GEGENARGUMENTE

Stichworte zur Pensionssenkungsreform und zum ÖGB

Die Pensionen: Ein demographisches Problem?

Die Regierung und ihr nach- oder vorausredende Wissenschaftler argumentieren gern mit der Bevölkerungsentwicklung, um die Notwendigkeit der Pensionssenkungsreform zu erläutern. Es handle sich um die demographische Lage, die unerbittliche Forderungen an die Politik stelle, gegen die man auch "nicht streiken" könne, denn es gäbe zuwenig "Junge", um die vielen "Alten" zu versorgen. Was ist davon zu halten? Jedenfalls liegt da ein ganzer Sack voller Ungereimtheiten vor:

Denn wenn es sich tatsächlich um ein demographisches Problem handelt, warum wird es dann nicht mit demographischen Mitteln gelöst? Falls nämlich tatsächlich irgendwo auf der Welt ein Mangel an Menschenmaterial vorliegt, werden durchaus Einwanderer oder wenigstens Arbeitskräfte im Ausland angeworben. Sogar Österreich bürgert bekanntlich Leute ein. Und Menschen gibt es ohnehin genug; in Form der Kennzeichnung als "Überbevölkerung" wird ihnen sogar nachgesagt, daß es zu viele von ihnen gibt. Als seinerzeit tatsächlich ein Mangel an Arbeitskräften geherrscht hat, sind dann auch sofort Gastarbeiter ins Land geholt worden. Damals in den 60er Jahren, als "die Wirtschaft" zuwenig "Junge" oder "Aktive" beklagte, ist sie keineswegs mit dem Hinweis auf die mangelnde Gebärfreudigkeit der Österreicher und auf die demographische Entwicklung abgespeist, sind die Betriebe nicht zum Engerschnallen des Gürtels aufgefordert worden.

Andererseits gibt es doch, wie auch wiederum jeder weiß, gar nicht zuwenig "Junge" und Arbeitswillige, sondern zuviel davon, in Gestalt der Arbeitslosigkeit nämlich. Hätten vor zwanzig und mehr Jahren die damals im gebärfähigen Alter befindlichen ÖsterreicherInnen die heutigen demographischen Schuldzuweisungen gekannt und durch erhöhte Wurfquoten von sich abgewendet, dann gäbe es heute eben noch mehr Arbeitslose, die auf die Arbeitslosenkasse angewiesen wären, und die keineswegs als Einzahler zur Pensionsfinanzierung beitragen. Im Hinblick auf die Pensionen wird behauptet, es gäbe zu wenige, aber gemessen am tatsächlich maßgeblichen Kriterium, gemessen am Bedarf an rentablen Arbeitskräften, gibt es zuviele Leute, die gern als "Aktive" etwas verdienen und damit auch Sozialversicherungsbeiträge zahlen würden. Schon eigenartig.

Wie viele Aktive wie viele Ausgemusterte versorgen können, das ist außerdem eine Frage der Produktivität der Arbeit, die in den Milchmädchenrechnungen der hochbezahlten Professoren gar nicht vorkommt – bald müßte ein "Aktiver" einen Pensionisten erhalten, was angeblich unmöglich ist. Im STANDARD vom 3. Juni hat ein Gewerkschaftssekretär daran erinnert, daß um das Jahr 1900 ein Bauer drei Konsumenten ernährt hat, während heute auf einen Landwirt achtzig oder mehr Verbraucher kommen. Und die Produktivität ist nicht nur in der Landwirtschaft gestiegen. In all den schönen Bilanzen über die gestiegene Lebenserwartung, durch die sich das Verhältnis von Aktiven zu Rentnern ständig zuungunsten der Aktiven verschlechtert, weil die Rentner so unverschämt lange leben – in all diesen Bilanzen fehlt in aller Regel völlig die doch entscheidende Angabe über die gestiegene Produktivität. Davon hängt doch ab, wie viele Leute eine aktive Arbeitskraft verköstigen kann. Diese Angabe fehlt andererseits aber durchaus zurecht, weil die Produktivität und ihre Steigerung im Kapitalismus nun einmal kein Mittel der besseren und leichteren Versorgung der Leute ist: Durch die tatsächlich stattfindenden Produktivitätssteigerungen, die "Rationalisierungen", werden Lohnkosten gespart, darüber sinken also automatisch die Pensionsbeiträge, es verschärft sich das Problem der Sozialkassen, die Versorgung der Rentner wird nicht leichter, sondern schwerer, denn es steht weniger für die Verbrauchten zur Verfügung. (Über der Produktivitätssteigerung in der Landwirtschaft sind auch nicht die Bauern reich, sondern durch "Landflucht" weniger geworden.)

