Zum 1.Mai: „Das Proletariat“- Von der Karriere des rechtlosen Lohnarbeiters zum mit Rechten ausgestatteten Staatsbürger

 

Nichts könnte unzeitgemäßer sein, als heutzutage vom Proletariat zu reden. Ein Proletariat – so etwas mag es früher einmal gegeben haben – im Manchesterkapitalismus, im Kaiserreich, vielleicht noch vor Hitler. Sie vor allem, die mit diesem Fremdwort einmal gemeint waren, weisen den „Proletarier“ als Beleidigung zurück, die sich ehrbare Steuerzahler und Arbeitsplatzbesitzer nicht bieten lassen müssen. Nicht nur „das Proletariat“ ist ausgestorben, es gibt auch keine Arbeiterbewegung mehr, auch das ist Gegenstand der Vergangenheit, wie auch Arbeiterparteien. Die haben sich in Volksparteien aufgelöst.

 

Tatsächlich hat die bürgerliche Gesellschaft ihr Problem mit dem einst rechtlosen und rebellischen Arbeiterstand offenbar gelöst. Vor der „starken Hand des Arbeiters“, die alle Räder stillstehen lässt, wenn sie nur will, fürchtet sich kein Kanzler und kein Mittelständler mehr. Arbeiterparteien, die den Umsturz von Staat und Wirtschaft betreiben, und Gewerkschaften, die zugunsten des Lebensunterhalts ihrer Mitglieder die Interessen der Wirtschaft missachten, sind verschwunden. Die Gesellschaft kann zufrieden sein.

 

Aber hat sie auch die Probleme gelöst, die dieser Stand mir ihr hat – oder hat sie nur dessen Widerstandswillen aufgelöst? Jedenfalls sind Armut, Verwahrlosung, Not und Lebenskampf unter den „sozial Schwachen“ nicht zusammen mit dem Proletariat ausgestorben. Was hat sich also geändert seit den Tagen, in denen es ein rechtloses, nicht gesellschafts- und überlebensfähiges Proletariat gegeben hat? Was ist, wenn das, was als Ende des Proletariats gefeiert wird, nichts anderes darstellt als die Vollendung seiner Funktionalität für Staat und Kapital? Mit diesen Fragen beschäftigt sich unsere heutige Sendung, die sich in folgende Teile gliedert:

 

1. Zur Aussage „Es gibt kein Proletariat mehr!“

2. Was ist heute tatsächlich anders als im Manchester-Kapitalismus?

3. Was bedeutet der Kampf um Arbeiterrechte als Antwort auf System der Lohnarbeit?

4. Wohin führt der gewerkschaftliche Kampf um Lohn?

5. Wie steht der moderne Arbeiter nach 100 Jahren politischer Emanzipation, nach seiner Verwandlung zum Bürger da?

6. Was bringt dem Arbeiter die Eingliederung in die Gesellschaft?


 

1. "Kein Proletariat nirgends!“ – a) Heute gibt es keine Proletarier mehr…

 

Wer das Wort „Proletariat“ in den Mund nimmt, redet im allgemeinen Verständnis von einer längst vergangenen Zeit. Ja, so etwas mag es einmal gegeben haben, im 19.Jhdt, vielleicht noch vor 50 Jahren. Heutzutage ist das vorbei. Da ist nicht nur das Wort Proletariat ausgestorben, auch die Arbeiterbewegung und Arbeiterparteien gehören der Vergangenheit an. Von Leuten, die sich als Proletarier begreifen oder gar mit Stolz als solche bekennen würden, ist weit und breit nichts zu entdecken, von Klassenkämpfen ganz zu schweigen.

An die Stelle einer kollektiv ausgebeuteten Industriearbeiterschaft sind in der modernen Erwerbsgesellschaft – oder jedenfalls in ihrem Selbstbild – lauter freie Einzelindividuen getreten, die zeitsouverän und flexibel mit zeitweiligen Hauptberufen, Nebenjobs und Phasen der Arbeitslosigkeit herumwirtschaften, bis sie in einen selbstbestimmten Ruhestand treten.

Von einem gemeinsamen Interessengegensatz gegen die Eigentümerklasse will niemand mehr etwas wissen. Das Kapital wird nicht als Gegner, geschweige denn als ausbeuterische Macht gesehen. Im Gegenteil, es wird als Quelle, und zwar als einzige, vielfältiger Erwerbschancen begrüßt. Elend ist in dieser Lesart nur dort zu Hause, wo es an Kapital fehlt.

Die Gewerkschaften, einstmals Organisatoren einer tatkräftigen Klassensolidarität und Gegenmacht gegen die Übermacht des großen Geldes, wollen noch nicht einmal von Lohnkampf etwas wissen, sie betreiben mit den Unternehmervertretern Lohnfindung. Sie haben weltweit eingesehen, dass ein Lohnabhängiger nichts so nötig hat wie einen geschäftstüchtigen Arbeitgeber und letztlich auch nichts anderes braucht; sie sterben ab, sofern ihnen nicht die Umstellung auf eine Art Dienstleistungsunternehmen für ihre Mitglieder gelingt.

Die Arbeiterparteien von früher - Sozialdemokratie – verstehen sich heute als Volksparteien und haben der Idee einer sozialistischen Alternative schon längst abgeschworen. Sie können mittlerweile keinerlei Notwendigkeit mehr entdecken, von Staats wegen zugunsten der Arbeitnehmerschaft korrigierend in den Gang der Marktwirtschaft einzugreifen - außer in dem Sinn, dass sie alles aus dem Weg räumen, was "der Wirtschaft" die Schaffung von Erwerbsmöglichkeiten erschweren könnte.

