DIE MENSCHENRECHTE

 

Das Thema der heutigen Sendung sind die Menschenrechte. In allen anderen Rechtsbereichen – beim Mietrecht, beim Ladenschlussgesetz oder beim Steuerrecht – sind die Menschen hinsichtlich der Frage, ob eine Rechtsvorschrift gut oder schlecht ist, gewöhnlich geteilter Meinung. Anders bei den Menschenrechten, die gelten als Creme della Creme der Rechte. Die sind weitestgehend unbestritten, versprechen sie doch den Menschen nichts geringeres als Schutz vor staatlichen Übergriffen aller Art. Andererseits haben die Staaten, die sich zu den Menschenrechten bekennen, schon Kriege in deren Namen geführt. Die Bombardements auf dem Balkan, um nur ein Beispiel zu nennen, sind im Namen der Menschenrechte erfolgt. Sehr viele Menschenleben sind im Rahmen dieses Krieges geopfert und vernichtet worden. Derselbe Mensch, der doch das Schutzobjekt der Menschenrechte bildet, wird also im Namen der Menschenrechte auch noch in Kriege getrieben, in denen er seines gleichen tötet und sein Leben opfert. Das wirft die Frage auf, was Menschenrechte eigentlich sind und was sie für wen taugen.

 

Das wollen wir in der heutigen Sendung tun, indem wir uns mit dem Gehalt und der Leistung der Menschenrechtsidee beschäftigen und im Anschluss daran an ausgewählten Menschenrechten darlegen, worin sie bestehen und wie sie sich im Inneren der Staaten darbieten. Konkret sind dies:

·         das Recht auf Leben,

·         das Recht auf freie Wahlen,

·         das Recht auf freie Meinungsäußerung,

·         das Folterverbot und zum Schluss

·         die unantastbare Würde des Menschen

 

Gehalt und Leistung der Menschrechtsidee

 

Menschenrechte haben einen unbestreitbar guten Klang, weil bereits der Name – Menschenrecht – verheißt, dass es sich um etwas unumstößliches handelt, um ein Recht das den Menschen – im Unterschied zu den Tieren und Pflanzen – von Natur aus zukommt. An diesem Recht kommt keiner vorbei.

 

Das Menschenrecht unterscheidet sich damit ganz grundsätzlich von den Rechten, mit denen man ansonsten im täglichen Leben zu tun hat. Diese Rechte – etwa das Mietrecht, das Arbeitsrecht, das Steuerrecht, usw. – kennt jeder als ein staatliches Regelwerk, das den Verkehr der Menschen in gewünschte Bahnen lenkt. Ein Staat erlässt Gesetze die den Verkehr Bürger zu Bürger und Bürger zu Staat regeln. Im Inneren des Staates sind diese Rechte etwas absolutes. Ihre Geltung wird mit staatlichem Zwang durchgesetzt. Andererseits sind derlei Rechte zugleich etwas relatives. Ein Beschluss einer Parlamentsmehrheit und der Mehrwertsteuersatz ist geändert, die Pensionen sind gekürzt oder die Normalarbeitszeit ist verlängert. Das Recht ist also durch Gewalt gesetzt und wird den Bürgern zur Vorschrift gemacht, an der sie sich zu orientieren haben, die für sie Geltung hat und zwar durch Gewalt, die für die Gültigkeit sorgt.

 

An diesem Recht gemessen, ist die Verheißung der Menschenrechte von grundsätzlich anderer Art. Laut herrschender Vorstellung kommt das Menschenrecht den Menschen nicht durch staatliche Vorgabe zu, sondern qua ihrer Natur. Als solches den Menschen von Natur aus zukommendes Recht gilt es als dem Staat vorausgesetzt. Es handelt sich um ein Recht nicht durch, sondern gegen den Staat. Im Unterschied zu den sonstigen Gesetzen verpflichtet es nicht die Bürger zu Wohlverhalten, sondern den Staat. Er ist es, der zu Zurückhaltung und Mäßigung aufgefordert ist.

 

Inwiefern soll denn das Geltung besitzen, dass ein Staat durch ein ihm vorausgesetztes Recht zur Mäßigung angehalten wird? Der Staat unterliegt doch gerade keiner höheren Gewalt, keiner Gewalt, die über ihm steht. Er selbst ist die höchste Gewalt, nennt und versteht sich als Gewaltmonopol. Wenn das aber so ist, dass der Staat selbst gar keiner höheren Gewalt unterliegt, die ihn zu Wohlverhalten verpflichten könnte, dann ist in Wirklichkeit das ganze Menschenrecht so etwas wie eine Selbstverpflichtung des Staates. Er ist nicht durch eine höhere Gewalt über ihm gebunden. Er selbst bindet sich an den Respekt vor dem Menschenrecht. Das ist zunächst einmal seltsam, denn die Menschenrechte verheißen ja, dass den Menschen die gröbsten staatlichen Schikanen erspart bleiben. Und jetzt zeigt sich, dass derjenige, der das garantiert, zugleich der einzig denkbare Täter ist. Der, der dafür sorgt, dass den Menschen das Gröbste erspart bleibt, der Staat, ist zugleich der einzige der hier als denkbarer Täter in Frage kommt. Wenn also Staaten sich zu den Menschenrechten bekennen und sagen, hier respektiere ich ein von mir vorausgesetztes Recht, handelt es sich in Wahrheit um eine Selbstverpflichtung dieser Gewalt, die in Wirklichkeit nichts verboten bekommt, sondern Verzicht tut und zwar auf die Sorte Gewalt, die sie selbst für unnötig und unzweckmäßig hält. Die ideologische Leistung dieses Versprechens besteht darin, dass sich ein rechtstaatlicher Gewaltapparat den schönen Schein zulegt, dass er eine beschränkte, eine gemäßigte Gewalt ist, die nicht zum Gröbsten schreitet und dies aus Respekt vor den Menschenrechten auch gar nicht darf. Als das präsentiert sich der Rechtsstaat.