Mit den Lohnkosten sind wir endlich weg von der Demographie und beim eigentlichen Thema: Die Rentner müssen hierzulande nämlich nicht von der vernünftig organisierten Arbeit der Aktiven leben – das wäre leicht! –, sondern sie müssen vom Lohn der Aktiven irgendwie mit-leben, und das wird in der Tat immer schwerer, weil die gesellschaftliche Lohnsumme nicht steigt oder sogar sinkt, was der bekannt vernünftigen österreichischen Gewerkschaft immer hoch angerechnet wird:

"Österreicher haben immer weniger im Geldbörsel ... Inflation und Abgaben fressen die schmalen Lohnzuwächse auf ... Quer durch alle Branchen steigen die Löhne heuer geringer als die Lebenshaltungskosten ... Die Unternehmen tauschen ältere Mitarbeiter gegen jüngere, billigere Arbeitskräfte aus." (KURIER 19. Juni 2003)

Außerdem sinkt der Gesamt-Lohn des Proletariats durch die wachsende Arbeitslosigkeit, indem immer weniger Leute rentable Arbeit leisten dürfen, und obendrein durch eine politisch im Interesse des Kapitalstandorts erwünschte Entwicklung der letzten Jahre: Gemeint sind die Lohnsenkungen, die durch die Umwandlung von früheren "Vollzeit"-Arbeitsplätzen in sogenannte "McJobs" passiert sind. Unter dem griffigen Titel "Vollzeit-Job stirbt aus" hat beispielsweise die "Sonntags-Rundschau" (ein oberösterreichisches Regionalblatt) vom 8. Juni diese Erfolge der Unternehmen bei der Kostensenkung beschrieben:

"Es wachsen so gut wie keine neuen Vollzeit-Jobs mehr nach. Seit 1994 gingen in OÖ 15.000 Vollzeit-Jobs verloren ... Im selben Zeitraum explodierte die Zahl der Teilzeit- und geringfügig Beschäftigten ... Jeder 5. Job in OÖ (110.000 von 530.000) ist eine Teilzeit/geringfügige Beschäftigung (18% bundesweit)." (Sonntags Rundschau der OÖ Rundschau, 8. Juni 2003)

Es liegt schon am Lohn und dessen Gesetzmäßigkeiten, diese sind ständig unterstellt, werden aber unter dem Stichwort "Demographie" völlig verfremdet und verfälscht abgehandelt, um einen quasi naturwüchsigen, pseudo-biologischen Sachzwang aufzumachen. Der Sozialstaat in all seinen Abteilungen, von den Kranken und Pflegebedürftigen über die Arbeitslosen bis zu den endgültig Verbrauchten, zeichnet sich durch eine Art "ehernes Lohngesetz" aus: Durch das Prinzip der Umverteilung des Lohns der Aktiven, wodurch auch die aktuell nicht und die nie mehr aktiv Beschäftigten vom Arbeitseinkommen der Aktiven zehren müssen. Dadurch ist sichergestellt, daß kein Geld für "Soziales" ausgegeben wird, das sich nicht vorher als Lohn bewährt hat, also als Mittel der Profitproduktion. Es handelt sich nicht um einen demographischen, sondern um einen polit-ökonomisch gewollten und eingerichteten Sachzwang: Wenn selbstverständlich ist, daß gar nicht der Staat für die Klasse der "sozial Schwachen" sorgt, sondern diese in ihrer Gesamtheit, als proletarisches Kollektiv, schon seit je zur "Eigenvorsorge" zwingt; wenn nur die proletarische Gesamt-Lohnsumme gestreckt und umgewälzt wird, um die Sozialkassen zu füllen; wenn dadurch genau dann, wenn der Lohn sinkt und damit die Ansprüche an diese Kassen zunehmen, zwangsläufig auch die Beiträge an diese Kassen sinken – dann und nur dann ist dieser politisch konstruierte Sachzwang zur Pensionssenkungsreform fertig, der so gern der Bevölkerung und ihrem Gebärverhalten angelastet wird.