Die Sozialdemokratie und die Gewerkschaften selber haben das Ende der Arbeiterklasse und das Ende des Klassenkampfs verkündet. Das haben sie keineswegs in dem Ton getan, sie würden was lassen, was sich gehören würde, sie würden etwas verraten, was ihre Aufgabe wäre. Sie verkünden dieses Ende in dem Ton, die Arbeiterbewegung ist zu Ende und sie darf es sein, weil sie ihr Ziel erreicht hat. Das, was der Prolet einmal gewesen ist, ist nicht mehr die Lage, denn der Prolet ist zum Bürger geworden, und damit ist der Ausschluss aus der Gesellschaft, die Rechtlosigkeit, die Rolle als Unterklasse erledigt. Das, was aus den Proleten geworden ist – moderne Lohnabhängige, Wahlbürger – darum ging es den Sozialdemokraten und Gewerkschaften in ihrem Kampf gegen Kaiser, Hitler und Obrigkeitsstaat. Das war das Ziel ihrer Wünsche, das haben sie erreicht. Das Proletariat darf sich ins Volk auflösen, denn es hat seinen Unterschied zu den anderen Klassen erledigt.

Ihre frühere Klientel sieht sich heute mehr in ihren Rechten als Inländer, denn als Arbeiter bedroht. Hinter dieser nationalen Identität verschwinden alle sonstigen Unterscheidungen und Einstufungen, nach der Erwerbsquelle womöglich oder gar nach der Klassenlage, die es ihrer eigenen Einschätzung nach sowieso nicht mehr gibt.

Die bürgerliche Gesellschaft hat es offensichtlich geschafft, über was hinwegzukommen, was auch in ihrer eigenen Sichtweise eine Spaltung der Gesellschaft gewesen ist, eine Gefährdung der Ordnung. Eben die Zeit der Industriegesellschaft, in der es eine Arbeiterklasse gegeben hat. Sie sieht sich, wenn sie sich an das Wort "Proletariat" schwach an was ganz Vergangenes erinnert, sie sieht sich von dem sie bedrohenden Gegensatz befreit. Nein, da ist nichts mehr übrig davon.

 

b) …aber den „kleinen Mann“ und „sozial Schwache“

 

Die andere Seite: Ist mit dem bösen Wort vom "Proletariat" auch die Sache aus der Welt? Nicht wirklich. Und das Eigentümliche ist, jeder weiß es doch auch. Und unter anderem Namen kommen die Charaktere durchaus wieder vor, die man früher Proletarier nannte. Aber eben nicht als Proletarier.

 

Der „Kleine Mann“ z.B. Vom "Kleinen Mann" ist viel die Rede. Man muss sogar sagen, der kleine Mann ist der allgemeine und abstrakte Zielpunkt aller Politiker. Jeder Politiker übt sein Amt im Namen des kleinen Mannes aus und beruft sich bei dem, was er tut, darauf, dass der das ja wohl braucht und will. Was ist er denn, der kleine Mann? Was ist denn das für eine Figur? Klar, ein Proletarier ist es nicht. Das Wort „Proletariat“ steht für eine ganze Theorie. Beim Proletarier, da wird ja gesagt, er steht in Opposition, in Entgegensetzung zum Eigentum an Produktionsmitteln. Der wird ausgenutzt, ist Mittel des Reichtums anderer und hätte, von sich aus, allen Grund, das Regime, dem er dient und der ökonomischen Rechnung, der er unterworfen ist, den Kampf anzusagen. Ein Proletarier ist „der kleine Mann“ nicht. Aber einer, der es nicht leicht hat im Leben, der immerzu über zu wenig Geld verfügt, der auf jeden Fall kein Eigentum hat, das ist der kleine Mann schon, sonst wäre er ja kein kleiner Mann, sonst wäre er ja von der anderen Sorte der Bürger.

 

Der kleine Mann ist zweitens einer, der auch in Opposition steht, aber nicht wie ein Proletarier. Der kleine Mann steht in Opposition zu einem Universum von Lumpen. Der kleine Mann ist nämlich definiert durch seine eigene Rechtschaffenheit, und von der ist er eingenommen. Er ist sich sicher, dass er 1. die Rolle, in die ihn das Leben verschlagen hat, ausfüllt und 2. damit, dass er die ausfüllt, bestimmt nichts verkehrt macht. Obwohl er nichts verkehrt macht, fallen die Gründe für Zufriedenheit dürftig aus. Wenn der „kleine Mann“ zu Wort kommt, äußert sich eines nie, Zufriedenheit. Im Gegenteil! Lauter Unzufriedenheit! Womit bzw. welche Gründe weiß der „kleine Mann“ für seine Unzufriedenheit anzuführen? Grund seiner Unzufriedenheit ist die Pflichtverletzung, die alle anderen um ihn herum verüben. Er schaut auf sich und seine Rechtschaffenheit und seine Bereitschaft, den Dienst zu tun, den er tut. Und mit sich könnte er eigentlich zufrieden sein. Alle anderen aber denken nur an sich, um ihn herum sind lauter Raffgierige, Drückeberger und Blaumacher. Das ist der Standpunkt, der an die Stelle des Proletariats getreten ist. Es ist der Standpunkt des modernen, kleinen Mannes eben, der Tag für Tag von den Medien bedient wird. Seine Unzufriedenheit wird von den diversen Kleinformaten wie Kronen Zeitung, Österreich, usw. endlos mit Nahrung versorgt.

