Zur vorweihnachtlichen Mildtätigkeit

 

1. Spenden, Betteln und der gemeine Unterschied

 

Wie schon in all den vergangenen Jahren hat euch heuer in der Weihnachtszeit das Spenden Hochkonjunktur. Eine schiere Unzahl gemeinnütziger Organisationen – Licht ins Dunkel, Caritas, SOS Mitmensch, Ärzte ohne Grenzen, diverse Krankenhäuser, Nachbar in Not, Sternsinger, usw. usf. –wenden sich für die Vielzahl hilfsbedürftiger Menschen mit einer Bitte um eine milde Gabe an Herrn und Frau Österreicher. Die Bedeutung des Spendens unterstreicht auch Bundespräsident Van der Bellen in seiner Eröffnungsansprache der vom ORF unterstützten Aktion Licht ins Dunkel:

 

„Unser soziales Netz ist gut, aber es sieht nicht für jeden Fall eine Lösung vor. Deswegen braucht es Spendenaktionen wie ‚Licht ins Dunkel‘“, so Van der Bellen bei der einstündigen Auftaktsendung. Die Aktion ermögliche es, sich in andere einzufühlen. Zudem gebe es im Bereich Inklusion noch viel zu tun. Die Welt verändere sich auch: „Es treten neue Fälle auf, die früher vielleicht unterhalb der Wahrnehmungsschwelle lagen.“ Aus diesen Gründen brauche man „zivile Netze, an die man sich wenden kann, wenn der Staat für diesen konkreten Fall nicht ausreichend vorgesorgt hat“.“ (1.12.2019, https://orf.at/stories/3146101/)

 

Wie Jahr für Jahr neue Spendenrekorde belegen, fallen derlei Appelle auf den fruchtbaren Boden des weihnachtlich verklärten Gemüts der Österreicher. Dieselbe vorweihnachtliche Mildtätigkeit suchen auch Bettler aus den Armenhäusern Europas auf den Straßen der Hauptstädte Österreichs wie Wien, Salzburg, Innsbruck, Graz und Linz. Anders als die anerkannten Spendenorganisationen, können sie sich aber der ungeteilten Zustimmung der Bevölkerung und der Hilfe der Behörden ganz und gar nicht sicher sein. Salzburg und Innsbruck haben in der Vergangenheit versucht, das Betteln in ihrer Stadt gänzlich zu verbieten und aus den Lautsprecher der Wiener Linien bekam man schon einmal folgende Durchsage zu hören:

 

Viele Fahrgäste fühlen sich durch organisiertes Betteln in der U-Bahn belästigt. Wir bitten Sie, dieser Entwicklung nicht durch aktive Unterstützung Vorschub zu leisten, sondern besser, durch Spenden an anerkannte Hilfsorganisationen zu helfen. Sie tragen dadurch zur Durchsetzung des Verbots von Betteln und Hausieren bei den Wiener Linien bei.

 

Die Wiener Linien verkünden, dass sie den Fahrgästen eine Belästigung durch einen um Almosen bettelnden Menschen ersparen wollen und sehen daher in ihrer Hausordnung ein Bettelverbot vor. Eine gewisse Heuchelei und eine gehörige Portion Zynismus wohnt diesem Standpunkt schon anheim, was man schon daran erkennt, dass die Wiener Linien im Unterschied zum Betteln bei der etwa in den U-Bahn-Stationen und -Zügen allgegenwärtigen Werbung, nie auf die Idee kämen, sich zu fragen, ob sich ihre Fahrgäste dadurch belästigt fühlen.

 

Was hat es also mit der vorweihnachtlichen Mildtätigkeit und Spendenfreudigkeit auf sich und wie verträgt sich der gute Leumund des Spendens für eine der bekannten Organisationen mit den weniger freundlichen Umgangsformen mit Armen aus aller Herren Länder auf unseren Straßen? Was sagt das Phänomen des Bettelns und seine Behandlung durch den Staat über die Gesellschaft aus, in der wir leben?

 

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Arme Kreaturen, die Unterstützung brauchen, die ohne milde Gaben anderer nicht über die Runden kommen, gibt es in unserer besten aller Gesellschaften offensichtlich in Hülle und Fülle. „Leider hat nicht jeder das Glück, Weihnachten so sorglos in vollen Zügen genießen zu können – bei uns in Österreich gibt es Menschen, die von schweren Schicksalsschlägen getroffen wurden. Kinder, die in Krankheit, Armut und Leid aufwachsen müssen. Familien, bei denen nicht die traditionellen Weihnachtsgeschenke im Vordergrund stehen, sondern die unbezahlbaren Rechnungen, die es ihnen fast unmöglich machen, ihrem Nachwuchs eine gute Zukunft zu ermöglichen – Monat für Monat.“(https://www.roefix.at/Unternehmen/Aktuelles/News/Spenden-zu-Weihnachten) kann man im Internet lesen.