 

Die Menschen können dem etwas abgewinnen. Was ist eigentlich der Reiz dieser Überlegung? Ein Staat, der das Menschenrecht achtet, der verschont uns vor Tortur und Grobheit. Diese positive Meinung von dieser Selbstverpflichtung des Staates lebt von einem Vergleich. Verglichen wird damit, was eine höchste Gewalt nicht noch alles mit ihnen machen könnte, wenn sie denn wollte. Dass dieser Staat nicht zu den Mitteln einer Diktatur oder des Mittelalters greift, zu denen er als diese höchste Gewalt greifen könnte, wird ihm als Mäßigung zugutegehalten. Alles was der Staat hier und heute ist und macht, verschwindet mit diesem Gedankenbild hinter dem was er nicht ist: Diktatur ist er nicht, insofern sollte er selig gesprochen werden. Respekt vor der Menschennatur ist für die Menschen, die das gut finden, gleichbedeutend mit der Behauptung, ein Staat der sich zu den Menschenrechten versteht, ist dann ein Dienst an der Menschennatur.

 

Kein einziges wirkliches Interesse, das im Kapitalismus gilt und das politisch durchgesetzt wird, folgt aber aus der Menschennatur. Das Ladenschlussgesetz, das Arbeitszeitgesetz, das Pfand auf Mehrwegverpackungen, Pensionskürzungen – nichts von alldem folgt aus der Menschennatur. Das sind Vorhaben, die kommen aus der Agenda einer Politik, die eine Marktwirtschaft und ihr Wachstum betreut. Aus der Menschennatur lässt sich kein einziger dieser Zwecke ableiten. Die Natur des Menschen, das ist sein Blutkreislauf, das sind seine Haare, seine Beine, seine Ohren usw. Aus all diesen Stücken Natur folgen überhaupt keine Zwecke. Die Berufung auf die Menschennatur als letztem Bestimmungsgrund leistet nur eines, es adelt all die hier und heute geltenden Interessen. Denen wird ein Kompliment ausgesprochen, obwohl diese Interessen und Zwecke ganz und gar nicht aus der Menschennatur genommen sind.

 

Welcher Art ist diese versprochene Selbstverpflichtung der Menschenrechte im Einzelnen? Dies soll im Folgenden am Recht auf Leben, am Recht auf Wahlen, am Recht auf Kritik und Meinungsfreiheit, am Folterverbot und schließlich an der Achtung der Menschenwürde dargestellt werden.

 

Das Recht auf Leben:

 

Jeder hat das Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit der Person.“ (Artikel der 3 der „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte“ der UNO von 1948)

 

(1) Das Recht jedes Menschen auf das Leben wird gesetzlich geschützt. Abgesehen von der Vollstreckung eines Todesurteils, das von einem Gericht im Falle eines durch Gesetz mit der Todesstrafe bedrohten Verbrechens ausgesprochen worden ist, darf eine absichtliche Tötung nicht vorgenommen werden.

(2) Die Tötung wird nicht als Verletzung dieses Artikels betrachtet, wenn sie sich aus einer unbedingt erforderlichen Gewaltanwendung ergibt:

a) um die Verteidigung eines Menschen gegenüber rechtswidriger Gewaltanwendung sicherzustellen;

b) um eine ordnungsgemäße Festnahme durchzuführen oder das Entkommen einer ordnungsgemäß festgehaltenen Person zu verhindern;

c) um im Rahmen der Gesetze einen Aufruhr oder einen Aufstand zu unterdrücken.“  (Artikel 2 der Europäischen Menschenrechtskonvention von 1950)

 

Erste Anmerkung: Mit dem Recht auf Leben begegnet der Staat allen Bürgern als Schutzmacht der blanken, physischen Existenz. Das ist merkwürdig, weil die Existenz eines Menschen, dass er lebt, dass er da ist, wie eine gewährte Erlaubnis besprochen wird. Etwas worauf man ein Recht hat. Das ist seltsam, weil dieses Leben doch biologisch ganz und gar ohne Zutun des Staates entstanden ist. Das machen schon die Liebenden, die Nachwuchs zeugen. Tatsächlich bringt da der Staat keine Leistung, die man ihm gutschreiben könnte. Aber genauso begegnet er einem, dass die bloße physische Existenz ihm gegenüber insofern zu Dank verpflichtet, insofern diese Existenz mit dem von ihm gewährten Schutz steht und fällt.

 

Zweite Anmerkung: Dieses Recht auf Leben ist überhaupt nicht dasselbe wie ein Versprechen auf ein gutes Leben. 15% der österreichischen Arbeitnehmer[1] leben von einem Niedriglohn, kann man nachlesen. 324.000 Kinder und Jugendliche waren in Österreich laut Volkshilfe im Jahr 2017 akut armutsgefährdet. Selbst extreme Schicksale wie Obdachlose gibt es zuhauf. Offensichtlich ist das Recht auf Leben nicht dasselbe wie die Garantie eines guten Lebens.

 

Dritte Anmerkung: Nicht nur das. Mit der Schutzinstanz des Lebens, dem Staat, kommen ganz neue Lebensrisiken in die Welt. Wer etwa einen Arbeitsplatz in einer Fabrik sein eigen nennt, der wird erleben, dass er im Dienste seines Arbeitgebers ein gutes Stück seiner Gesundheit verschleißt. Kollektivverträge, in denen festgeschrieben ist, dass für wenige Cents Schmutz- oder Lärmzulage die Lunge eines Menschen verbraucht und das Gehör geschädigt bis ruiniert werden darf, sind kein Verbrechen. Das gibt es alles. Das ist gesetzlich geregelter Verschleiß von Gesundheit und Leben. Umgekehrt in einer privaten Schlägerei jemandem ins Knie zu treten, sodass der Getroffene am Ende denselben Schaden hat wie sie ein Maurer von seinem Beruf davonträgt– eine Arthrose –, das ist verboten. Der entscheidende Unterschied: Eine private Schlägerei, das ist unproduktiver Verzehr, unzweckmäßiger Verschleiß von Gesundheit. Das ist verboten und wird verfolgt. Anders verhält es sich mit dem Dienst in der Fabrik unter starker Lärmbelastung. Dieser Dienst bringt das Wachstum voran und ist daher zweckmäßig. Wird man bei einer Demonstration – etwa in Stuttgart gegen die Errichtung des dortigen Bahnhofes – von einem Wasserwerfer blind geschossen, dann hat man zwar auch ein Gebrechen davongetragen, diesmal ist es aber kein Verbrechen, sondern das war Dienstausübung seitens der Polizei. Die Abtreibung ist bei uns im Grundsatz bis auf wenige geregelte Ausnahmen verboten und gilt als Tötung. In Kriegen, die Staaten führen – wie in jüngster Geschichte im Irak oder in Afghanistan –, da ist geboten was im Inneren verboten ist. Da muss Mensch im Dienste der kriegführenden Nation andere Menschen töten und sein eigenes Leben dafür aufs Spiel setzen.