Die wohlmeinenden Kritiker von attac: "Österreich wird doch immer reicher"!

Aber es gibt immerhin Leute, die kein demographisches, sondern ein Geldproblem orten, und die der Regierungspropaganda entschieden widersprechen, wie etwa das globalisierungskritische Netzwerk attac:

"Es ist absurd, davon zu reden, dass die Pensionen in Gefahr seien, während dessen Österreich jedes Jahr reicher und reicher wird. Der Regierungs-Pensionsklau hat mehr damit zu tun, dass dieser Reichtum nur mehr einer kleinen Minderheit in diesem Land zu Gute kommt: Die neoliberale Globalisierung zeigt sich von ihrer häßlichsten Seite. ... Seit 50 Jahren haben wir in Österreich kontinuierliches Wirtschaftswachstum, Vermögenswachstum, und Wachstum des statistischen Pro-Kopf-Einkommens. Wir werden also trotz aller Wirtschaftsturbulenzen noch immer jedes Jahr reicher und reicher. ... Trotzdem redet die Regierung davon, dass die Pensionen für breite Bevölkerungsschichten nicht gesichert seien, und sie will diese Pensionen erheblich zusammen kürzen. Das ist schlichtweg absurd. Wenn wir noch immer jedes Jahr reicher werden, haben die wackelnden Pensionen nicht damit zu tun, dass wir sie uns ‘nicht mehr leisten können’, sondern damit, dass der Reichtum nur mehr einer kleinen Minderheit in diesem Land zu Gute kommt. ... Die einzige Antwort der Regierung ist ‘weitermarschieren, bis alles in Scherben fällt’, und sie umgeht damit alle Möglichkeiten, uns an einer Lösung zu beteiligen. Damit gefährdet die Regierung auch unser höchstes Gut: die Demokratie." (http://www.attac-austria.org)

Leider taugen diese Einwände wenig, sie sind eher eine Ansammlung von fast schon peinlichen Gedankenlosigkeiten, weil die Leute von attac partout Österreich und die Österreicher nicht unterscheiden wollen, sondern Land, Leute und Wirtschaft unterschiedslos in ihrem nationalistischen "wir"-Gefühl ersäufen. Um mit dem Elementaren zu beginnen: Nein, bei der Pensionskürzungsreform ist nicht ein Gespenst, ein Pappkamerad, eine Schießbudenfigur, ein Sündenbock namens "die neoliberale Globalisierung" aktiv, das sich von seiner "häßlichsten Seite zeigt", sondern am Werk ist eine demokratisch gewählte Regierung, die sich auf eine parlamentarische Mehrheit stützt.

Zweitens: Wenn "wir" "trotz aller Wirtschaftsturbulenzen noch immer jedes Jahr reicher und reicher" würden, dann bräuchten "wir" doch gar keine staatliche Pension. Ausgangspunkt der bestehenden Pensionslage ist aber die harte Tatsache, daß ein normaler Mensch auch nach "45 Jahren harter Arbeit" eben nicht seinen Lebensunterhalt bis zu seinem Tod aus eigenen Mitteln bestreiten kann, er also durch Arbeit arm geblieben und nicht reich geworden ist, und deswegen eine Rente braucht.

Drittens hat es wenig mit Kritik und mehr mit Ignoranz zu tun, wenn attac "unseren" angeblichen Reichtum aus dem "kontinuierlichen Wirtschaftswachstum, Vermögenswachstum, und Wachstum des statistischen Pro-Kopf-Einkommens" herausrechnet. Eine demokratische Marktwirtschaft, ein Kapitalismus, eine moderne Klassengesellschaft – wie man des Ding auch nennen mag – ist nämlich nun einmal definitiv keine Kommune, in der alle Einkünfte in ein und denselben Topf geschmissen werden, aus dem "wir" alle dann "unsere" anfallenden Ausgaben bestreiten. Dagegen stellt man sich ignorant, wenn man einen statistischen Pro-Kopf-Reichtum ermittelt, den die wirklichen Köpfe leider gar nicht wirklich besitzen und nie besitzen werden – und sich dann wie attac ein wenig kindlich freut, über diese selbsterfundene Fiktion: "eigentlich-könnten-wir-doch-alle-reich-sein", statistisch und Pro-Kopf.