 

Auf der Homepage von Licht ins Dunkel kann man nachlesen, dass diese Aktion jährlich mehr als 400 Behinderten- und Sozialhilfeprojekte in ganz Österreich betreut, sowie rund 5.000 Familien mit mehr als 13.000 Kindern und das nicht erst seit kurzem, sondern seit 1973. Eines ist daran schon bemerkenswert. Als Kritik an unserer Gesellschaft, will das niemand verstanden haben. Keiner der Verantwortlichen hat die Sorge, die derart zur Darstellung gebrachte, real existierende Armut könnte eine Welle der Empörung in der durch derlei Berichte aufgeschreckten Bevölkerung auslösen. Ungerührt wird die ganze Brutalität einer marktwirtschaftlich verfassten Gesellschaft vors Auge des weihnachtlichen Lesers und Sehers gebracht. Zeitungen, die ansonsten tagaus, tagein gegen überzogene Ansprüche einer „besitzstandsorientierten“ Bevölkerung hetzen, die Löhne als „zu hoch“ geißeln und die Kosten der in der Arbeiterschaft massen- und dauerhaft anfallenden „Sozialfälle“ inzwischen für „unbezahlbar“ halten, die keine wie immer geartete Kürzung der Pensionen für ausreichend halten, das Pensionssystem zukunftsfit zu machen, schildern plötzlich Alter, Krankheit, den Verlust des Arbeitsplatzes, der Wohnung, des Partners oder eine Existenz als Alleinerzieherin als Gründe einer Katastrophe, die den Betroffenen das bloße Existieren schier unmöglich und die milde Gabe daher zur moralischen Pflicht macht.

 

Seit wann ist aber das Alter ein Grund der misslichen Lage von Menschen? Das Alter ist doch nicht tragisch, wenn man genügend Geld und Kraft hat, um sich das Leben gemütlich einzurichten. Künstler, Pfaffen und Politiker, die bis ins hohe Altern „schaffen“, legen davon beredtes Zeugnis ab. Dann liegt der Grund des Angewiesenseins auf milde Gaben aber nicht im Alter, sondern im Mangel an Geldmitteln.

 

Nicht anders verhält es sich mit der anderen angeblichen Ursache eines sozialen Abstiegs, einer Krankheit. Dauert eine Krankheit erst einmal länger und ist sie schwerer als der winterliche Schnupfen, dann hat das ersprießliche Dasein als Lohnempfänger schnell sein Ende. Nach der Entlassung gerät der für unbrauchbar Befundene in die Maschen des sozialen Netzes, und da vollstreckt der Staat an ihm dasselbe Urteil noch einmal: Geld für überzählige Esser bloß zum Leben... – dafür ist eigentlich jeder Cent zu schade. Weshalb auch der Nachweis der Anspruchsberechtigung auf Mindestsicherung als Hindernislauf organisiert ist. Von wegen dies wäre ein zwar bedauerlicher, aber einfach nicht aus der Welt zu schaffenden Umständen geschuldeter Notfall, wie uns etwa Bundespräsident Van der Bellen in seiner vorhin zitierten Ansage: „Unser soziales Netz ist gut, aber es sieht nicht für jeden Fall eine Lösung vor. Deswegen braucht es Spendenaktionen“ weißmachen will.

 