 

Die andere Fassung, die es heute gibt, das sind die sozial Schwachen. Auch die sind zahlreich. Die Ungemütlichkeiten eines modernen Arbeitnehmerlebens finden daneben zwar nicht viel Interesse, werden aber auch nicht verheimlicht. Die „sozial Schwachen“, die gibt es, das sagen Politik und Sozialwissenschaft, das sagt unsere Gesellschaft über sich selbst. Unter verschiedensten Rubriken wird darüber informiert, wie der moderne Arbeitsalltag seine Leute verschleißt, und wie schlecht mit einem unter- bis durchschnittlichen Einkommen auszukommen ist. Armut, Verwahrlosung, Not und Lebenskampf unter den „sozial Schwachen“ sind nicht zusammen mit dem Proletariat ausgestorben. Die demokratischen Medien, die nichts verschweigen, berichten von freien Arbeitnehmern, die flexibel zwischen Tag-, Nacht- und Schichtarbeit, Überstunden und Unterbeschäftigung wechseln; von "working poor", denen ihr mit redlicher Arbeit verdientes Geld nicht einmal für einen minimalen Lebensunterhalt reicht. Sie wissen auch von normal verdienenden Familienvätern, die gleich in die Armut abstürzen, wenn sie sich unvorsichtigerweise ein paar Kinder leisten; andere hängen dauerhaft in der Schuldnerberatung, weil sie sich sonst etwas geleistet haben. Ein Sittenbild der unauffälligen Verelendung, der mit guten Werken beizuspringen sei, wird dem großen Publikum allweihnachtlich präsentiert.

An Material, um am modernen Arbeitnehmer etliche zählebige Ausstattungsmerkmale des Proletariats aufzufinden, das doch gleichzeitig seit Jahrzehnten niemand mehr gesehen haben will, fehlt es nicht. Was kein Wunder ist, denn


c) die politökonomische Position der „Lohnarbeit“ ist ja nicht aufgehoben worden.

 

Wie seit 200 Jahren arbeitet die Masse der Leute unter dem Kommando von Eigentümern bzw. deren Funktionären und vermehrt gegen ein von denen durchkalkuliertes und für lohnend befundenes Entgelt deren Eigentum. Was sich bei aller Verwandlung des Proletariers zum Bürger überhaupt nicht verändert hat, ist, dass der Lohn die negative Größe der Wirtschaft ist. Den Lohn zu erwirtschaften, ist nicht Zweck der Unternehmen. Lohnarbeiter dürfen die für ihren Lebensunterhalt notwendige Arbeit nur unter der Voraussetzung verrichten, dass sie nicht nur ihre Lebensmittel erwirtschaften, sondern darüber hinaus das Vermögen derer vergrößern, denen die Produktionsmittel gehören. Der Lohn ist Kost, der Kostenfaktor Arbeit verringert in dem Maße, in dem er kostet, den Betriebserfolg und der Standpunkt dieses Betriebserfolgs verlangt es heute wie früher, die Leute, die die Arbeit machen, möglichst niedrig zu entlohnen und dabei möglichst lang und ausgiebig auszunutzen. Entsprechend mickrig sieht ihre Entlohnung aus, entsprechend unsicher ist und bleibt das Einkommen, das sie durch die Produktion des Reichtums in fremder Hand erzielen. Dass der Lohnabhängige davon leben muss, weil er keine andere Einkommensquelle hat, ist sein Problem. Bezahlt wird der Lohn nicht, damit der Arbeiter seine Ernährungsprobleme abwickelt. Die Bezahlung orientiert sich am Bedarf des Unternehmens, und das heißt, wenn er heute jemanden braucht, nimmt er ihn, wenn morgen nicht, wirft man ihn wieder raus. Der Bedarf auf Seiten des Arbeitnehmers bleibt zwar erhalten. Der Lohn fällt aber aus, weil der Bedarf des Unternehmers wegfällt. Das Kriterium der Lohnzahlung ist rücksichtslos gegen den Zweck Lebensunterhalt für den, der die Arbeit macht und seinen Lohn braucht. Daran hat sich nichts geändert.

Dennoch ist von einem Proletariat und seinem Kampf um die Aufhebung der benachteiligten Situation heutzutage nichts mehr zu sehen. Diese Karriere ist zu Ende. Aber nicht dadurch, dass die politökonomische Position "Lohnarbeit", abhängig Beschäftigter, aufgehoben worden wäre, sondern dadurch, dass das Proletariat seine eigene Lage nicht mehr für einen Skandal hält und niemand in der Gesellschaft sich deswegen mehr vor ihm fürchten muss.

 

Damit kommen wir zum zweiten Punkt.

 

2. Was ist heute tatsächlich anders als zu Zeiten des Manchester-Kapitalismus?

 

Worin besteht der Fortschritt des 20.Jhdts.? Am Beginn des 20.Jhdts. stehen Arbeiterparteien, die den Umsturz suchen, die irgendwelche Formen des Sozialismus für nötig gehalten haben. Der große Unterschied heute ist, dass die bürgerliche Gesellschaft den Gegensatz der Arbeiterklasse zum kapitalistischen Gemeinwesen losgeworden ist. Wodurch?

 

Die ersten Proletarier, die sich zum Kämpfen aufgerafft haben, haben dies getan, weil sie sich von den Löhnen, die die damaligen Unternehmer – die Schlotbarone, die Junker– gezahlt haben, nicht ernähren konnten. Dass sie sich in ihrer Gesamtheit tatsächlich nicht über Wasser halten konnten, hatte seinen Grund 1.in der Niedrigkeit der Löhne, 2. in der Länge des Arbeitstages und 3. darin, dass der Lohn nicht für den Lebensunterhalt bezahlt wird, für den der Lohnarbeiter die Arbeit verrichtet. Der Lohnarbeiter braucht den Lohn, um davon leben zu können, aber bezahlt wird der Lohn nach einem völlig anderen Kriterium als danach, ob der Mensch davon leben kann. Bezahlt wird er – wie schon erwähnt – nach dem Gesichtspunkt, ob und wieviel Arbeit ein Unternehmer gerade brauchen kann und zu welchem möglichst niedrigem Preis man die Arbeit kriegen kann. Am Grund der Lohnzahlung hat sich seit den Tagen des berüchtigten Manchester-Kapitalismus nichts geändert. Die Rücksichtslosigkeit dieses Kriteriums der Lohnzahlung gegen den Zweck Lebensunterhalt für den, der die Arbeit verrichtet, zu sein, haben die Unternehmer damals so radikal in Anschlag gebracht – Hungerlöhne, 16 Stunden Arbeitstage und mehr – dass die Arbeiterschaft tatsächlich vom Lohn nicht leben konnte, sich nicht erhalten konnte, schon nach wenigen Jahren vernutzt gewesen ist. Dagegen habe sich die damaligen Proletarier zur Wehr gesetzt und bekamen es bei diesen ersten Kämpfen sofort mit dem Staat zu tun. Er hat ihre Gegenwehr unterbunden.