 

Um ein Resümee zu ziehen: Man erkennt, das Recht auf Leben ist ganz und gar nicht dasselbe, wie das Leben von Schädigungen freizuhalten. Mehr noch, damit, dass der Staat sich ganz menschenrechtsgemäß zum Beschützer des Lebens aufschwingt, macht er sich zugleich zum einzig berufenen Richter, darüber zu entscheiden, wann und wo dieses Leben beendet werden darf. Kein Wunder daher, dass die Europäische Menschenrechtskonvention den Staaten das Recht auf Tötung als letztes durchgreifendes Mittel zugesteht. Voraussetzung ist nur, dass der Staat rechtsförmlich zur Überzeugung kommt, dass ein Mensch sein Leben verwirkt hat. Geschützt wird also nicht Leben, sondern geschützt wird das Rechtsgut Leben. Geschützt am Leben wird das, was der Staat diesem Leben als potentiell nützlichen Dienst für sich zuschreibt. Geschützt wird das Leben als Träger der Dienste, die er von diesem Leben für sich und seine staatliche Ordnung ebenso wie für den wirtschaftlichen Betrieb verlangt.

 

Das Recht auf Wahlen

 

„1. Jeder hat das Recht, an der Gestaltung der öffentlichen Angelegenheiten seines Landes unmittelbar oder durch frei gewählte Vertreter mitzuwirken. … 3. Der Wille des Volkes bildet die Grundlage für die Autorität der öffentlichen Gewalt, dieser Wille muss durch regelmäßige, unverfälschte, allgemeine und gleiche Wahlen mit geheimer Stimmabgabe oder in einem gleichwertigen freien Wahlverfahren zum Ausdruck kommen.“ (Art 21 der „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte“ der UNO von 1948)

 

Ein weiteres Menschenrecht, das sehr groß geschrieben wird, ist das Recht auf Wahlen. Mit diesem Recht begegnet der Staat seinem lebendigen Inventar nicht nur so, dass er die physische Existenz als sein Schutzmaterial bespricht – wie mit dem Recht auf Leben –, sondern er tritt auch noch so auf, dass er Respekt vor dem Willen seiner Objekte hat. In Wahlen können die Bürger ihren Willen kundtun und über das Personal der Macht mitentscheiden.

 

Erinnert man sich an die grundsätzliche Legitimation zurück, dass die Menschenrechte aus der Menschennatur folgen sollen, so wird man sich wirklich schwer tun, ein Zweikammersystem und exakt 183 Nationalratsabgeordnete aus der Menschennatur abzuleiten. Anhänger der Menschenrechte haben damit kein Problem. Die halten Wahlen mit mehreren Parteien für durchaus menschengemäß. Ein Einparteiensystem wie in China gilt ihnen umgekehrt als nicht nur unerträglich sondern nachgerade zu als unmenschlich. Mit den von der chinesischen Führung beschlossenen Maßnahmen – ob und inwiefern die schädlich für die chinesischen Bürger sind – brauchen sie sich für dieses Urteil nicht auseinanderzusetzen.

 

Gegen die gute Meinung über Wahlen sei eingewandt, wenn man es mit einer Partei zu tun hat, die mit der Art, wie sie das gesellschaftliche- und das Arbeitsleben organisiert, den Menschen nichts Gutes tut, sondern sie schädigt, dann wäre der vernünftige Schluss doch, eine solche Partei muss man durch etwas Besseres ersetzen, aber nicht durch andere Parteien ergänzen. Genau dieser Auffassung sind aber die Anhänger des Menschenrechtes auf Wahlen. Es brauche immer mehrere Parteien zum Wählen, weil die Menschen ja ihrer Natur nach von unterschiedlichen Interessen beseelt und geprägt sind, sodass eine Auswahl geboten werden muss, damit sich jeder im Wahlakt seinem Interesse gemäß entscheiden kann, sodass jedes Interesse auch zum Zug kommt.

 

Diese Vorstellung, mit der man sich einleuchten lassen soll, Wahlen seien etwas menschengemäßes, die krankt zunächst einmal daran, dass die wirkliche Wahl, die hierzulande durchgeführt wird, gar nicht so funktioniert, dass Interessen zur Wahl stünden. In der wirklichen Wahl, die in einem Rechtsstaat durchgeführt wird, da stehen nicht Interessen zur Wahl, sondern Personen bzw. Parteien. Jeder weiß, wer ein bestimmtes Interesse auf seinen Wahlzettel schreibt, an das sich der gewählte Abgeordneter zu halten hätte, der macht damit seine Stimme ungültig. Man erkennt, dass die Argumente für das Recht auf Wahlen die tatsächlich stattfindende Wahl idealisieren.

