalb ein, weil sie sich davon einen Zuwachs an über Europa hinausgehender, an weltweiter Konkurrenzfähigkeit erhoffen und erwarten. Europa ist für alle bloß so gut, wie es sich als Mittel für sie als Nation bewährt. Die Relativierungen an den Interessen der Partnerstaaten, die Abstriche in Sache Feindschaft untereinander, machen daher alle nicht, weil sie aus der Geschichte gelernt hätten, sondern einzig im Interesse ihrer weit ausgreifenderen ökonomischen und politischen Interessen. Die Kehrseite des friedlichen Europas ist daher der ausgreifende Anspruch dieser Staaten, in allen Gewaltaffären der Welt zumindest mitreden zu wollen.

 

Gemeinsames Europa - Überwindung des Nationalismus

 

Der Nationalismus ist das Krebsgeschwür Europas. Man kann nicht ständig etwas von der EU verlangen und seinen Beitrag nicht leisten. …Wir brauchen den solidarischen Zusammenhalt innerhalb der EU. Dafür wurde sie gegründet – zur Überwindung des Nationalismus.“ (Interview mit Othmar Karas in den SN vom 19.9.2018, https://www.nachrichten.at/politik/innenpolitik/Karas-auf-EU-Gipfel-Manche-wollen-die-EU-zerstoeren;art385,3011082 )

 

Ausgerechnet das Programm, aus Europa einen Super-Staat und einen globalen Player auf der internationalen Bühne zu machen, der Maß nimmt an der ökonomischen und politischen Macht der USA – ein Programm, für das jeder einzelne Staat für sich zu klein ist – soll man sich als also Absage an Nationalismus vorstellen.

 

Unsere These, die wir im Folgenden einlösen wollen, lautet: Gerade der aktuelle innereuropäische Streit über „Ausbau bzw. Vertiefung“ versus „Rückbau“ der Union gibt ein beredtes Zeugnis davon, dass es sich bei dem Projekt Europa nicht um eine Überwindung sondern um Alternativen von Nationalismus handelt.

 

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Wenn heute in und von einzelnen Mitgliedsstaaten wieder mehr das Nationalstaatliche betont wird, dann ist dem zu entnehmen, dass die Gemeinschaft aus Nationalstaaten besteht, die das europäische Projekt an ihrem nationalen Nutzen messen. Dazu versteht sich auch der als Kritiker des Nationalismus auftretende österreichische Bundespräsident Van der Bellen:

 

Es gibt aber nun wieder Parteien, Gruppierungen und Personen, die finden, dass die Europäische Union aus unterschiedlichen Gründen obsolet wäre. Nationale Souveränität sollte dem europäischen Gedanken vorgehen, meinen diese Personen. Diesen Standpunkt kann man schon vertreten, wenn man nicht vergisst, hinzuzufügen, dass der europäische Zwergstaat sehr allein ist, wenn er allein ist. Und im Weltmaßstab sind alle europäischen Staaten es tut mir leid, das hier aussprechen zu müssen, aber im Weltmaßstab sind alle europäischen Staaten klein, sehr klein.“ (Rede von Bundespräsident Alexander Van der Bellen anlässlich der Veranstaltung „Rede zu Europa“ im Neuen Schloss, Stuttgart am 29.11.2018, Quelle: www.bundespraesident.at)

 

Wie die FPÖ argumentiert er vom Standpunkt des nationalen Nutzens Österreichs, kommt nur zu einem anderen, gegenteiligen Schluss: angesagt sei der Ausbau der Europäischen Union und nicht ihr Rückbau. Er hält den Vertretern von mehr nationaler Souveränität entgegen, dass sie als „europäischer Zwergstaat“ im „Weltmaßstab“ nichts hermachen würden. Der wirkliche Nationalismus, der der Standorthüter, werde doch Dank der Integration in den Supranationalismus einer EU als Block, die mit ihrer Stärke den Nationen nützt, besser bedient, als durch nationale Eigenbrötelei. Von wegen daher Dank Europäischer Union sei der Nationalismus der Mitgliedsstaaten abgeschafft. Die harte Wahrheit ist, lauter nationale Egoismen haben sich als supranationale Ordnung zusammengetan, um national zu gewinnen.