Viertens benennt attac sogar so etwas wie einen Grund dafür, warum der Pro-Kopf-Reichtum nur ein statistisches Hirngespinst ist. Immerhin ist die Rede davon, daß "der Reichtum nur mehr einer kleinen Minderheit in diesem Land zu Gute kommt", womit attac also die eigene vorherige Rechnung glücklich als Unsinn entlarvt, weil der Reichtum eben gar nicht für alle da ist, weswegen alle Additionen und Divisionen in Richtung Pro-Kopf-Reichtum schlicht und ergreifend gegenstandslos sind. Außerdem, kleine Zusatzbemerkung, ist das mit dem Reichtum für die Minderheit keine Neuerung seit der "Globalisierung", sondern das mit der Marktwirtschaft schon immer eingerichtete Benutzungsverhältnis von Arm und Reich: Wenn "wir" wenigstens 50 Jahre lang immer reicher geworden wären, dann wäre das Ende dieser "unserer" ständigen Bereicherung vor fünf oder zehn Jahren wohl auch zu verschmerzen.

Fünftens kommt es noch schlimmer. Macht denn nun attac den eigentlich fälligen nächsten Schritt zum Klassenkampf und fordert die "Expropriation" dieser "kleinen Minderheit", deren Enteignung? Wenn es denn so ist, daß die arbeitende Mehrheit von der Minderheit ausgebeutet wird, wäre das wohl fällig, oder nicht?! Stellt attac wenigstens halbwegs nüchtern die Frage, wie es dieser Minderheit gelingt, die große Mehrheit der Gesellschaft für den wachsenden Reichtum der Minderheit arbeiten zu lassen und welche Rolle der Schauplatz des Geschehens, der demokratische Staat, dabei spielt? Leider nicht. Das mit der "kleinen Minderheit", der Hinweis auf Nutznießer der Marktwirtschaft ist von attac geradezu konträr gemeint. Nämlich in radikalisierter Ignoranz so, daß dieser Zustand unmöglich der Sinn der Sache sein kann; weil Reichtum für die "Minderheit" und "Demokratie" in den Augen von attac und gegen jeden Augenschein einfach nicht zusammengehören kann und darf – so daß es sich nur um ein bedauerliches, zeitweiliges, leicht abzustellendes Mißgeschick handeln könne, zu dessen Behebung der Klassenkampf überflüssig ist, weil ohnehin der Veranstalter der Pensionssenkungsreform dazu aufgerufen ist, nämlich der demokratische Staat. Wie immer, wenn attac solche angeblichen "Mißstände" aufzeigt, werden also deren Gründe und Notwendigkeiten gar nicht ermittelt und kritisiert und bekämpft – vielmehr verleiht auf diese Weise das Netzwerk seinem ungläubigen Staunen über die Abgründe der modernen Welt Ausdruck: "Das darf doch gar nicht wahr sein!" "Das muß doch eigentlich nicht sein!" "Das paßt doch eigentlich nicht zu unserer Demokratie!" "Das kann doch unmöglich so gemeint sein!" – Darin besteht der unkritische Gehalt dieser Schilderungen. Tja, und was ist, wenn doch? Was ist, wenn es so gemeint ist, wenn es schon zur Demokratie paßt, wenn es im Kapitalismus schon sein muß? Was dann?

Es gibt nämlich verschiedene Sorten von Geld, oder Geld von unterschiedlicher Bedeutung, und deswegen darf man das Geld einer modernen Gesellschaft nicht einfach addieren und gedanklich auf die vorhandenen Köpfe aufteilen. Es gibt einmal dasjenige Geld, aus dem mehr Geld wird; Marx hat diese Bewegung des Geldes, das Ausgeben und Wieder-Einnehmen als G – G’ charakterisiert: G(eld) wird zu G(eld) plus Überschuß. Es handelt sich um Geld, aus dem mehr Geld wird, indem es für Produktionsmittel und Löhne ausgegeben wird, und beim Verkauf der Produkte einen Überschuß erzielt, womit die Bewegung wieder von vorn losgeht. Dieses Geld hat nicht nur Marx das "Kapital" genannt, und dieses Geld ist gemeint, wenn in Politik und Wirtschaft so landläufig vom "Wachstum" die Rede ist, ohne genauere Kennzeichnung dessen, was da eigentlich wachsen soll und muß.