Derlei staatliche Gemeinheiten so ungeschminkt auszuposaunen, ohne dass dem Staat dabei auch nur ein einziges böses Wort nachgesagt wird, unterstellt, dass es in unserer schönen Republik jeder für normal hält, dass man mit den staatlich gesetzten Existenzbedingungen zurechtkommen muss. Dass diese Normalität auf Armut beruht, auf dem dauerhaften Ausschluss von Reichtum qua Geld also, ohne den der Gang zur Arbeit nicht täglich aufs Neue notwendig wäre, stört denjenigen nicht, der schon zufrieden ist, wenn man überhaupt zurechtkommen kann – welche Kunststücke immer man sich dafür auch einfallen lassen muss. Wirkliche Armut fängt für ihn erst dann an, wenn beim besten Willen das Zurechtkommen nicht mehr geht. Das gilt dann als „Schicksalsschlag“, als Ausnahme, mit der das gewöhnliche Lohnarbeiterdasein nichts zu tun hat. Das kann man nämlich aushalten, also sind Zustände, die man nicht mehr durchsteht, auf keinen Fall einfach die Auswirkungen des täglichen Knochenhinhaltens gegen eine kümmerliche, keine Zukunftsabsicherung zulassende Entlohnung, sondern etwas ganz anderes: das zufällige Missgeschick, für das recht eigentlich keiner was kann – Not. So ist der Grund für die Elendsfälle, an denen sich die Vorweihnachtschristen das Herz erwärmen, glücklich um die Ecke gebracht, indem die Lohnarbeit und ihre Folgen fein säuberlich auseinanderdividiert werden. Not wird als Unglück angesehen, das einen Menschen grundlos trifft, als Folge des zufälligen Zusammentreffens vieler verschiedener widriger Umstände. Arbeitslosigkeit als Schicksal, die knappe Pension als zusätzliche erschwerende Bedingung, die zur Einsamkeit und den Depressionen dazukommt, der Tod des Mannes, die Scheidung, Krankheit und Invalidität – all das taucht friedlich und gleichberechtigt nebeneinander auf. Lauter missliche Umstände firmieren so als Ursache des Elends, und keiner will mehr sehen, dass derartige „Schicksalsschläge“ nur bei solchen Figuren zur existenziellen Bedrohung werden, die selbst nichts haben, um ihr Auskommen zu sichern, daher vom Verkauf ihrer Arbeit leben müssen für ein Entgelt, das weder die Kosten einer Scheidung noch eines weiteren Kindes oder gar von Phasen längerer Arbeitsunfähigkeit abdeckt – wenn sie denn überhaupt das zweifelhafte Glück haben, eine Arbeit zu finden. Noch nicht einmal darüber, ob es die Arbeit für ihn überhaupt gibt, entscheidet nämlich er selbst, sondern die Wirtschaft nach ihren Kriterien und die drehen sich nicht um das Überleben der Menschen.

 

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Für die große Mehrheit der Mitglieder einer kapitalistischen Gesellschaft ist mangels eigenen Vermögens Arbeit im Dienst an fremdem Reichtum die einzig legale Einkommensquelle. Wer nicht arbeitet, hat nichts zu essen, heißt es im Volksmund. Zur moralischen Pflicht überhöht, wird daraus endgültig ein „Wer nicht arbeitet, verdient es nicht zu essen“. Diesem moralischen Grundsatz entsprechend hat der moderne Mensch – tatkräftig dabei unterstützt durch sachdienliche Hinweise offizieller Stellen – so seine Ansprüche in Sachen Spendenwesen. Ein Bettler hat da schon einmal ganz grundsätzlich schlechte Karten, schon gleich, wenn er Ausländer ist. Immerhin verstößt er ausdrücklich gegen diesen das tägliche Leben der breiten Masse beherrschenden moralische Stehsatz vom angeblichen Zusammenhang von arbeiten und essen. Ist der, der da um ein Almosen bittet, wirklich einer von denen, die unschuldig unter die Räder gekommen sind oder nicht doch einer, der sich bloß der Unbequemlichkeit der täglichen Plackerei nicht auszusetzen gewillt ist? Kann er keinen wie immer gearteten nützlichen Dienst für irgendeinen heimischen Arbeitgeber nachweisen, stellt sich im Fall des Ausländers sofort die Frage nach der Zulässigkeit seines Aufenthalts hierzulande. Der mündige Staatsbürger hat nämlich gelernt und macht es selbstbewusst auch als sein Vorrecht geltend, dass schon der bloße Aufenthalt in einem Staat keine Selbstverständlichkeit, sondern eine Frage des Rechts ist, das nicht jedem zusteht. Handelt es sich vielleicht gar nicht einfach um einen Hungerleider, sondern um ein Mitglied einer Art vielleicht gar noch ausländischen kriminellen Organisation? Wird er etwa selbst von dieser Organisation ausgenutzt, sodass es recht besehen ein einziger Akt der Hilfe ist, ihm nichts zu geben?

 

In seiner Meinungsbildung unterstützt wird Mensch durch Ansagen offizieller Stellen wie beispielsweise der schon zitierten Durchsage in den U-Bahn-Stationen der Wiener Linien, mit der Botschaft: Wer sein Almosen nicht einem Bettler an einer Straßenecke zukommen lässt, sondern einer der gemeinnützigen Spendenorganisationen, kann erst wirklich sicher sein, dass da nicht einer um eine Spende bittet, bei dem ungewiss ist, ob er tatsächlich das unschuldige Opfer widriger Umstände ist, als das er sich ausgibt, sondern dass mit dem Gespendeten Gutes ganz im Sinne unserer Gemeinschaft geleistet wird.