 

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Der nationale Nutzen der europäischen Einigung auf Binnenmarkt und gemeinsame Währung fällt, nach der Finanz- und Eurokrise immer deutlicher zu Tage tretend, für die EU-Mitgliedsstaaten sehr unterschiedlich aus. So radikal die Mitgliedsstaaten die kapitalistische Standortkonkurrenz zwischen sich freigesetzt haben, so radikal fällt die Scheidung aus, die sie darüber unter sich herbeigeführt haben. Es liegt in der Natur jeder Konkurrenz, die Konkurrenten entlang ihrem Zweck und den zugelassenen Mitteln in Sieger und Verlierer zu scheiden. So gibt es im heutigen Europa Sieger und Verlierer:

 

·         Verlierer, für die der Tausch Verzicht auf Souveränitätsrechte gegen Zugewinn materieller Souveränitätsmittel nicht aufgeht. Der Verzicht auf nationale Vorbehalte zu Gunsten eines europäischen Binnenmarkts und auf die nationale Geldhoheit zu Gunsten der gemeinsamen Währung hat ihnen nicht den erhofften Zugewinn an ökonomischer Macht gebracht, sondern den ökonomischen Ruin, siehe Griechenland.

·         Auf der anderen Seite gibt es Gewinner, die nicht nur mehr wachsen, sondern die, wie man am Streit zwischen Deutschland und Griechenland im Jahr 2015 um die Art und Weise der Bewältigung der Euro-Krise studieren konnte, in die Rolle politischer Bestimmungsmächte hineingewachsen sind, die unter Verweis auf die Abhängigkeit der anderen von ihrer Garantenstellung fürs gemeinsame Geld, den anderen Nationen diktieren können, wie sie zu wirtschaften haben.

·         Ein Sonderfall ist Großbritannien, das ökonomisch sicher nicht den Verlierern zugerechnet werden kann, und seine Entscheidung für den Brexit. Unzufriedenheit kommt dort dennoch auf und zwar längs der Maßstäbe, an denen es die Union misst. Großbritannien misst die Europäische Union daran, ob Letztere für Großbritannien die Restauration der alten Weltmachtrolle bringt und muss feststellen, dass die Stellung des Führungsduos Deutschland und Frankreich nicht gesprengt werden konnte.

 

Das gemeinsame Europa bietet den beteiligten Nationen offensichtlich jede Menge Material für nationale Unzufriedenheit.

 

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Protagonisten der Europäischen Union wie Van der Bellen halten den unzufriedenen Nationalisten in der EU die Notwendigkeit der EU als Bündnis gegen die großen Imperialisten der Welt entgegen:

 

Freiwillige Verzwergung nach dem Modell Boris Johnson/UKIP/Le Pen ist das letzte was wir brauchen. Es muss uns klar sein, dass wir nur gemeinsam, in transnationalem Verband mit allen anderen Mitgliedsstaaten, unsere Interessen und Prioritäten auf der internationalen Ebene mit Nachdruck und Gewicht vertreten können. Wem auch immer gegenüber. Das können von Fall zu Fall die Vereinigten Staaten von Amerika sein. Es kann Russland sein, es kann auch China sein.“ (Rede von Bundespräsident Alexander Van der Bellen anlässlich der Veranstaltung „Rede zu Europa“ im Neuen Schloss, Stuttgart am 29.11.2018, Quelle: www.bundespraesident.at)

 

Da wird die Europäische Union als Subjekt ins Auge gefasst, das wie selbstverständlich das Anrecht beansprucht, nicht nur bei sich, sondern insgesamt „die Welt zu gestalten“. Europa ist überall präsent: mit ökonomischen Interessen, dazu mit politischer Einflussnahme, nach Osten ausgreifend, mit allen irgendwie im Geschäft, mit den Russen, die man gleichzeitig mit Sanktionen belegt, genauso mit den zunehmend bedrohlicheren Chinesen und erst recht mit den immer unzuverlässigeren Amerikanern. Das soll auf keinen Fall enden, auf kein Geschäft will man verzichten in einer Welt von Staaten, die man gleichzeitig als bedrohlich definiert, gegen die man zugleich mit Sanktionen vorgeht.

