Sex,Liebe,Familie:Die Rolle der Privatsphäre im Kapitalismus

Im Unterschied zu früheren Zeiten darf heutzutage jeder lieben, wen er will. Selbst die „Lebensentwürfe“ sind vielfältig geworden, homosexuelle treten neben heterosexuelle Partnerschaften, und manch einer bleibt gerne Single. Wie die Menschen ihrer Zuneigung folgen und der körperlichen Begierde Befriedigung verschaffen, darüber muss man niemanden mehr aufklären. Diese Aufklärung ist neben einem unüberschaubaren einschlägigen Warenangebot Bestandteil der öffentlichen Medien und des Kommerzes.

Das intimste aller Gefühle, zur heiligen Privatsphäre geadelt, die niemanden etwas angeht, ist in der bürgerlichen Welt allerdings zugleich Gegenstand von überragendem öffentlichen und sogar staatlichen Interesse. Liebesfreud und Liebesleid machen neunzig Prozent der Unterhaltung der Musik- und Filmbranche aus. Mitglieder aller Stände, Arme wie Reiche, genießen in Bild und Ton das ihnen vertraute Auf und Ab zwischen lustvoller Erwartung, erlebter Erfüllung und schmerzlicher Enttäuschung. Liebe, das ist für die Allermeisten nicht nur eine Sphäre neben vielen anderen, sondern die wichtigste überhaupt, an der sich Glück oder Scheitern im Leben entscheiden soll. Wärme, Geborgenheit und Anerkennung statt Kälte und Mobbing im wirtschaftlichen Existenzkampf der „Ellenbogengesellschaft“, so etwas versprechen sich die Menschen von ihrer Privatsphäre, in der sie „ihr eigener Herr“ sein und keinem fremden Kommando unterliegen wollen. Die Härten des Alltags einer Erwerbswelt von Konkurrenten mag niemand kritisieren; aber wer sie bereitwillig auf sich nimmt, will sie offenbar wenigstens kompensiert haben durch ein erfülltes Liebesleben.

Für die meisten geht die Rechnung nie auf. Ausgerechnet auf dem Feld der Liebe, wo die Leute ihr Glück suchen, erleiden sie auch ihre größten Niederlagen und heftigsten Schmerzen. Eifersuchtsdramen, Ehegefängnisse und Gewaltexzesse in der Familie sind nicht nur Stoff fürs Feuilleton, sondern auch die Justiz. Ihre verletzte Ehre, der Verstoß gegen vermeintliche Rechtsansprüche treibt nicht Wenige zur Gewalt gegen pflichtvergessene oder untreue Partner an, und aus den Liebenden von einst werden „Schlampen“ und „Versager“, die dem anderen die „besten Jahre seines Lebens“ gestohlen haben und dafür bestraft werden müssen.

Kapital und Staat, die den Menschen vom Lohn bis zur Pensionshöhe vieles aufnötigen, sind hier einmal nicht tätiger Urheber der Misere. Der Glücksanspruch wie seine traurige bis bösartige Verlaufsform im Betragen Liebender ist wirklich ganz deren eigenes Werk, und es stellt sich mit wie ohne Ehevertrag ein. Aber es folgt aus Einstellungen und Entgleisungen der Betreffenden, die ihren Grund im kapitalistischen System haben, an dem sie sich mit ihrem Glücksverlangen abarbeiten.

Liebe im Kapitalismus ist nicht Genuss ohne Reue neben der Konkurrenz um den Gelderwerb, sondern durch sie geprägt und für sie sogar systemrelevant. Entsprechend schäbig fällt sie aus. Das will diese Sendung zeigen.

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Lesetipp:„Die Psychologie des bürgerlichen Individuums“, Gegenstandpunkt-Verlag