 

Man sieht: Die Menschlichkeit richtet sich keineswegs bedauernd auf jedwede Not, sondern sie macht da ihre deutlichen Bedingungen: Mitleid verdient nur, wer nachweislich schuldlos in Not geraten ist. Die Lebensgeschichte eines Elendsopfers ist eigentlich erst dann wirklich rührend, wenn sie zeigt, dass sich hier einer den Brutalitäten, die der Kapitalismus für sein Arbeitermaterial so auf Lager hat, bis zum bitteren Ende unterworfen hat. Die weihnachtlichen Hilfsaktionen tragen dieser brutalen Bedingung des Mitleids vorbildlich Rechnung, indem sie vorwiegend von Fällen berichten, bei denen die Betroffenen Höchstleistungen in Sachen Aushalten von Zwängen erbringen. Spiegelbildlich sehen sich Bettler mit massiven Vorbehalten in Bezug auf eine milde Gabe an sie konfrontiert. Sie stehen im Verdacht, sich genau diesen Zwängen nicht unterwerfen zu wollen, sondern vielmehr eine unzulässige Alternative zur staatlich durchgesetzten Art, sich einen Lebensunterhalt zu verschaffen, zu praktizieren. Da weist das Licht anerkannter Spendenorganisationen den Weg im Tunnel der Mildtätigkeit. Nur wenn offizielle Stellen für die Güte einer Spende bürgen, dann kann Mensch sicher sein, mit seiner milden Gabe richtig zu liegen.

 

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Abschließend noch eine Bemerkung an jene, denen am Standpunkt „Spenden ja! Betteln verboten!“ nichts auffallen will, die aber mit ihrer Teilnahme an öffentlich anerkannten Spendenaktionen wirklich helfen wollen.

 

Dieser Griff zum Geldbeutel soll Hilfe sein? Nähme man das ernst, müsste man schier verzweifeln. Almosen ändern ja nichts an den Ursachen der Not. Wäre dies so, müsste das Geben nicht beständig wiederholt werden. Wie lange gibt es schon Aktionen der Caritas? Licht ins Dunkel gibt es seit 1973. Die Not wird offensichtlich nicht weniger, was kein Wunder ist. Die Not bleibt nach dem Verzehr des Gegebenen genau dieselbe wie davor. Für mehr als ein kleines Almosen reicht doch die Geldbörse der Gebenden selbst gar nicht aus.

 

Statt sich ein schlechtes Gewissen zu machen und sich mit Ikonen der praktizierten Mildtätigkeit wie etwa Mutter Teresa und Karl-Heinz Böhm zu vergleichen, die das ganze christliche Jahr hindurch mit der Betreuung kapitalistisch produzierter, weltweiter Hungerbäuche beschäftigt waren, sollte man hier eine kurze Denkpause einlegen: Sollte man wirklich die Herstellung der Not durch Staat und Kapital mit seinem eigenen schlechten Gewissen begleiten, damit diese umso ungenierter weitermachen können? Letztlich ergänzt man doch bloß die Opfer, zu denen andere gemacht worden sind, durch sein eigenes. Man sollte sich also nicht vormachen lassen, dass den „Armen“ eigentlich nur unsere Hilfe abgeht.

 

Wenn man allerdings ohnehin nur zu denen gehört, die sich durch Spenden zu einem guten Gewissen verhelfen wollen, die in der Weihnachtszeit also nicht bloß ihren Punsch trinken oder ihre Suppe essen, sondern beides unbedingt mit einem guten Zweck[i] verbinden wollen oder die sich über die eigene Namensnennung auf der Spenderliste für Licht ins Dunkel freuen, dann sind die paar Euro, die man aufbringt, goldrichtig investiert. Dann betätigt sich darin eben nichts anderes als die zu dieser Gesellschaft notwendige und passende Moral.

 

 

2. „Wir können nicht die Armut der ganzen Welt bekämpfen“ (Wiener Sozialstadtrat Peter Hacker in einem Profil-Interview im Nov. 2019)

 

Ein paar Anmerkungen zum Feinsinn des Wiener Sozialstadtrats.