 

Was da defensiv als Notwendigkeit kollektiver Selbstbehauptung daherkommt, ist ein sehr offensiver Anspruch auf imperialistische Bedeutung. Europa beansprucht die Freiheit, die Welt als Sphäre seiner Interessen zu behandeln, und zwar gegen die mächtigsten Nationen, die das gefälligst respektieren sollen. Worum es da geht, ist das Eröffnen und das Austragen von Gegensätzen zu anderen Nationen – ökonomisch, politisch und unmittelbar gewaltmäßig – in denen man zugleich alles unter Kontrolle haben möchte; dem Ideal nach so, dass sich die politischen Willen der fremden Mächte quasi herauskürzen, jedenfalls nichts von dem stören, was man will.

 

So sieht es also aus, das Ende des Nationalismus – ein Supranationalismus, der in der Lage ist, der als Nationalismus angeprangerten „America first“-Politik Trumps Paroli zu bieten.

 

Resümee

 

Von wegen, Europa wäre ein Bollwerk gegen den Nationalismus der am Projekt teilnehmenden Staaten. Gegründet einzig des nationalen Erfolgs wegen, schafft sie laufend neue Gründe für ihn. Den einen – den Gewinnern des europäischen Einigungswerkes bieten sich neue Hebel, ihr nationales Interesse auch gegen die Interessen der Verlierernationen durchzusetzen bis hin dazu, dass für Deutschland Nationalismus und Supranationalismus der Union tendenziell zusammenfallen. Den Verlierernationen umgekehrt stellt sich umso dringender die Frage nach ihrem nationalen Nutzen. Die von Protagonisten Europas an die Wand gemalte Gefahr eines sich gegen dieses Europa richtenden Nationalismus, ist daher Konsequenz davon, worum es den Staaten mit diesem Projekt zu tun ist und erhält gerade durch die Fortschritte der Europäischen Union immer neue Nahrung.

 

Europa als Wertegemeinschaft

 

Europa, heißt es, sei nicht bloß ein supranationaler Zusammenschluss europäischer Staaten vorwiegend aus ökonomischen Gründen, Europa sei auch eine Wertegemeinschaft. So auch der österreichische Bundespräsident anlässlich der Veranstaltung „Rede zu Europa“ im Neuen Schloss Stuttgart im November 2018:

 

Europa ist auch eine Wertegemeinschaft. Grund- und Freiheitsrechte, Menschen- und Minderheitenrechte, Meinungs- und Pressefreiheit, der Rechtsstaat und die liberale Demokratie sind unveräußerliche Güter, die wir verteidigen müssen.“ (https://www.bundespraesident.at/aktuelles/detail/news/rede-zu-europa-stuttgarter-europatage/)

 

Je mehr die Einigkeit Europas durch Brexit, Finanzkrise, Streitereien in Sachen Aufnahme von Flüchtlingen und Migrationspolitik leidet, je mehr sich der Konflikt mit Italien in Sachen Budgetpolitik verschärft, je mehr sich Europa in Gewinner- und Verlierernationen scheidet, umso weniger sich insbesondere Deutschland und Frankreich auf die Fortentwicklung der Union einigen können, umso häufiger fühlen sich die Protagonisten der Union dazu aufgerufen, darauf hinzuweisen, dass die Europäische Union „ihrem Wesen nach eine Wertegemeinschaft“ sei, den Menschenrechten, der Demokratie, der Meinungsfreiheit usw. verpflichtet. Was sich in Form solcher Bekenntnisse zu von kaum jemandem bestrittenen Werten, auf denen die Europäische Union gründe, ausdrückt, ist das Bedürfnis nach einer fraglos unverbrüchlichen, unwidersprechlich gültigen gemeinsamen Basis. Es ist das Bedürfnis nach einem Moment der Unbedingtheit der Zusammengehörigkeit Europas jenseits aller nationalen Vor- und Nachteilsrechnungen gerade im Angesicht der tatsächlichen ökonomischen und politischen Gegensätze zwischen den europäischen Staaten, einer Zusammengehörigkeit, die keine Alternative kennen darf. Dafür ist die Berufung auf hohe und höchste Werte, die ob ihrer Güte auf fraglose Zustimmung zielen, genau das richtige, verblasst doch in ihrem Angesicht jede Nutzenerwägung als kleinlich.