 

Aber selbst wenn man annimmt, beim Wählen ginge es um das Auswählen, welches Interesse wie sehr zum Zug kommen soll, muss man sagen, dass ein solches Verfahren auf jeden Fall verfehlt, was ihm als seine Leistung zugutegehalten wird. Die zugutegehaltene Leistung heißt, jeder kann nach seinem Interesse seine Lieblingspartei herausgreifen und die kommt damit zum Zug. In Wirklichkeit dominiert – selbst wenn man von der Idealvorstellung der Wahl ausgeht – die Mehrheit die Minderheit. Wer die meisten Stimmen hat, dessen Interesse gilt. Welches Interesse auch sonst, wenn schon die Wahl entscheiden soll? Über das unterlegene Interesse geht diese Mehrheit hinweg. Daran sieht man, selbst in der idealisierten Fassung ist die Wahl ein schädliches Verfahren. Käme etwa die Mehrheit des Wahlvolkes zum Schluss, die Todesstrafe wieder einzuführen oder Asylanten umstandslos abzuschieben, so müsste man – als Anhänger des demokratischen Verfahrens – diese Entscheidung ohne Wenn und Aber akzeptieren. Aber nicht nur das, als Anhänger der Entscheidungsfindung per Wahl müsste man sich selbst auch noch ausdrücklich zur getroffenen Entscheidung verstehen – und damit zu etwas, was einem persönlich höchst zuwider ist. In einer Wahl zählt nicht die Vernunft eines Interesses, sondern die Quantität der Träger und diese Quantität kann sich auch auf etwas sehr Unvernünftiges einigen.

 

Tatsächlich folgt die wirkliche Wahl gar nicht dem Ideal, Interessen stünden zur Entscheidung. Was zur Wahl steht, sind Menschen für politische Funktionen. Über diese Auswahl im Unwesentlichen – wer stellt den Wirtschafts- oder Finanzminister – wird die Zustimmung zum Wesentlichen eingeholt. Dass ein Wirtschaftsministerium für Wachstum sorgt, ein Finanzministerium das Staatsgeld beschafft, usw. usf., das alles steht nie zur Disposition. Nach einer Wahl wechselt vielleicht der Wirtschaftsminister aber nicht die Wirtschaftsweise. Insofern ist die Wahl, die sosehr als Menschenrecht proklamiert wird und als Respekt der Obrigkeit vor dem Willen ihrer eigenen Objekte gefeiert wird, nichts anderes als ein Instrument von Herrschaft. Es legt jeden unzufriedenen Kantonisten in diesem Land, der sich an den Maßnahmen seines Staates stört, auf die Fortsetzung von Herrschaft fest. Alles was der Staat den Menschen antut, ob es Pensionskürzungen sind oder Änderungen im Arbeitsrecht, das soll ein Wähler nicht dem Staat und seinen Zwecken anlasten, sondern der falschen Partei, die gerade an der Regierung ist. Die Lösung des Problems besteht dann darin, beim nächsten Mal eine andere Partei zu wählen. Insofern kommen Parteien immer doppelt vor. Sie sind der Grund des Problems und zugleich die Lösung. Man muss nur die Partei wechseln. Man kann also in diesem System jede Regierung fortjagen mit der man nicht zufrieden ist, aber eben einzig dadurch, dass man eine andere Regierung in den Sattel hebt. Vor diesem Willen, der sich auf ein solches Verfahren im Umgang mit seiner eigenen Unzufriedenheit festlegen lässt, hat ein Staat tatsächlich größten Respekt.

 

Recht auf Meinungsfreiheit

 

Jeder hat das Recht auf Meinungsfreiheit und freie Meinungsäußerung; dieses Recht schließt die Freiheit ein, Meinungen ungehindert anzuhängen sowie über Medien jeder Art und ohne Rücksicht auf Grenzen Informationen und Gedankengut zu suchen, zu empfangen und zu verbreiten.“ (Art 19 der „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte“ der UNO von 1948)

 

Weil die Herrschaft, auch wenn sie durch Wahlen legitimiert ist, die Interessen vieler Leute beschädigt, herrscht allerorten Unzufriedenheit. Die ganze Welt übt Kritik. Dass Unzufriedenheit herrscht, nimmt der Staat zur Kenntnis. Damit das Volk auf das hört, was er zum Programm macht, braucht er dessen Folgsamkeit. Die hängt wiederum von den Urteilen der Menschen ab – vom Bild, das sie sich von der Lage in der sie sich befinden machen und mit der sie unzufrieden sind. Jeder Staat betreibt daher so etwas wie die Bewirtschaftung der Gesinnung, der Urteilsbildung, des Meinens der Menschen. Er möchte den Willen zum Staat pflegen und das heißt bei uns sogar so: politische Willensbildung – Es wird sich um die Loyalität der Bürger gekümmert.

 

Wie macht er das? Zunächst einmal durch ein grandioses Angebot. Er erlaubt Kritik. Man kann alles kritisieren, man kann etwa sagen, es ist unerträglich, wie diese Regierung mit den alten Leuten verfährt und die Pensionen kürzt. Das darf man sagen. Genauso darf man aber dagegen einwenden, es ist unerträglich, dass die Menschen immer noch diesem Besitzstandsdenken anhängen und nicht zur Kenntnis nehmen, dass die Pensionen einfach gekürzt werden müssen, weil die Alten immer mehr und die Jungen immer weniger werden. Man kann auch den Umgang Europas und Österreichs mit den Flüchtlingen, der dazu führt, dass viele von ihnen im Mittelmeer ertrinken, unmenschlich finden. Ebenso darf man aber Flüchtlinge im Land für unerträglich finden, zumal wir sie doch nicht gerufen haben, und dem Urteil des Altkanzlers zustimmen, dass dies zu verhindern, wohl nicht ohne hässliche Bilder abgehe.