Dann gibt es ein anderes Geld, das zum Bedauern seiner Besitzer nicht wächst, weil es ständig für den Lebensunterhalt verbraucht wird, und deswegen ständig neu verdient werden muß. Wobei noch nicht einmal garantiert ist, daß es überhaupt verdient werden darf, weil darüber nicht derjenige entscheidet, der einen Lebensunterhalt braucht, sondern der Geldbesitzer aus der ersten Abteilung, der aus seinem Geld mehr Geld machen lassen will und dafür Arbeitskräfte anheuert. Der Arbeitskraftbesitzer ist mit seinem Bedürfnis nach einem Einkommen bloß das abhängige Anhängsel des Geldbesitzers, und nicht nur das: Je mehr er arbeitet und je weniger er verdient – desto besser für das Wachstum des Geldes von der ersten Sorte, des Kapitals. Von dessen Wachstum hängt ab, ob überhaupt Löhne gezahlt werden, und dessen Wachstum steht in Gegensatz zum Wachstum des Lohns. Deswegen sind auch nie die Löhne gemeint, wenn vom berühmten "Wachstum" die Rede ist. Und deswegen ist es ein ziemlicher Mißgriff nicht nur von attac, das zueinander in Gegensatz befindliche Kapital-Geld und das Lohn-Geld in einen Topf zu werfen und in einen Pro-Kopf-Reichtum umzurechnen. Die Löhne gehören bekanntlich zu den Kosten des Kapital-Wachstums und sind daher möglichst gering zu halten, wofür es im modernen Kapitalismus extra eine Gewerkschaft mit "Augenmaß" gibt. Aber halt – hat denn nicht sogar diese Gewerkschaft neulich gestreikt?

Eine Innovation des ÖGB: Der sozialfriedliche Streik!

Das Wort "Streik" kommt vom englischen "strike" – das ist übersetzt der "Schlag", den organisierte Lohnarbeiter gegen die Dienstherren führen, die ihre Arbeitskraft benutzen. Mit der Waffe, die sie allemal haben: Mit der Verweigerung – der organisierten, auch gegen Streikbrecher durchgesetzten Verweigerung ihrer Arbeit, die das Land und sein an diesem Standort tätiges Kapital nun einmal brauchen. Ein Streik ist eine Kampfmaßnahme, eine Form von Erpressung. Gegen die Drangsale aus der ständigen Nötigung, für fremden Reichtum zu arbeiten, also für das Unternehmen den Gewinn und für den Staat die Steuern zu produzieren, um selbst überhaupt einen Lebensunterhalt verdienen zu können, wehren sich die Arbeiter, indem sie ihre Dienste verweigern. Die Ökonomie wird geschädigt, um deren Veranstalter und Nutznießer, Staat und Kapital, zum Nachgeben zu zwingen. Aber: Ein Streik, den der ÖGB anzettelt, hat mit einem Schlag, der einen Gegner treffen soll, wenig gemein. Da ist es bloß eine Demonstration, quasi eine Form der unverbindlichen Meinungsäußerung während der Arbeitszeit, und kein "strike". Der ÖGB benimmt sich gar nicht als die Vereinigung der Produzenten des Reichtums, die durch ihre Dienstverweigerung schon eine Waffe hätten, wenn sie eine wollten – er benimmt sich als eine Art NGO, als eine Nicht-Regierungs-Organisation von Gutmenschen, die gern Regierungsberater spielen würden. Wenn sich bei der AUA einige Piloten gleichzeitig krank melden, ist jedenfalls mehr los, und das Unternehmen ist härter tangiert, als wenn der ÖGB eine Million Leute mobilisiert. Warum ist das so?

Gegen die Pensionsreform als solche hat der ÖGB keinen Einwand, und ihm ist aus seiner Erfahrung mit den politisch produzierten Sachzwängen in der Klassengesellschaft klar, daß sie auf Kosten seiner Mitglieder gehen muß. Seine Einwände spiegeln sein grundsätzliches Einverständnis wider: Es handle sich um eine "bloße Geldbeschaffungsaktion" und keine "echte Reform zur Sicherung der Pensionen" – so als ob "Reform" und "Geldbeschaffung" ein Gegensatz wäre und als ob die bisher vom ÖGB gutgeheißenen "Reformen" keine "Geldbeschaffungsaktionen" gewesen wären. Außerdem sei das Paket "sozial ungerecht" oder "unausgewogen" und die Abschaffung der Frühpension komme "überfallsartig", so daß sich die Opfer nicht richtig auf die Verschlechterung ihrer Lage einstellen können – als ob es denen viel nützt, wenn sie rechtzeitig vorher wissen, daß sie nachher ärmer und schlechter dran sind!