 

Die Feindseligkeit des Staates haben sich die Arbeiter damit erklärt, dass er der Staat der Schlotbarone – kurz der Unternehmer – ist und dann darum gekämpft, dass der Staat auch sie als Bürger anerkennt und die Erfordernisse ihrer Einkommensquelle genauso rechtlich schützt wie die der Grundherren und Fabriksbesitzer. Die eigene Erwerbsquelle – Lohnarbeit – haben sie nicht in Frage gestellt, sondern auf sie gesetzt. Sie haben sich nicht daran gestoßen, dass die Ordnung, der sie unterworfen sind, eine Ordnung der Gewalt ist und Gewalt braucht, sondern wollten, dass diese Gewalt auch für sie tätig ist. Ihr großes Projekt war, eine Stimme beim Staat zu kriegen, beim Staat Gehör zu finden, sich den Staat gewogen zu machen – das war dann der Ruf nach allgemeinem Wahlrecht, nach Demokratie. Die Staatsmacht soll alles Mögliche dafür tun, dass die Lohnarbeit auch eine ehrenwerte bürgerliche Erwerbsquelle ist.

 

Das wurde tatsächlich erreicht. Die politische Emanzipation der Arbeiterklasse hat stattgefunden. Anders als im 19.Jhdt. ist die Arbeiterschaft nicht mehr eine rechtlose, außerhalb der Gesellschaft stehende Unterschicht, der ein Staat der Unternehmer gegenübersteht, ein Staat der Grundherren, der Fabrikherren. Der Staat ist inzwischen zu einem Staat aller Bürger geworden und hat den Arbeiterstand als einen ehrenwerten Stand, der genauso Bürger ist wie die anderen, anerkannt. Er hat Rechte – ist wahlberechtigt, seine Erwerbsquelle, die Lohnarbeit, genießt wie die anderen Erwerbsquellen auch Rechtschutz.

 

Die Staatsmacht hat das nicht aus Menschenliebe oder demokratischen Überzeugungen oder Mitleid mit dem armen Proletariat gemacht. Sie hat dies aus der Einsicht gemacht, dass diese Wirtschaft nicht florieren kann, dass die Gewinne nicht auf Dauer sprudeln können, wenn der Ruin der Arbeiterklasse nicht aufhört. Wenn also das Gemeinwesen die Rolle, die das Proletariat spielt und die es im Grunde nicht verträgt, nicht so modifiziert, dass die Sache aushaltbar wird. Der Geschichte hat sich der Staat angenommen und hat den Arbeiter zum Bürger gemacht und ihn mit Rechten versehen. Das ist die eine Seite.

 

Die andere Seite ist, dass die Anerkennung der Arbeiterschaft als ehrenwerter Stand, als Bürger mit Rechten, die juristische Lage verbessert hat, aber nicht ihre ökonomische Lage, die Rechte haben den Arbeiter nicht ernährt. Der Lebensunfähigkeit dieser Klasse hat sich der Staat gesondert angenommen mit dem, was man als Sozialstaat kennt.

 

Der Staat kümmert sich um die notwendigen, also immer wieder in jedem individuellen Arbeiterleben eintretenden Notlagen und richtet Versicherungen ein, mit denen für die Phasen vorgesorgt wird, in denen der Arbeiter, der ja ein Besitzloser ist, nichts verdient, also sofort in der Gosse landen würde, wenn für ihn nicht für die Phasen des Nicht-Verdienens vorgesorgt würde. Das ist der Kern dessen, was man Sozialstaat nennt und gilt als große Errungenschaft. Beim Lob des Sozialstaats muss man aber im Auge behalten, dass diese große Tat des Sozialstaats, für die Reproduktion, für die Überlebensfähigkeit der Lohnarbeiter zu sorgen, in gar keiner Weise ein Geschenk an diese Klasse ist. Wie schaut denn die Vorsorge aus, die da geleistet wird? Der Staat gewährt doch gar nichts, er schenkt den Proletariern keinen Euro, keinen Cent. Der Staat hat der proletarischen Klasse mit der Einrichtung von Sozialversicherungskassen kein Geld geschenkt, sondern geliehen hat der Staat diesem Kollektiv eigentlich nur seine Gewalt. Mit der hat er es gezwungen, in Zwangskassen einzuzahlen. Vom Lohn, den sie kassieren, werden ihnen Beiträge abgezogen, um den Lohn, der an und für sich nicht zum Lebensunterhalt taugt, durch Zwangsbewirtschaftung für die Gesamtheit dieses Kollektivs dann doch dafür tauglich zu machen. Jeder kriegt bedeutende Abzüge vom Lohn, mit denen die Kranken-, Arbeitslosen- und Pensionsversicherungskassen bestückt werden, damit die notwendig eintretenden Phasen der Erwerbslosigkeit dann aus den Staatskassen überbrückt werden. Der Staat zwingt das Kollektiv zu einer Solidarität innerhalb der Klasse, indem nämlich immer die Kranken die Gesunden, die Beschäftigten die Arbeitslosen, die Jungen die Pensionisten miternähren. Diese Vorsorge wird diesem Kollektiv durch Zwang abverlangt, weil man weiß, wenn man es ihnen freiwillig überließe, dann würde diese Vorsorge nicht stattfinden, dazu reicht der Lohn nämlich nicht.