 

Man darf das Eine gerade so laut sagen wie das andere. Diese Urteile bleiben unausgestritten nebeneinander als gleichberechtigte Aussage stehen. Daran merkt man, dass dieser Meinungsfreiheit ein Pferdefuß innewohnt. Den Menschen, denen die Freiheit der Kritik angeboten wird, wird nämlich bedeutet, das was sie vortragen, dürfen sie sagen, aber es ist in jedem Fall eine Meinung und bloß eine Meinung. Mit dem gleichen Recht darf ein anderer das gerade Gegenteil sagen. Das wird nicht ausgestritten, sodass man zu einem Konsens findet und damit wüsste, wie es geht, sondern alle Meinungen gelten gleich. Das ist folgenschwer, denn dass dieser Streit, welche Auffassung denn nun recht hat, unterlassen wird, bedeutet, dass alles Denken, alles Meinen, die Urteilsfindung auf ihre Folgenlosigkeit festgelegt wird. Wenn man nicht entscheiden kann, welches Urteil denn nun stimmt und es auch gar nicht bezweckt ist, diesen Streit zu führen und zu einem Ergebnis zu kommen, kann keiner der vielen Meinungsträger von sich behaupten, er weiß jetzt, was richtig ist und wo es langgeht. Da wird im geistigen Vorfeld die Handlungsgewissheit abgeschnitten. Damit wird behauptet, man könne nie sicher sein, wie etwas ist, weil jedermanns Urteil bloß eine Meinung, bloß von vorläufiger Gültigkeit ist, eine Meinung, die letzte Geltung nie beanspruchen kann. Dann kann man aber auch nie sagen, jetzt handle so, weil ich das für vernünftig halte. Den Menschen wird also mit der Garantie der Meinungsfreiheit im geistigen Vorfeld die Handlungskompetenz weggenommen.

 

Wenn alle divergierenden Meinungen gleichermaßen anerkannt sind, dann gilt keine. Dann gilt eben das, was von oben erlaubt oder verboten ist. Zuständig für das Entscheiden ist der Staat. Einer muss schließlich entscheiden und handeln, wenn Gesetze beschlossen werden sollen. Wer tut das? Nicht der, der die überzeugendste Meinung hat, sondern der, der hinter seiner Meinung die Entscheidungshoheit – die Gewalt – als überzeugendstes Mittel hat. Die Auffassungen der Regierung sind inhaltlich in keiner Hinsicht besser, objektiver als das, was die vielen Menschen meinen. Die Gültigkeit der Entscheidungen der Regierung kommt nicht aus dem Wahrheitsgehalt ihrer Überzeugung, sondern aus der Gewalt des Trägers dieser Überzeugung.

 

Insofern ist die Meinungsfreiheit im Vergleich zu dem, was sich Diktaturen einfallen lassen, geradezu raffiniert zu nennen. Diktaturen sind in dieser Hinsicht plump. Diktaturen verbieten missliebige Kritik. Auch sie fördern Kritik soweit gegen falsche Fünfziger, gegen Systemkritiker, Volksfeinde, Gewerkschafter oder Kommunisten gehetzt wird, aber sie verbieten einfach missliebige Kritik. Demokratien sind viel raffinierter, denn sie erlauben jede Kritik, die sich im Selbstverständnis vorträgt, Äußerung einer Meinung zu sein, also keines falls auf Geltung besteht. Das ist, um es einmal in anderen Worten zu fassen, die Intoleranz der Toleranz.

 

Meinungsfreiheit ist beides. Sie ist Toleranz und Intoleranz gleichzeitig. Die Toleranz besteht darin, dass man jedem Urteil das Angebot macht, sprich dich aus und nimm unter dem Dach der Meinungsfreiheit Platz. Die Intoleranz gilt dem Geltungsanspruch des Gedachten. Wo Meinungsfreiheit herrscht, kann keiner behaupten, so wie er das sieht, stimmt das, und auf Prüfung seiner Urteile bestehen.

 

Dem Staat, der dieses Angebot macht, soll man mit Dank begegnen und die meisten Menschen tun das auch nach der Logik, weil man hierzulande sagen darf, was den Leuten angetan wird, soll man dem Täter nicht den Schaden zur Last legen, sondern ihm dankbar dafür sein, dass man den Schaden aussprechen darf. Auch dieser Staat, der sich viel auf das von ihm garantierte Recht auf freie Meinungsäußerung zugutehält, kennt freilich Irrläufer, und zwar immer dann, wenn die zuständigen Instanzen – entlang des Wortsinn des Rechts auf freie Äußerung einer Meinung – zum Schluss kommen, dass jemand dieses Recht auf freies Meinen missbraucht, indem er auf der praktischen Geltung seiner Meinung besteht, seine Urteile also nicht als bloß folgenlose Äußerung eines Nichtzuständigen verstanden werden können.

 

Das Verbot der Folter

 

Niemand darf der Folter oder grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden.“ (Artikel 5 der „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte“ der UNO von 1948)

 

Ein Folterverbot, auch so etwas gibt es im 21.Jhdt. Folterknechte sind gar nicht ausgestorben. Wenn der CIA in Guantanamo oder in anderen geheimen Folterkellern Menschen foltert, dann sind da wissenschaftliche Methoden am Werk und nicht glühende Eisen wie im Mittelalter. Warum wird so etwas gemacht? Warum wird gefoltert? Nicht um, wie im Mittelalter, von irgendwelchen dingfest gemachten Leuten Schuldeingeständnisse für irgendein Gerichtsverfahren zu erzwingen. Das wäre dysfunktional und überflüssig zugleich. Dysfunktional weil der Staat ja nicht denjenigen verurteilen will, der am wenigsten Schmerzen aushält und deswegen am frühesten alles zugibt, auch wenn er das ihm vorgeworfene Vergehen, gar nicht begangen hat, sondern weil er die Richtigen einsperren will. Im Sinne dieses Anliegens wäre Folter daher ganz und gar dysfunktional. Überflüssig ist sie, weil sich Gerichte sich ohnehin nicht von einem Geständnis abhängig machen, wenn sie einen Mensch verurteilen. Schuld oder Unschuld festzustellen ist Sache einer richterlichen Beweiswürdigung in deren Rahmen ein Schuldeingeständnis höchstens einen Mosaikstein darstellt.