 

Auf die Frage, ob er dafür sei, mehr osteuropäische Bettler abzuschieben, sagt Hacker: „Ich bin nicht dafür, ich hätte nur nichts dagegen. Das ist ein feiner Unterschied.““(Profil vom 30.11.2019)

 

Es ist noch nicht lange her – genauer gesagt vor noch nicht einmal einem Monat –, da gedachte die versammelte demokratische Öffentlichkeit des Falls des „Eisernen Vorhangs“. Wer geglaubt hat, dass damit jeder seinen Lebensmittelpunkt ganz nach eigenem Gutdünken wählen könne, der wird ausgerechnet vom sozialdemokratischen Wiener Sozialstadtrat eines besseren belehrt. Mit seiner Meldung, er „hätte nichts gegen die Abschiebung osteuropäischer Bettler“ macht er deutlich, wie die Grenzöffnung von damals nicht gemeint war – als Angebot an jedermann, hier bei uns sein Glück zu versuchen. Eher schon als Schaffung einer semipermeablen Grenze, durchlässig nicht für jedermann, sondern nur für jene, die „wir“ hier brauchen können:

 

Über das Recht auf Freizügigkeit von EU-Bürgern konnte man in der Zeitschrift Falter Folgendes lesen:

Für alle EU-Bürger gilt die Reisefreiheit innerhalb der Union. Wer sich aber länger als drei Monate in einem EU-Land aufhält, muss grob gesagt nachweisen, dass er sich selbst erhalten kann. Ist er dazu nicht imstande, kann er zur Ausreise gezwungen werden. Österreich macht davon durchaus Gebrauch. 2018 wurden 4700 "Auslandsverbringungen" durchgeführt. Wo das Innenministerium gerne das Bild des Charterflugs in Richtung Afghanistan und Nordafrika pflegt, kam oft ein billiges Busticket zum Einsatz: 45 Prozent der Abschiebungen betrafen EU-Bürger. Die größte Gruppe: Slowaken.“(Falter, Nr.50/19)

 

Bleiben dürfen nur qualifizierte Arbeitskräfte, die zur Bewältigung „unseres“ sogenannten „Fachkräftemangels“ beitragen, Personen, die Österreichern zu einer billigeren 24h-Pflege verhelfen, Billigarbeiter für die Baubranche und Erntehelfer. In all diesen Fällen handelt es sich um Personen, die kommen dürfen und sollen. Bettler andererseits sind definitionsgemäß Leute, die sich nicht für irgendeinen Arbeitgeber nützlich machen und damit auch keinen positiven Beitrag zum österreichischen Wirtschaftswachstum leisten. Bar jeder Möglichkeit, sich einen Lebensunterhalt zu verdienen, betteln sie um ein Almosen für ihren Lebensunterhalt. Für Menschen, denen in ihren Heimatländern jede Existenzgrundlage genommen ist und die deshalb hierherkommen, um sich einen Lebensunterhalt zu erbetteln – „Notreisende“ – war und ist die durch den Fall des „Eisernen Vorhangs“ den Menschen Osteuropas verschaffte berühmte „Reisefreiheit“ offensichtlich nicht gedacht.

 

Der „ feine Unterschied“, den Sozialstadtrat Hacker macht, fußt darauf, dass er als für Soziales zuständiger Stadtrat nicht für die Abschiebung osteuropäischer Bettler ist. Er macht die Zuständigkeit des Innenministeriums in diesen Fragen geltend und sieht dabei Säumnisse hinsichtlich der Überprüfung des Aufenthaltsrechts der osteuropäischen Bettler.

 

Derzeit läuft eine Schwerpunktaktion der Wiener Polizei gegen organisiertes Betteln. Hacker fordert Innenminister Wolfgang Peschorn auf, zu klären, „ob die Leute rechtmäßig hier sind oder nicht“. „Das ist sein Job, nicht unserer“. (Kurier vom 30.11.2019)

 

und im Falter liest man:

 

Mittlerweile werden alle fremdenrechtlichen Bestimmungen voll ausgenutzt, um die Obdachlosen wegzubekommen“(Falter, Nr.50/19),

 

Eben – der feine Unterschied. Hacker ist nicht für Abschiebung. Getreu der Devise „Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht nass!“ fordert er den für Abschiebungen zuständigen Innenminister auf, seinen „Job“ wahrzunehmen, sprich das Aufenthaltsrecht der Bettler zu prüfen und im negativen Fall, die rechtliche Konsequenz – die Ausweisung – zu exekutieren. Dagegen hat er nicht nur nichts, sondern genau das fordert er vom Innenminister ein. Eines kann ein für Soziales zuständiger sozialdemokratischer Stadtrat nämlich einfach „nicht akzeptieren“:

 

Wir wissen, dass es Gegenden in Rumänien gibt, von wo ganze Dörfer auf Betteltour fahren. Das kann ich als Stadtrat nicht akzeptieren“, sagt Hacker weiter in besagtem Interview.