 

Also der große Fortschritt des 20.Jhdts. – die Sozialkassen – ist ein einziger Fortschritt in Sachen staatlicher Zwang oder quasi Zwangssozialisierung des Lohns zu Gunsten der Funktion des Lohns, nämlich das Überleben der Klasse zu gewährleisten.

 

Diese erzwungene Vorsorge verallgemeinert die Knappheit in dem gesamten Kollektiv. Damit stiftet der Sozialstaat, der den Proletarier, der dem Kapitalisten gegenübergestanden ist, abschafft, lauter neue Feindseligkeiten und Neidobjekte. Lauter neue Streits und Konflikte, nun aber innerhalb der Klasse. Heutzutage liest man in den Zeitungen die Jungen beuten die Alten aus. Wenn es um die Wirtschaft geht, ist hierzulande von Ausbeutung nicht mehr die Rede – das kann man sich höchstens noch in Fällen von Kinderarbeit in Indien oder Afrika vorstellen. Ansonsten hat Lohn und Ausbeutung nichts miteinander zu tun. Abgesehen von diesem Feld ist man mit dem Wort Ausbeutung schnell bei der Hand. Dass die Alten die Jungen ausbeuten, dass leuchtet sofort ein. Und wodurch beuten sie die aus? Dadurch, dass sie die längst abgesenkten Pensionen kassieren, während die Jungen tatsächlich noch einmal eine Beitragserhöhung zugemutet kriegen. Die Kranken beuten die Gesunden aus – wodurch? Wer zum Arzt geht und sich eine zweite und dritte Diagnose holt, weil er Angst hat, es sei was übersehen worden, ist sofort mit dem Vorwurf konfrontiert, er reitet auf der Solidargesellschaft. Er missbraucht die Gesundheitskasse, die ja für so viel gar nicht zur Verfügung stehen kann. Die Arbeitslosen sind die Drückeberger, die die Arbeitenden ausbeuten.

 

An die Stelle des alten Gegensatzes zwischen der Arbeiterklasse und den Kapitalisten treten lauter neue Gegensätze, aber innerhalb der Klasse. Die eigene Lage bzw. das Schlechte der eigenen Lage wird immer nur den anderen aus derselben Klasse angelastet.

 

3.Was bedeutet der Kampf um Arbeiterrechte als Antwort auf das System der Lohnarbeit?

 

Kampf um Rechte heißt, die Organisation der Arbeiterschaft – einer Belegschaft, meistens der gesamten nationalen Arbeiterschaft – tritt an den Staat heran und verlangt von ihm, er solle der Freiheit der Unternehmer Grenzen setzen und damit Schutzbestimmungen für die Lohnabhängigen durchsetzen. Das ist passiert, der Kampf um Rechte war erfolgreich, gar kein Zweifel, der Staat hat entsprechende Gesetze erlassen, die den Arbeiter zu einem in jeder Hinsicht berechtigten Wesen gemacht haben.

 

Worin bestehen diese Rechte? Z.B. in der Begrenzung des Arbeitstages, es gibt eine gesetzliche Festlegung der normalen und höchstzulässigen Arbeitszeit. Es gibt eine gesetzliche Pflicht, dass Urlaub gewährt werden muss. Es gibt die gesetzliche Pflicht, dass der versprochene Lohn auch bezahlt werden muss. Es gibt gesetzliche Auflagen den Arbeitnehmerschutz betreffend. All das ist wirklich erreicht worden.

 

Es ist nur so, dass die Sache einen Haken hat. Die Abhängigkeit der lohnarbeitenden Menschen von dem Unternehmer, der mit ihrer Arbeit sein Eigentum vermehren will, einen Gewinn machen kann und will, ist durch die gewährten Rechte nicht beseitigt worden. Wenn die Abhängigkeit nicht beseitigt wird, – und die wird natürlich nicht beseitigt durch irgendwelche Rechte, die der Arbeiter in diesem Verhältnis genießen soll –, dann sind die mit den Rechten beglückten Menschen immer vor die Wahl gestellt, ob sie sich eigentlich nicht schädigen, wenn sie ihre Rechte in Anspruch nehmen wollen. Wer immerzu Überstunden verweigert, der empfiehlt sich nicht bei seinem Chef. Bei der nächsten Kündigungswelle ist die Frage, wer zu den Leistungsträgern im Betrieb gehört und wer zu denen, die immer zu sehr auf ihre Rechte schauen. Wer heute in einem Betrieb ist und sagt: „Ich darf Überstunden ab der 10. verweigern.“, wer die Bezahlung der geleisteten Überstunden vom Arbeitgeber einfordert, die Frau, die unter Berufung auf das Gleichbehandlungsgesetz auf ihr Recht auf Gleichbehandlung pocht, wer in den Krankenstand geht – sie alle müssen die Abhängigkeit von ihrem Unternehmen fürchten, für das sie durch die Inanspruchnahme ihrer Rechte ja unattraktiv werden. Weil die Rechte an der Abhängigkeit gar nichts ändern, entpuppen sich diese Rechte als etwas, was tatsächlich gar nicht eingeklagt werden kann.

 

Es gibt in der Volkswirtschaftslehre und inzwischen längst in der politischen Debatte Vertreter, die mit größter Selbstverständlichkeit den ungeheuerlichsten Zynismus vertreten, der nämlich sagt, jedes Schutzrecht der Arbeiter ist bloß eine Diskriminierung dieses jeweils geschützten Teils der Arbeiterschaft auf dem Arbeitsmarkt. Wenn Frauen Mutterschaftsurlaub kriegen, dann werden sie weniger eingestellt. Und wenn sie eingestellt werden, dann kriegen sie weniger Geld gezahlt. Wenn die Alten Kündigungsschutz genießen, dann stellt sie keiner mehr ein. Inzwischen gilt richtig der Satz, Arbeiter kann man durch Rechte gar nicht schützen. Denn wer sie zu schützen versucht, schädigt sie bloß. Der Satz ist zynisch, wenn man ihn vom Katheter eines Volkswirtschaftslehrers an der Universität hört. Nimmt man ihn nach der Seite seiner Wahrheit hin, dann muss man sagen, ja so furchtbar ist es.