 

Dennoch wird gefoltert und zwar immer dann, wenn Staaten Informationen etwa aus Terroristen wie in Guantanamo oder, wie im deutschen Entführungsfall Jakob von Metzler, den Ort herauspressen wollen, an dem der Täter das Entführungsopfer festhielt (https://de.wikipedia.org/wiki/Daschner-Prozess). Dann greifen Staaten bzw. Staatsorgane zu Foltermethoden. Dennoch ist und bleibt dies nicht legal. Es gilt ein Folterverbot und dieses respektieren ironischerweise Staaten selbst dann, wenn sie foltern. Amerika etwa legt großen Wert darauf, dass das Foltern in rechtsfreien Räumen stattfindet – Guantanamo ist so ein Ort. Oder sie betreiben ein Outsourcing, soll heißen, sie foltern die Leute in irgendwelchen dunklen Kellern in Schurkenstaaten, die sie bekämpfen – Afghanistan, Irak, Syrien z.B. – oder in Geheimgefängnissen in befreundeten Staaten wie z.B. Polen (https://www.zeit.de/politik/ausland/2014-12/polen-cia-folter-gefaengnis/komplettansicht).

 

Hinsichtlich der Foltertechniken – um ein anderes Beispiel zu nennen – hat die ehemalige Bush-Regierung einen ganzen Katalog von Folterpraktiken wie etwa das zu trauriger Berühmtheit gelangte „Waterboarding“ als verschärfte Verhörmethoden von der verbotenen Folter abgegrenzt und ausdrücklich bewilligt. Details dazu kann man unserer Sendung vom 18.05.2004 mit dem Titel „vom Unterschied zwischen zweckmäßigem staatlichen und dem unmenschlichen privaten Sadismus“ entnehmen, nachzulesen auf unserer Homepage - http://www.gegenargumente.at/radiosend/folter.htm

 

Die Achtung der Menschenwürde:

 

Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie ist zu achten und zu schützen.“ (Artikel 1 der Grundrechte Charta der EU) Allen Menschenrechten übergeordnet – quasi Krone und Glanzlicht der Menschenrechte – ist die Würde des Menschen. Mit deren Schutz beginnt sowohl die UN-Menschenrechtsdeklaration als auch die Grundrechte Charta der Europäischen Union. „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie ist zu achten und zu schützen.“ heißt es dort im Artikel 1. Der Schutz der Menschenwürde ist ein eigenes Recht und ein eigener Titel dafür, dass der Staat die Anerkennung des Willens über alle Maßen schätzt. Sosehr das er diesen Willen zu einem Schutzobjekt erklärt, das Folter und Schikanen nicht verträgt.

 

Die Menschenwürde, heißt es, ist unantastbar. Was ist das eigentlich, was da unantastbar ist? Viel leichter als zu sagen, was geschützt wird, wenn die Menschenwürde Schutzobjekt ist, ist es zu sagen, was dieser Schutz nicht bedeutet. Offenkundig bedeutet dieser Schutz nicht, dass die Menschenwürde darin unantastbar ist, dass keinem Menschen sein Auskommen oder sein Wohnraum genommen werden darf. So etwas passiert bei uns laufend. Menschen zu entlassen und sie um ihr Einkommen zu bringen, ist kein Verbrechen. Menschen aus einer Wohnung heraus zu kündigen, die sie nicht mehr bezahlen können, ist kein Verbrechen. Eine Garantie auf ein gutes Leben ist also mit dem Schutz der Menschenwürde nicht gemeint. Umgekehrt, zur Blüte kommt das Argument mit der Menschenwürde immer dann, wo man gröbstes Elend vor Augen hat. Die Menschenwürde hat ihren Höhepunkt nicht beim Blick auf gut situierte Bürger, sondern genau dann, wenn man auf Obdachlose schaut, wenn man auf alte Menschen in Pflege- und Sterbeheime blickt oder an Soldaten im Schützengraben. Gerade dann wird Menschenwürde hochgehalten. Hier käme es auf Menschenwürde ganz besonders an und hier würde sich zeigen, die ist unantastbar. Das ist insofern aufschlussreich, als es sich bei diesen extremen Schicksalen – der Obdachlose, der Sterbende, der Soldat im Schützengraben – um Grenzgänger handelt, bei denen eigentlich alles angetastet ist, was ein gutes Leben ausmachen könnte. Bei denen ist der Wohnraum weg, bei denen ist die Lebensqualität weg und bei denen steht am Ende sogar das Leben selbst auf dem Spiel. Wenn das alles angetastet und weg ist, was bleibt dann übrig, von dem man sagen könnte, das darf nicht angetastet werden, das gehört geschützt? Was über bleibt, ist, dass auch Menschen in solchen Extremsituationen als welche zu behandeln sind, die einen Willen haben, den ihnen keiner absprechen darf. Das ist das Unantastbare, das an solchen Elendsfiguren hochgehalten wird. Das ist das Prinzip, das mit dem Schutz der Menschenwürde als das Unantastbare an solchen Elendsfiguren hochgehalten wird.

 

Dass der Respekt vor der Menschenwürde gerade in den Extremsituationen zur Hochblüte kommt, in Fällen, wo den Menschen alles Schöne und Gute, am Ende sogar die Gesundheit genommen ist, macht explizit kenntlich, dass die Anerkennung des Willens nicht mit einem Versprechen auf gute Behandlung dieses Willens zu verwechseln ist. Man kann einen Menschen entlassen, man kann sein Einkommen streichen. Man kann einem Menschen auch noch die Wohnung wegnehmen, wenn er seine Miete nicht zahlt. All das ist nicht verboten. Dann ist er am Ende ein extremes Schicksal, ein Obdachloser. Einen Menschen obdachlos machen, das geht, ohne gegen die Menschenwürde zu verstoßen. Aber ihn unter der Brücke zu treffen und ihn als nichtsnutzigen Penner zu beschimpfen, das ist ein Verstoß gegen seine Würde.

 

Der Staat, der sich dazu versteht, die Menschenwürde zu achten, schützt damit nicht mehr und nicht weniger als das Prinzip, dass Menschen einen Willen haben. Anerkannt ist, dass Menschen einen Willen haben, nur als dieses Prinzip. Keinesfalls als schutzwürdig anerkannt ist der Inhalt dieses Willens. Vorgenommen wird damit eine bemerkenswerte Scheidung des Willens von seinem Inhalt. Mit der Achtung der Menschenwürde erweist der Staat dem Willen der Menschen seine Reverenz auch und gerade dann, wenn er diesen Willen seinem Inhalt nach nicht gelten lässt. Damit schützt er am Willen genau das, als was er von der bürgerlichen unserer Gesellschaft und vom Staat gebraucht wird. Darum soll es im letzten Punkt gehen.