 

Was kann er nicht akzeptieren? Das Elend, das sich in ganzen Gegenden Rumäniens breit gemacht hat? Von wegen? Damit hat ein Sozialstadtrat kein Problem! Woher dieses Elend kommt, dass „ganze Dörfer“ in Rumänien sich zu „Betteltouren“ nach Österreich aufmachen, wie es dazu kommt, dass es in der EU „Exportweltmeister“ gibt und gleich daneben andere Staaten, die hauptsächlich „Armutsflüchtlinge“ produzieren, das soll und darf nicht interessieren. Schon gar nicht darf interessieren, dass Armut und Elend im Südosten der EU etwas mit den Erfolgen der kapitalistischen Reichtumsproduktion hierzulande zu tun hat. War es nicht österreichisches Bank-, Handels- und sonstiges Kapital, das sehr stolz darauf war, sich unsere östlichen Nachbarn – Rumänien, Ungarn, die Slowakei, usw. – als Reichtumsquelle erschlossen zu haben. Wenn hingegen die Elendsgestalten, denen die Eingemeindung ihrer Heimatländer in den Europäischen Binnenmarkt unter tatkräftiger Mitwirkung Österreichs nichts als den Ruin ihrer bisherigen Lebensgrundlagen gebracht hat, sich auf der Suche nach irgendeiner Art von Auskommen nach Wien aufmachen, um sich hier mangels Alternativen einen Lebensunterhalt zu erbetteln, dann meldet Stadtrat Hacker nicht nur seine Unzuständigkeit in Sachen Rückführung an, sondern sieht als das eigentliche Opfer Österreich – im konkreten Fall – Wien an. Dann gilt, es darf sich doch nicht jeder Dahergelaufene nach Lust und Laune zu uns aufmachen, um hier zu betteln. Da weiß Hacker:

 

Da nützt eine Gruppe einfach die Gesellschaft und die Situation in einer Stadt aus“ Er fühle sich vor allem für Menschen in Wien zuständig, so Hacker: „Wir können nicht die Armut der ganzen Welt in dieser Stadt bekämpfen.

 

Wen oder was nützt diese „Gruppe“ eigentlich konkret aus? An welche Leistung der „Gesellschaft“, an welche „Situation in einer Stadt“ soll man eigentlich denken, die von osteuropäischen Bettlern ausgenützt wird? Mehr als Notquartiere in den Wintermonaten würden ihm nicht einfallen, hätte er die Frage tatsächlich ernsthaft gestellt, und selbst für die dürfen in- wie ausländische Obdachlose und Bettler einen kleinen Obolus zahlen. Ansonsten sind Bettler ausgeschlossen von der Inanspruchnahme sozialer Leistungen ebenso wie vom Bezug finanzieller Leistungen.

 

So konnte man pünktlich zum Jahreswechsel 2013/2014, also knapp vor der Öffnung des österreichischen Arbeitsmarkts für Rumänen und Bulgaren in der Tageszeitung Kurier Folgendes lesen:

 

„Zuwanderung zum Zweck des Bezugs von Sozialleistungen ist nicht möglich“ wird der Sprecher von Wiens damaliger ebenfalls sozialdemokratischer Sozialstadträtin Sonja Wehsely zitiert. Weiters liest man darin über den Zugang zur damals noch Mindestsicherung genannten Sozialhilfe: Wien hat – „eine besondere Auflage: Wer Mindestsicherung will und nicht Österreicher ist, muss sich von der Magistratsabteilung 35 eine Anmeldebescheinigung holen. Die kriegt aber nur, wer mit schriftlicher Bestätigung nachweisen kann, dass er eine Arbeit in Aussicht hat.“(„Die Angst vor der Armutswanderung“, Martina Salomon, Kurier vom 30.12.2013)

 

Bleibt nur die schlichte Anwesenheit dieser Menschen hier. Ist man als Fremder hier, ohne entweder als Tourist die Kassen heimischer Unternehmer zum Klingen zu bringen oder sich als Arbeitskraft für heimische Unternehmen nützlich zu machen – leistet in anderen Worten keinen anerkannten Beitrag zum österreichischen Wirtschaftswachstum – wird die bloße eigene Anwesenheit vor Ort zum Vorwurf. So jemand ist nicht einfach unerlaubt da, sondern er nützt unsere Gesellschaft aus. Für den Sozialstadtrat Hacker geht offensichtlich schon die bloße Anwesenheit osteuropäischer Bettler als Sozialleistung durch:

 

Wir können nicht die Armut der ganzen Welt in dieser Stadt bekämpfen

 

Eine bemerkenswerte intellektuelle Leistung eines Sozialstadtrates, so zu tun, als ob Österreich sich vor den Folgen der Armut in Ländern wie Rumänien, Bulgarien, der Slowakei oder Ungarn schützen müsse, für die doch nicht Österreich, sondern die Welt verantwortlich sei. Daher ein kleiner Nachtrag:

 

Eine kleine Geschichte der Nutzbarmachung unserer östlichen Nachbarn nach der Wende

 

Vor mittlerweile schon 30 Jahren fiel, wie man erst kürzlich wieder erinnert wurde, der berüchtigte „Eiserne Vorhang“. Das blieb nicht ohne Konsequenzen für die zuvor auf Realen Sozialismus getrimmten Ökonomien. Den ins Reich der marktwirtschaftlichen Freiheiten übergetretenen ehemaligen Ostblockstaaten Rumänien und Bulgarien hat der EU-Beitritt und der damit eröffnete Vergleich mit der Kapitalproduktivität von Ländern wie Österreich nicht viel mehr eingebracht als den Ruin vorhandener Produktion, ein Dasein als Absatzsphäre für Waren aus den europäischen Zentren und um Kapitalimport nachsuchende Anbieter von Billigstarbeitskraft.

 

Österreich war dabei stets in vorderster Front der Betreiber dieser – wie es heißt – „Integration“ der mittel- und osteuropäischen Staaten in die Europäische Union. In Ländern wie Rumänien und Bulgarien zählt es sogar zu den Hauptinvestoren:

 

Laut Bulgarischer Nationalbank hält Österreich (Stand 2017) bei 3,966 Mrd. EUR Investitionen. Österreich liegt damit hinter den Niederlanden und vor Deutschland auf Platz 2 der ausländischen Investoren. Die größten österreichischen Investments wurden u.a. von der Telekom Austria, EVN, Raiffeisen, Vienna Insurance Group und OMV getätigt.https://www.wko.at/service/aussenwirtschaft/die-bulgarische-wirtschaft.html

 

Die österreichische Wirtschaft ist in Rumänien seit vielen Jahren ein bedeutender Investor. Österreich belegt mit EUR 8,4 Mrd. hinter den Niederlanden und Deutschland den dritten Rang.https://www.wko.at/service/aussenwirtschaft/die-rumaenische-wirtschaft.html

 

Zu den Megadeals österreichischen Kapitals in Rumänien gehören der Mehrheitskauf des Erdölkonzerns Petrom durch die OMV und der größten rumänischen Bank, der Banca Commerciale Romana (BCR), durch die Erste Group. Eingekauft haben sich auch Baumax, Billa, Rewe und andere. Alles in allem eine einzige Erfolgsgeschichte, wie die Wirtschaftskammer nicht ohne Stolz vermeldet.

 

Aus diesen eingemeindeten Ländern selbst hat diese Eingemeindung alles andere als blühende Kapitallandschaften gemacht. Ihre aus den planwirtschaftlichen orientierten Strukturen des Realen Sozialismus herausgewachsenen Ökonomien besaßen und besitzen gar nicht die Fähigkeit und die Mittel, dem Konkurrenzdruck des internationalen Geschäfts standzuhalten. Über genau diese Mittel verfügen dafür ihre EU-Nachbarn Deutschland und auch Österreich umso mehr. Die Niederlage dieser Neuzugänge in diesem Konkurrenzkampf war daher vorprogrammiert, wobei Österreichs Erfolg im Osten noch nicht einmal die Finanzkrise etwas anhaben konnte.