 

4.Wohin führt der gewerkschaftliche Kampf um Lohn?

 

Die Gewerkschaft ist – wie es früher hieß – die Kampforganisation der Arbeiterklasse. Sie ist der Zusammenschluss der Arbeiter, die nur durch kollektive Arbeitsverweigerung überhaupt zu so etwas wie einem Vertragspartner gegenüber der Macht des Eigentums, gegenüber der Macht der Fabrikherren geworden ist und werden konnte, weil jeder einzelne Arbeiter für sich absolut wehrlos ist und in jedem Fall immer nur nehmen muss, was die andere Seite hergibt. Sie mussten sich zusammenschließen, um Druck auszuüben. Als Gewerkschaften gegründet wurden, war jedem, der beitritt, klar, dass sie nur durch Kampf ihre Lage korrigieren können.

 

Der Kampf hatte allerdings immer die eigene Erwerbsquelle zum positiven Ausgangspunkt. Was den Zweck, den sie bei ihrem Kampf verfolgten, betrifft, hat schon Marx in seiner Schrift „Lohn, Preis und Profit“ auf einen Fehler von Gewerkschaften wie folgt hingewiesen:

 

Gewerkschaften tun gute Dienste als Sammelpunkte des Widerstands gegen die Gewalttaten des Kapitals. Sie verfehlen ihren Zweck zum Teil, sobald sie von ihrer Macht einen unsachgemäßen Gebrauch machen. Sie verfehlen ihren Zweck gänzlich, sobald sie sich darauf beschränken, einen Kleinkrieg gegen die Wirkungen des bestehenden Systems zu führen, statt gleichzeitig zu versuchen, es zu ändern, statt ihre organisierten Kräfte zu gebrauchen als einen Hebel zur schließlichen Befreiung der Arbeiterklasse, d.h. zur endgültigen Abschaffung des Lohnsystems.“

 

Genau das, was Marx schon damals als Verfehlung ihres Zwecks bezeichnet hat, haben Gewerkschaften getan. Gewerkschaften wurden gegründet als Gegenwehr gegenüber der Macht des Kapitals, Arbeit für sich verrichten zu lassen, damit der Unternehmer einen Gewinn hat und dafür den Arbeiter zu vernutzen. Vernutzen in jeder Hinsicht – schlecht bezahlen und ewig lang arbeiten lassen. Dieses feindliche Interesse wollten die Gewerkschaften aber in dem Sinn nie loswerden, sie wollten das nie beseitigen, sondern sie haben gegen die Überlebensunfähigkeit der Arbeiterschaft für die Lohnarbeit als Lebensmittel gekämpft. Mit Lohnarbeit sollte ein Überleben doch gehen, das war ihr Anliegen.

 

Statt des konservativen Mottos „Ein gerechter Lohn für ein gerechtes Tagewerk!“ sollte sie (die Arbeiterklasse) auf ihr Banner die revolutionäre Losung schreiben: „Nieder mit dem Lohnsystem!““

 

schreibt Marx weiter. Genau das haben sie nicht getan. Es war ein Kampf für die Lohnarbeit als Lebensmittel. „Ein gerechter Lohn für ein gerechtes Tagwerk“ – war ihre große Parole. Darin steckt die Klage, uns wird der gerechte Lohn vorenthalten. Aber dass man gar nichts anderes will als gerechten Lohn für den Dienst, den man an der Bereicherung der anderen Seite tut, das steckt ebenfalls in dieser Forderung drin. Weniger Arbeitsstunden, höhere Löhne und dann würde das Verhältnis doch passen.

 

In dem Sinn haben die Gewerkschaften ihre Mitglieder in Kämpfe geführt und darüber auch erzogen. Kämpfe, denen von Anfang an die Rücksichtslosigkeit, die es braucht, um einen gegensätzlichen, einen feindlichen Willen zu brechen, abging und abgehen musste, weil der gewerkschaftliche Kampf ja für das paradoxe Ziel geführt wird, das Abhängigkeitsverhältnis vom Unternehmer nach Ende der Auseinandersetzung wieder fortzuführen. Sie wollten ja das Verhältnis nicht beseitigen, dann durften sie aber auch den Gegner nicht wirklich schädigen. Denn sein Geschäft sollte ja funktionieren, damit er wieder Nachfrage nach Arbeit ausüben kann. Und in dieser Klemme war die gewerkschaftliche Gegenwehr eigentlich von Anfang an.

 

Ihr Kampf hatte immer das Ziel des Kompromisses mit der anderen Seite. Und das ist ein eigentümliches Ziel. Da tritt die eine Seite in den Kampf mit ihrem Interesse ein und die andere Seite tritt in den Kampf mit dem Interesse an einem Kompromiss zwischen dem eigenen und dem fremden an. Die Unternehmerseite bringt die nötige Härte auf. Wenn sich Unternehmer sicher sind, dass sie schon genug arbeitslose Hungerleider finden, die sie anstelle der Belegschaften einstellen können, die zum Streik entschlossen sind, dann schmeißen sie die ganze Belegschaft raus und nehmen eine neue. Aber die Gewerkschaftsseite hat den Standpunkt, den anderen Willen brechen, dem anderen seine Mittel wegnehmen, eigentlich nie haben können. Und sie hat auch den Zweck nie gehabt, die Macht der anderen Seite zu brechen. Sondern sie hat den Zweck, die andere Seite zu einem Kompromiss zu veranlassen.