 

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Das Verbot der Tortur, das Verbot brachiale Gewalt gegen einen anderen Willen, einzusetzen, hat mit dem Recht auf Leben, mit dem Recht aufs Wählen, mit dem Recht aufs Kritisieren und mit der Achtung der Menschenwürde eine Gemeinsamkeit. All diese Rechte drücken aus, dass der Staat, der sich zu diesen Menschenrechten bekennt, den Willen der Menschen achtet. Damit – so Lob und Selbstlob – setzt er sich von Vorläuferregimen – von Diktaturen oder vom finsteren Mittelalter – ab. Von den Verhältnissen in der Gesellschaft – am Arbeitsmarkt, im Niedriglohnsektor, den Arbeitslosen, Notstands- und Mindestsicherungsbeziehern – von den Verhältnissen also, in denen sich dieser anerkannte Wille zurechtfinden und durchschlagen muss, sieht dieses Lob ausdrücklich ab. Genau diese Verhältnisse, in denen sich Menschen umtreiben, sollen aber durch diese Anerkennung des Willens gerechtfertigt werden. Diese Rechtfertigung haben diese Verhältnisse nicht verdient und deswegen ein kleiner Exkurs zu der Frage, warum es dem Staat so wichtig ist, zu betonen, dass die Anerkennung des Willens und die Freiheit der Person, ein hohes Schutzgut ist, das sich mit Foltern nicht verträgt.

 

Die Freiheit des Willens, die den Menschen per Grundrechtsartikeln und im Menschenrechtskatalog zugesichert wird, ist negativ gesprochen Ausdruck davon, dass es heute, in unserem modernen Rechtsstaat keine Sklaven gibt. Niemand gehört einem anderen und ist von dessen Willen abhängig gemacht. Niemand darf durch einen Firmenchef oder durch einen Politiker zur Arbeit gezwungen werden. Jeder ist darin frei, für sich zu entscheiden und für sich zu sorgen.

 

Jeder darf auf eigene Faust für sein Leben sorgen, aber – und das ist die entscheidende Kehrseite der Medaille – jeder muss das auch auf eigene Faust tun. Es gibt keine gesellschaftliche Arbeitsteilung und Planung, mit dem Zweck der Versorgung der Menschen. Jeder muss unter Anerkennung des Willens aller anderen selbst sehen, wie er zurechtkommt. Das bedeutet, der Zwang, der von Personen nicht ausgehen darf, geht in dieser Gesellschaft schlicht vom Geld aus. Man muss Geld verdienen, um zu überleben. Geld zu verdienen, ist in unserer Gesellschaft die elementare Voraussetzung dafür, an die benötigten Lebensmittel zu kommen. Ohne Geld keine Musik, heißt ein Sprichwort. Wie und ob es der Wille tatsächlich schafft, Geld zu verdienen, ist aber mit der Anerkennung, die der Wille genießt, überhaupt noch nicht gegeben. Das hängt an den Mitteln, die er hat oder eben auch nicht hat.

 

Längs dieses Kriteriums – über Eigentum zu verfügen oder eben nicht – scheiden sich die Leute in zwei große Abteilungen: in solche, die Eigentum haben, das in Gestalt von Fabriken und Geldvorschüssen in der Landschaft steht, und in die andere übergroße Mehrzahl derjenigen, die, weil eigentumslos, keine andere Chance haben, als sich einen Unternehmer zu suchen, der ihnen dafür, dass sie ihn bereichern, einen Lohn zahlt. Es gibt also einen Klassengegensatz zwischen Eigentümern und Eigentumslosen.

 

Weil das ein Gegensatz ist, der diese Wirtschaft in Schwung bringt, ist die Kehrseite der Anerkennung des Willens – der staatlichen Lizenz des Dürfens – die Auferlegung von Beschränkungen. Die Freiheit des Einen, lernt man schon im Sozialkundeunterricht, endet an der Freiheit der Anderen. Nur dass es keine Eigenschaft der konfligierenden Willen ist, sich zu beschränken. Der Gegensatz freiheitlich verfolgter Interessen von Arbeitnehmern und Unternehmern muss daher durch den Staat beschränkt werden, damit er haltbar wird. Würde einfach den Unternehmern freie Bahn gewährt, würden sie am Ende das Arbeitskräftematerial sosehr verschleißen, dass es vor die Hunde geht. Also gibt es Beschränkungen wie einen Normalarbeitstag. Überstunden sind nicht ausgestorben, aber die muss der Unternehmer durch einen Extrazuschlag erkaufen. Der Staat anerkennt, dass Arbeiter von dem Lohn, den sie normalerweise bekommen, nicht wirklich leben können und deshalb auch noch kämpfen müssen. Also dürfen sie eine Gewerkschaft bilden. Die darf streiken, aber das Kapital ruinieren darf sie nicht. Sie darf für Lohn aber nicht gegen das Lohnsystem streiken. Man sieht an diesen Beispielen, der Staat, der den Willen freisetzt und ihm den Auftrag mit auf den Weg gibt, bemüht ihr euch um euren Erfolg, der setzt um der Haltbarkeit dieses gegensätzlichen Kooperationsverhältnisses wegen auch noch Beschränkungen in Kraft. Jedes Interesse gilt, aber eben nur so weit wie es das staatliche Regime, das Recht, im Rücken hat. Im Zweifelsfall müssen das die Kontrahenten, die überkreuz kommen, vor Gericht ausloten, wer wie viel Recht im Rücken hat. Insofern ist Freiheit überhaupt nicht so etwas wie die paradiesische Illusion der Abwesenheit aller Schranken und Gewalt. Freiheit ist ein universelles Gewaltverhältnis.