Mit der "Unausgewogenheit" rennt der ÖGB allerdings offene Türen ein, das kann man der Regierung wirklich nicht nachsagen, sie spielt zumindest in ihrer Agitation längst die verschiedenen Opfer des sozialen Staates völlig ausgewogen gegeneinander aus: Eisenbahner sind privilegiert, weil sie früher in Pension gehen dürfen (und dafür mehr Pensionsbeitrag abführen); Pensionisten sind privilegiert, weil sie nur ein bißchen Inflationsausgleich verlieren; Lehrer sind privilegiert, weil sie Ferien haben; Beamte sind sowieso privilegiert – kurz, jede Besonderheit einer Berufsgruppe, jeder Unterschied bei Lohn und Pension wird einfach zum Privileg ernannt, zur Sonderregelung, die schon aus Gründen der Gerechtigkeit einer radikalen Gleichmacherei nach unten geopfert gehört. Diese Anstachelung von Neid und Mißgunst war allerdings unter dem Namen "Privilegienabbau" eher eine Spezialität der FPÖ.

Es gehört zu den schäbigen Leistungen des ÖGB während der aktuellen Auseinandersetzung, gemeinsam mit der Regierung einen neuen Namen für diese elende Gleichmacherei nach unten durchgesetzt zu haben. Die heißt neuerdings nämlich "Harmonisierung". Und wenn der ÖGB es schon für angemessen hält, wegen der Schädigung seiner Mitglieder nach einer ausgewogenen Schädigung anderer Gruppen zu rufen, wodurch der Schaden seiner Mitglieder gar nicht behoben, sondern um den Schaden anderer ergänzt und so für ein untertäniges Gerechtigkeitsgefühl "erträglich" gemacht wird – dann erhält er mit der Harmonisierungs-Ankündigung der Regierung auch die gerechte Antwort. Bei seinen Forderungen nach "Ausgewogenheit" oder "Gerechtigkeit" kann der ÖGB ohnehin nicht wirklich angeben, worin sie bestehen. Er hat keine definitiven "Eckdaten" darüber, wieviel der Staat von anderen, sogenannten "bessergestellten" Leuten auch noch abkassieren müßte, um damit "ausgewogen" nicht nur die sozial Schwachen zu belasten. Es gibt dafür auch keine Kriterien. Es handelt sich eben um moralische Titel, mit denen ein Mensch anerkennt, daß sich seine Interessen an höheren Gesichtspunkten des Allgemeinwohls zu relativieren haben, daß es Wichtigeres gibt als seine Sorgen und Nöte mit dem Einkommen. Das wahre Kriterium des ÖGB für Gerechtigkeit ist anderer Art: Es geht um die Rolle, die er in der Republik spielen darf.