 

Gewerkschaften kämpfen nicht für das Interesse wie die Unternehmerpartei für ihr Interesse kämpft, sondern suchen den Ausgleich. Sie vertreten das Ideal der Vereinbarkeit von Lohn und Gewinnmaximierung. Und deswegen sind die Gewerkschaften die Partei, die immerzu nicht gegen den Profit, sondern gegen den überhöhten Profit, gegen den Maximalprofit ist. Sie sind Feinde der Unternehmerwillkür – und da hört man raus, dem Beruf des Unternehmers, aus einem Kapitalvorschuss einen Überschuss zu machen, dem setzen sie keinen Protest entgegen. Sie machen einen Unterschied zwischen der Unternehmertätigkeit, die sie billigen, und der, die sie dann für Willkür halten. Und da merkt man, wenn man gegen die Willkür des Unternehmers ist, dann ist damit unterstellt, man tritt fürs Geschäft des Unternehmers ein, soweit es notwendig ist.

 

Wer den Standpunkt vertritt, dass er die Erwerbsquelle Lohnarbeit zum brauchbaren Lebensmittel machen will, die Unternehmer zum Kompromiss bewegen will, den unnötigen Profit bekämpfen will, der wird in den eigenen Reihen zum Verteidiger des notwendigen Geschäfts. Je mehr sich die Gewerkschaften in der bürgerlichen Welt etablieren konnten, desto mehr sind sie gegenüber ihren eigenen Mitgliedern zu den Agenten der Abhängigkeit geworden und gar nicht mehr zum Agenten des Gegensatzes gegen den Unternehmer.

 

Und je mehr der Fortschritt des Kapitals und seiner Produktivität die guten Proletarier mit ihrer nunmehr geschützten Erwerbsquelle überflüssig machen, Arbeitslose produzieren, desto mehr wird die Kampforganisation der Lohnarbeiter zu einer Partei, die überhaupt nur mehr nach „Beschäftigung“ ruft. Über den Ruf nach Beschäftigung übernimmt sie Schritt für Schritt die Rolle der Gegenseite. Damit Beschäftigung möglich ist, müssen die Gewinne stimmen, muss mehr Wachstum in Österreich sein, muss die internationale Konkurrenzfähigkeit aufgehen.

 

Weil sie die Abhängigkeit akzeptiert hat, also immer mit der Frage befasst ist, wieviel Berücksichtigung der eigenen Mitgliedschaft möglich ist, ohne den großen Zweck der nationalen Wirtschaft, von dem wir alle abhängen, zu beschädigen, ist sie damit befasst, der Unternehmerkalkulation eine bessere eigene Kalkulation entgegen zu setzen. Gewerkschafter werden zu besseren Betriebsstrategen, besseren alternativen Managern. Wenn der Vorwurf Missmanagement laut wird, wird behauptet, Entlassungen kommen zustande, nicht weil es in der Logik des Betriebs liegt, Leute zu entlassen, sondern weil die Manager ihr Geschäft nicht gekonnt haben.

 

So vertreten Gewerkschaften heute die richtige Wachstumspolitik, die richtige Konjunkturpolitik, die richtige Standortpolitik für Österreich und machen sich unter dem Titel „Beschäftigung vermehren“ eigentlich unmittelbar den Zweck der Unternehmerschaft, nämlich höhere Gewinne zum Anliegen. Damit mehr Beschäftigung möglich ist, entdecken Gewerkschafter oder lassen sich zumindest einleuchten, dass all das, was sie bisher erkämpft haben, ein Hindernis für mehr wirtschaftliche Dynamik ist und werden so zum Vertreter des Abbaus von dem, was sie einst für nötig befunden haben.

 

5. Wie steht der moderne Arbeiter nach 100 Jahren politischer Emanzipation, nach seiner Verwandlung zum Bürger da?

 

Der Proletarier, der außerhalb der Gesellschaft steht, sich als Feind der Besitzenden weiß, der ist verschwunden. Die Arbeiterklasse hat sich integriert. Sie hat das Bewusstsein aufgegeben, dass die zahllosen unglücklichen Einzelschicksale aus ihren Reihen einen gemeinsamen Grund haben, und dass die vielfältigen Lebenslagen, in denen sich Lohnabhängige befinden, auf eine gemeinsame Klassenlage und einen gemeinsamen Gegensatz zu den Eigentümern der Produktionsmittel zurückgehen. Für diesen Fortschritt war vieles nötig. Vor allem hat der Staat sich und seinen Aufgabenkatalog ändern müssen, damit sich die Rechnungsweise des Kapitals und sein freier Gebrauch der Arbeit nicht ändern mussten. Der Arbeiter ist als Bürger anerkannt worden, seine Erwerbsquelle genießt Rechtsschutz. Für die Notlagen der Arbeiterklasse ist Vorsorge getroffen.

 

Inzwischen werden die proletarischen Lebensumstände umfassend staatlich verwaltet. Mit all den Rechten und Vertretungsorganen und staatlichen Zwangskassen ist der moderne Proletarier dermaßen verwaltet wie vielleicht in der Geschichte Menschen überhaupt noch nie verwaltet gewesen sind. Seine Lebensinteressen sind offiziell geworden und aufgeteilt worden in fromme Wünsche – träumen darf jeder und dafür gibt es das Lotto und das Fernsehen – und berechtigte Ansprüche, die gelten. Die Ansprüche, die reichen gerade so weit wie die Gesetzgebung, die abgeschlossenen Kollektivverträge es halt immer gerade sagen.