 

Herausgekommen ist der Ruin der bisherigen Lebensgrundlagen der dortigen Bevölkerungen: einer kleinen Schicht von Oligarchen, die am auswärtigen Geschäftserfolg partizipieren steht eine riesige Zahl von ökonomisch unbenutzter und darum als nutzlos erachteter Überbevölkerung gegenüber, der nun auch noch die letzten Subsistenzmittel ausgehen. Zu den ersten Opfern dieser Verelendung haben dabei diejenigen gezählt, die auch schon vorher nur schlecht gelitten und ausgegrenzt waren. Während es den alten Regierungen aber noch ein Anliegen war, etwa die Roma in ihre sozialistischen Volksrepubliken zu integrieren, sind sie in ihren Heimatländern inzwischen endgültig ohne jede Perspektive:

 

Seit etwa einem Jahr lebt Ivan Stoev (Name geändert, Anm.) aus Bulgarien in Wien, die meiste Zeit davon auf der Straße.  Damit er über die Runden kommt, muss er betteln. Viel bekommt er jedoch nicht. "15 bis 20 Euro sind das Maximum, vielleicht einmal 40 Euro", berichtet er. Stoev ist ein Romni. Früher, in der kommunistischen Ära Bulgariens unter Todor Schiwkow bis 1989, habe er es besser gehabt. Stoev hatte Jobs: “Verschiedene Arbeiten habe ich gemacht, vor allem auf Baustellen. Mit Ende der Schiwkow-Ära haben andere Zeiten begonnen.” Fabriken, Landwirtschaften seien verkauft worden, “für uns gab es keine Arbeit mehr”. Die Situation habe sich für alle verschlechtert, “aber vor allem für Roma”.“ (https://www.vienna.at/wie-viel-geld-bekommt-ein-bettler-in-wien-20-euro-sind-das-maximum/3976162#comments

 

Die Konsequenz:

 

Dass er nach Österreich kam, hatte aber andere Gründe: Es seien immer wieder Roma vom Land in die Stadt gekommen – Stoev lebte zuvor in Sofia -, weil mehr in den Mülltonnen gewesen sei. “Mittlerweile ist jede Minute jemand bei einer Mülltonne, es gibt nichts mehr”, erläuterte er. Und nicht nur Roma würden sammeln, auch Pensionisten mit zu wenig Rente.“ (https://www.vienna.at/wie-viel-geld-bekommt-ein-bettler-in-wien-20-euro-sind-das-maximum/3976162#comments)

 

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Also Herr Stadtrat Hacker: Wie wäre es denn mal mit folgender Lesart? Nicht die osteuropäischen Bettler machen Österreich Probleme, sondern Österreich und seine Wirtschaft bereitet mit seiner Behandlung von Länder wie Rumänien und Bulgarien als Quelle seines Reichtums der dort ansässigen Bevölkerung massiv Probleme.

 

Ganz schön frech daher, es für nicht akzeptabel zu erklären, wenn sich Bürger Rumäniens oder Bulgariens mangels jedweder heimischer Alternative auf ein Auskommen auf der Suche nach einem solchen – sei es in Hoffnung auf eine existenzsichernde Ausbeutung durchs Kapital, sei es eben auch durch Betteln – auf den Weg in die Metropolen machen.

 

Vier Millionen Rumänen arbeiten aus diesem Grund mittlerweile im Ausland. 74.000 davon in Österreich, etwa 18.000 davon sind rumänische Pflegerinnen. Die übrigen machen sich im Bau- bzw. im Baunebengewerbe oder in der Gastronomie für den Erfolg österreichischen Kapitals nützlich.

 

Soweit geht das auch in den Augen der hiesigen Regierenden in Ordnung – Hacker ist da keine Ausnahme. Solange sie einen Beitrag zum Wirtschaftswachstum hierzulande oder der Verbilligung der Kosten des heimischen Gesundheitswesens leisten, sind sie willkommen.

 

Sich aber als Bettler hier bei uns ein paar Almosen zu erbetteln – wo sonst als in den Metropolen dieser Welt haben sie darauf eine Chance? –, das stört das innerstädtische Bild von Prosperität und sowas kann eine Hacker nicht leiden. Wenn das kein Fall für den Innenminister ist. Da gilt die Devise: „Armut ist nicht mobil!“.

 

Da soll noch mal einer sagen, man wüsste nicht, wofür die SPÖ steht. Freilich, ein Alleinstellungsmerkmal ist der Wunsch nach Abschiebung osteuropäischer Bettler nicht, hat doch schon die frühere ÖVP-Innenministerin Mikl Leitner anlässlich der 2014 in Kraft getretenen Arbeitnehmerfreizügigkeit für Rumänen und Bulgaren im Wissen um die zu erwartenden Resultate der kapitalistischen Eingemeindung Rumäniens und Bulgariens vor einer massiven „Armutseinwanderung“ gewarnt. Als Politiker hat man es schon schwer, wenn der Öffentlichkeit einfach das Sensorium für den feinsinnigen Unterschied der Vorschläge eines Hacker und der FPÖ fehlt.

 



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