Der ÖGB sieht sich politisch degradiert, aber zu so einem Angriff gehört schon das passende Opfer: Eine Gewerkschaft, der nichts so wichtig ist als das, was die Gegenseite ihr aufkündigt, nämlich das Recht auf Gehör und konstruktives Mitmachen. Eine Gewerkschaft, der es auf nichts so sehr ankommt wie darauf, öffentlich anerkannt, mit "der Wirtschaft" gleichberechtigt und stets von der Regierung zu Rate gezogen zu werden. Eine Gewerkschaft, die ihre anerkannte Mitwirkung bei der Gestaltung des Kapitalismus schon immer mit der Durchsetzung der Interessen ihrer Mitglieder verwechselt hat. Regierung und ÖGB wissen, daß sie sich einig sind. Einig darüber, was volkswirtschaftlich geboten ist; einig darüber, nach welchen Maßstäben Lohnarbeiter benutzt und entlohnt gehören; einig darüber, daß das Wachstum des Kapitals das Gemeinwohl ist. Für den ÖGB folgt aus dieser Einigkeit das Recht, als "Sozialpartner" an der politischen Macht beteiligt zu werden, was ihm bislang gewährt wurde. Die Regierung der schwarzblauen Wende zieht aus derselben Einigkeit die entgegengesetzte Konsequenz: Wenn man sich einig ist, dann ist eine besondere Rolle der Gewerkschaft überflüssig. Es wird deutlich, wie sehr die Rolle des ÖGB als Mitgestalter der Sozialpolitik ein Zugeständnis bisheriger Regierungen war. Sobald die Regierung auf seine Mitwirkung demonstrativ weniger Wert legt, findet sich die Gewerkschaft in einer Position, in der sie nicht sein will: Sie will nämlich nicht eine Partei sein gegenüber einem Gegner, sie will Mittler sein, Vermittler zwischen den abhängig Beschäftigten und dem Staat bzw. den Unternehmern. Nun macht die Regierung deutlich, daß sie keine solche Vermittlung braucht, sie behandelt den ÖGB als Partei im Wortsinn, als bloß partikulares Interesse, das sich dem Allgemeinwohl zu unterwerfen hat, und zwar ohne das bisherige Zugeständnis, bei diesem Allgemeinwohl mitgestaltend wirken zu dürfen.

Da will der ÖGB also nichts als verantwortungsbewußt mitreden, da verlangt er als "Beweis" seines Gewichtes und seiner Mitgestaltung bloß die Verschiebung der Reform auf den Herbst, auf "Ende September", wie Verzetnitsch unermüdlich verkündet hat – aber insofern ihm nicht einmal das mehr zugestanden wird, müßte er glatt gegen sein eigenes Verantwortungsbewußtsein verstoßen, um bloß wegen solcher "Termin-" und "Stilfragen" zu streiken – und das kommt dem ÖGB dann selbst irgendwie komisch vor. Also gibt’s als alternative Veranstaltung die Karikatur eines Streiks, der niemandem weh tun soll und mit dem die Gewerkschaft daran erinnert, als was es sie noch gibt: Als Verein, der penetrant den Schaden seiner Mitglieder, gegen den er nichts unternimmt, ins Treffen führt, um vergeblich sein Recht auf Mitgestaltung einzufordern, das seinen Mitgliedern nichts nützen würde, weil er sich sachlich im Einklang mit einer Gegenseite befindet, deren Berater er gern wäre, und deren Gegner er nicht sein will!

"Streik" – ja, das wäre der "Schlag", den organisierte Lohnarbeiter gegen die Dienstherren führen, die ihre Arbeitskraft benutzen. Mit der Waffe, die sie haben: der Verweigerung der Arbeit, die das Land und sein Kapital nun einmal braucht. Wenn Arbeiter sich nicht mit dem abfinden wollen, was ihnen von Arbeitgebern und Staat zugemutet wird, dann müssen sie sich zusammentun, um ihre Interessen durchzukämpfen. Die Umkehrung stimmt aber dank ÖGB nicht mehr: Wenn vom ÖGB vertretene Arbeiter so tun sollen, als ob sie "Streik" spielen, dann setzen sie noch lange nicht ihre Interessen durch. Der ÖGB hat den Streik neuen Typs erfunden. Einen "Streik", der den sozialen Frieden nicht bricht, und der den Streikenden schon deswegen nichts nützt.

Im Moment versucht der ÖGB, aus seiner Degradierung das Beste zu machen. Mit seinen komischen Streiks hat er zwar nichts erreicht, aber immerhin deutlich gemacht, daß er zu dieser Pensionsreform eine gewisse Distanz hält. Nicht mehr wegen seiner Macht und Mitwirkung soll man ihn wichtig, sondern wegen dieser Distanz soll man die Organisation sympathisch finden: "Auch wenn wir die vollständige Rücknahme des Entwurfs nicht erreichen sollten, werden die Menschen respektieren, daß wir es zumindest versucht haben", so hat der als Scharfmacher gehandelte GPA-Chef Sallmutter im profil vom 5. Mai dieses Jahres, also vor den Streiktagen, den ÖGB wenigstens zum moralischen Sieger nach Punkten erklärt. Der konkrete Nutzen für die Kollegen in den Betrieben? Der ist gleich Null – also so hoch wie von einer unter Beteiligung des ÖGB verhandelten Pensionsreform.