 

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Inhaltlich handelt es sich bei den in Anschlag gebrachten Werten – Menschenrechte, Rechtsstaat usw. – um idealisierte Fassungen des Verhältnisses von politischer Herrschaft und beherrschtem Individuum. Denken soll man sich die Menschenrechte als einen Dienst der Herrschaft an der vorausgesetzten menschlichen Natur, als Verpflichtung der Europäischen Union dazu, der wahren Natur der Menschen gerecht zu werden. Bloß, wenn es ihre wahre Natur ist, der sie dienen will, wozu muss sie ihnen diese ihre eigene Natur dann in Form eines ausgefeilten Kanons an Rechten und Pflichten: das Recht auf Leben, Freiheit, Gleichheit, Eigentum, Meinungsfreiheit, usw. erst noch aufzwingen?

 

Was wird versprochen? Die Menschen sind frei mit ihrem Eigentum ganz in ihrem Sinne zu schalten und zu walten, müssen dafür aber spiegelbildlich das Eigentum der anderen respektieren auch und gerade dann, wenn sie damit vom für sie Lebensnotwendigen ausgeschlossen sind. Für Unzufriedenheit der Menschen mit den Resultaten der so in Gang gesetzten Form des Wirtschaftens ist dadurch ausreichend gesorgt. Kritische Urteile über die Verfasstheit der Gesellschaft und den eigenen Lohn können nicht ausbleiben. Hier entfaltet das als das nächste vom Staat garantierte Grundrecht seine Wirkung, das Recht auf eine freie Meinung. Einerseits könnte man meinen, doch gar kein großes Geschenk. Recht hin oder her, die Menschen können doch gar nicht anders, als sich selbst ihre Urteile über Gott und die Welt zu bilden. Dies hieße aber, den wahren Kern der Meinungsfreiheit zu übersehen. Geschützt wird nicht das Denken – wie auch –, sondern das Recht zu Meinen. Die Selbstverständlichkeit des Denkens unter das Recht auf freie Meinung zu subsumieren, bedeutet aber nichts anderes, als darauf zu bestehen, dass mehr als eine höchst subjektive und daher auch völlig unverbindliche Meinung aus dem eigenen Denken keinesfalls folgen darf. Was immer man an Kritik hat, eines wird mit dem Recht aufs Meinen durchgesetzt, diese Kritik hat folgenlos zu bleiben. So die Menschen eines der kodifizierten Rechte verletzen, haben sie die darin vorgesehenen Konsequenzen zu tragen. Auch da geht es dann freilich ganz rechtmäßig zu. Sie haben ein Recht auf ein Urteil gemäß rechtsstaatlicher Prinzipien, gefällt durch eine unabhängige Justiz, und damit die Garantie, dass nicht irgendein Politiker einfach einen Feind aus dem Weg räumen kann. In diesem Staat herrscht nur das Recht, das aber schon.

 

Was die Europäische Union damit unter Berufung auf hohe und höchste Werte praktisch durchsetzt, ist nicht mit einem Versprechen an die mit ihnen beglückte Menschheit auf ein sorgenfreies Leben in Wohlstand und Prosperität zu verwechseln. Was unter dem Titel der Werte durchsetzt wird, sind gewaltbewährte Regeln, denen die Menschen zu gehorchen haben und die in Gestalt der verbindlichen Festlegung auf Freiheit, Gleichheit und Eigentum nichts anderes festschreiben als die Verkehrsformen einer kapitalistischen Ökonomie und das in Form eines Dienstes an der Natur der Menschen. Kein Wunder, dass sich alle europäischen Staaten zu ihnen verstehen.

 

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Als idealisierte Fassungen des Verhältnisses von Staat und Bürger sind die Menschenrechte nicht zufällig auch Einmischungstitel in andere Staaten. Einen anderen Staat an den Menschenrechten zu messen, heißt immer, sein Verhältnis zu seinem Volk einer Beurteilung zu unterziehen. Dass die Berufung auf die Menschenrechte alles andere als ein harmonisches Verhältnis zwischen den Staaten begründet – von wegen Einigkeitsstiftung –, kann man gerade am aktuellen Streit innerhalb der „europäischen Familie“ beobachten, wo sie als Mittel in Anschlag gebracht werden, die als Abweichler identifizierten Mitgliedsstaaten Ungarn und Polen auf Linie zu bringen.