 

Der Satz, der Lohnarbeiter ist eine unselbständige Existenz, er ist eine abhängige Größe vom Geschäftsgang, der Satz kriegt jetzt eine neue Bedeutung. So unselbständig wie die Menschen heute waren sie überhaupt noch nie. Nämlich alles, worum es ihnen geht, ist von anderen verwaltet und geregelt. Wenn einem heute etwas nicht mehr passt, wird er automatisch auf den Instanzenweg verwiesen. Ihm wird gesagt, für alle deine Probleme ist, sofern sie berechtigte Ansprüche sind, schon vorgesorgt. Sagt einer tatsächlich „Mir reicht mein Lohn nicht“, dann wird das automatisch übersetzt in: Ja vielleicht bist du in die falsche Lohngruppe eingruppiert, dann musst du dich an den Betriebsrat wenden, der rechnet das nach. Bist du wirklich falsch eingruppiert, kannst du mehr Lohn kriegen. Bist du nicht falsch eingruppiert, tut uns leid, dann war dein Antrag umsonst ... dann hast du dich getäuscht. Oder: Du hast zu wenig Lohn? Ja geh in die Abendschule und verbessere deine Qualifikationen! Mach einen zweiten Job! Es gibt auch Nebenjobs, die man annehmen kann. Oder: Tatsächlich, du meinst der Lohn überhaupt ist zu niedrig? Bitte dann wende dich an deine Gewerkschaft! Die sagt dir einmal im Jahr, was die korrekte, verantwortliche Lohnfindung ist.

 

Das Proletariat ist durch die politische Emanzipation, durch die Anerkennung als Stand, durch die Anerkennung, dass auch ihre Erwerbsquelle Rechtsschutz braucht, komplett integriert. Es ist in jeder Hinsicht seiner Lebenslagen mit Rechten ausgestattet, aber auch durch Rechte in seinen Ansprüchen festgelegt. Mit all dieser rechtlichen Regelungen sind die Leute hundertprozentig auf die gesellschaftliche Rolle festgelegt, die sie zu spielen haben.

 

6. Was bringt dem Arbeiter die Eingliederung in die Gesellschaft?

 

In den letzten 30 Jahren ist folgendes zu beobachten. Die Arbeiterklasse ist integriert. Die Arbeiterparteien sind verschwunden. Gewerkschaften sehen sich heute vor allem als Dienstleistungsunternehmen für ihre Mitglieder mit Rechtsberatung, Rechtsvertretung und nicht als Kampforganisation ihrer Mitglieder gegen die Macht der Unternehmer. Von unten droht dieser Gesellschaft kein Aufruhr, kein Widerstand, keine Opposition mehr.

 

Und was machen sie derweil von oben, wo sie jetzt ja zufrieden sein könnten, dass das Proletariat funktioniert? Sie demontierten Zug um Zug die sogenannten Errungenschaften und die Konzessionen, die an den rebellischen Stand gemacht worden sind. Die Rücksicht, die die Arbeiterklasse einmal erfahren hat, weil sie einmal außerhalb der Gesellschaft, ein sie bedrohender Stand gewesen ist, diese Rücksicht wird demontiert. Heute haben wir die Situation, dass man gesagt kriegt, Arbeitszeiten sind zu kurz, Ruhezeiten zu lang, die Pensionen sind nicht mehr finanzierbar, die Krankenversorgung wie bisher gekannt, ist nicht mehr finanzierbar. Auf einmal, nachdem die Produktivität der Arbeit ums tausendfache gestiegen ist, nachdem viel weniger Leute viel mehr materiellen Reichtum schaffen, nachdem es materiell, gebrauchswertmäßig gesehen von allem viel, viel mehr gibt, soll heute nicht mehr finanzierbar sein, was damals ging.

 

Darin zeigt sich, wie funktional die ganze Anerkennung der sozialen Frage im 19. Und 20.Jhdt. gewesen ist. Wenn aller Widerstandswille erlahmt ist, dann entdeckt man Einrichtungen, die man getroffen hat, um die Integration der Arbeiterklasse zu bewirken, als ziemlich kostentreibende Dinger, bei denen man sich fragt, ob sie nicht unnötiger Luxus sind, die man heute längst unter dem Gesichtspunkt einer eingerissenen Überversorgung kritisiert. Daran kann man erkennen, die ganzen Konzessionen waren eben nicht als Beteiligung, als Korrektur des Kapitalismus gedacht, sondern wirklich nur zu seiner Perfektionierung.

 

Schlusssatz - Resümee:

 

Lohnarbeiter fahren heutzutage mit Autos zur Arbeit, bedienen dort Maschinen, von denen das 19. Jahrhundert sich noch nichts hat träumen lassen, bekommen ihr Entgelt aufs Girokonto überwiesen, sind sozial- und lebensversichert, genießen politische Rechte, die einstmals den Besitzenden vorbehalten waren, und legen weit mehr National- als Klassenbewusstsein an den Tag. Ja – Der Wandel ist wirklich nicht zu übersehen.

 

Aber – und dafür wollten wir in unserer heutigen Sendung ein paar Argumente vorbringen –

·         alle epochemachenden Verbesserungen in der Lage der arbeitenden Klasse haben nicht den Kapitalismus an die Lebensbedürfnisse seiner Insassen angepasst, sondern umgekehrt das Leben der Lohnabhängigen bis in deren Bedürfnisnatur hinein an die Bedarfslage „der Wirtschaft“ und an die Ansprüche der Staatsgewalt, die darüber Regie führt.

·         Das für alle aufgeklärten Beobachter des sozialen Geschehens feststehende Ende der proletarischen Klasse dokumentiert nichts anderes als deren Vollendung, nämlich die totale Subsumtion der Klasse unter ihren kapitalistischen Lebenszweck.

 

Wer an einer ausführlichen Antwort auf die in dieser Sendung aufgeworfenen Fragen interessiert ist, dem empfehlen wir das im Jahr 2002 im Gegenstandpunkt-Verlag erschienene Buch „Das Proletariat“ von Peter Decker und Konrad Hecker - https://de.gegenstandpunkt.com/publikationen/buchangebot/proletariat