 

Entsprechend groß ist in dieser Gesellschaft des Regimes der Freiheit der Ruf nach Gewalt. Alle Fragen der Art, darf der oder die das, darf der Nachbar sein Radio so laut aufdrehen, darf der Unternehmer den Lohn so kürzen, ist diese Kürzung der Pensionen zulässig, zeigen, jedes anerkannte, persönliche Interesse, jeder anerkannte Wille erhält seine Geltung durch die lizensierende Gewalt, aber eben nur so weit, wie die mit ihrem Recht dahinter steht. Diesem Zuweisen von Lizenzen ist zu entnehmen, dass dem Staat offenbar sehr daran gelegen ist, dass dieser anerkannte Wille sich – im Rahmen dieser Erlaubnisse – aus eigenem Antrieb um seinen Erfolg bemüht. Das ist wenig überraschend, schließlich lebt er selbst von diesem gegensätzlichen Kooperationsverhältnis, das in der Wirtschaft stattfindet. Das Wachstum, das da zustande kommt, ist seine produktive Basis, von der er in Gestalt von Steuern und mit dem Mittel des Kredits seinen Teil nimmt. Motor dieses Wachstums ist die Anerkennung des Willens, die Anerkennung des privaten Erfolgs. Mit der allseitigen Anerkennung der Willen formuliert der Staat den Anspruch, dass zwischen den Bürgern keine außerökonomische Gewalt angewandt wird. Wer in wessen Fabrik für welchen Lohn arbeitet, muss per Vertrag, also unter Anerkennung des wechselseitigen Willens, erfolgen. In Arbeitsverträgen wird per Einwilligung festgelegt, wer wo wie lange und mit welchen Konsequenzen zu welchem Preis arbeitet. Mit dieser Einwilligung da geht dann viel an Schädigung. Da kann man sich das Gehör abkaufen lassen oder ein Stück Lunge oder, wenn man am Bau arbeitet, sein Skelett verschleißen lassen.

 

Selbst im Verhältnis von Staat – der überlegenen politischen Gewalt – und dem Bürgern kann der Wille sich darauf verlassen, dass alles was der Staat an Regeln setzt, nicht der Willkür folgt, sondern einem Regelkanon, einem Verfahren, verpflichtet ist. Er anerkennt sogar, dass jeder Bürger ihn verklagen darf, wenn er zur Auffassung kommt, dass der Staat sich nicht an seine eigenen Vorgaben gehalten hat. Er gibt sich ein öffentliches Recht. Bei Verstößen dagegen darf ein Eigentümer z.B. gegen den Bau einer Straße klagen.

 

Gezeigt sein sollte damit, die Anerkennung des Willens, ist für einen Staat so etwas wie der Motor einer Wirtschaftsweise, in der gegensätzliche Klassen zu einer Kooperation gebracht werden, die ein Wachstum hervorbringen soll, von dem der Staat lebt. Des Gegensatzes wegen werden Beschränkungen erlassen.

 

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Der ganze, exemplarisch behandelte Menschenrechtskatalog stammt nicht, wie der Name behauptet, aus der Natur des Menschen, sondern aus dem Innenleben einer funktionierenden kapitalistischen Ordnung. Die Idee des Menschenrechts will sagen, hier wird eine Brandmauer gegen den Staat gezogen, um die Menschen vor dem Gröbsten zu schützen. Die Staatsgewalt, ist den Untertanen offenbar geistig als eine Härte präsent, vor der man geschützt sein möchte. Diese Härte schlägt dort am brutalsten zu, wo die Staatsgewalt bestritten ist, vor allem in der dritten Welt. Wo Regime gegen Hungeraufstände mit ihrem Militär aufmarschieren oder wo rivalisierende Clans um die Staatsmacht kämpfen und die Mannschaften vor Ort für sich als Kanonenfutter gewinnen und sie gegeneinander aufbringen. In solchen Staaten, in denen die Staatsmacht angefochten ist, gibt es entsprechend viel Mord und Totschlag durch staatliche Institutionen und Tote bei Wahlen.

 

Im Unterschied dazu sieht der Staat im entwickelten, fertigen Kapitalismus zivil aus. Nicht weil Staat und Herrschaft dort eine bescheidene und sich bescheidende Angelegenheit wäre, sondern weil der fertige eingerichtete Kapitalismus den Gehorsam seiner Bürger auf seiner Seite weiß. In diesen Staaten ist ein flächendeckendes Erwerbsleben namens Marktwirtschaft organisiert. Die Leute werden für das Wachstum benutzt und vernutzt. Die dafür Überflüssigen werden als Ausgemusterte zu Fällen von Arbeitslosen-, Notstandshilfe oder Mindestsicherungsbeziehern. Das bedeutet für die Betroffenen einiges an Härten und Elend, aber die Menschen arrangieren sich damit. Der Arbeitslose, was tut er? Er tritt brav an in der Schlange vor den Arbeitsämtern. Es gibt Bürger, die haben in der Finanzkrise nicht nur ihren Arbeitsplatz, am Ende sogar Spareinlagen oder ein Stück ihrer privaten Pensionsvorsorge verloren. Was sagen die? Die wollen, dass der Staatshaushalt saniert und Steuern eingenommen werden. Das sind Menschen, die sind sogar zum Opfer für ihren Staat bereit. Am Ende sogar soweit, dass sie in den Krieg ziehen, wenn es denn von ihnen verlangt wird, auch wenn ihnen gar nicht einmal wirklich klar ist, worum dieser Krieg geführt wird, aber er wird für ein Land geführt, in dem man sich geistig beheimatet hat, das man schätzt und als seines erachtet, weswegen man ihm fraglos dient. Anders gesagt, weil der freie Wille pariert, sind in diesem Rechtsstaat eines entwickelten Kapitalismus Folter und grobe Schikanen verzichtbar. Diesen Verzicht auf hier nicht nötige Gewalt, den lässt sich ein Staat als seine Leistung würdigen. Ich bin ein Achter der Menschenrechte und ein Beschützer der Menschen vor dem Gröbsten.

 



[1] „14,7% der Beschäftigten arbeiteten zu einem Niedriglohn“

(https://www.statistik.at/web_de/statistiken/menschen_und_gesellschaft/soziales/personen-einkommen/verdienststruktur/index.html)