"Erfurt" : Was wirklich geschah

Das Lexikon Encarta-online bestimmt "Rache" als eine "Vergeltung erlittenen Unheils oder einer als Unrecht empfundenen Tat durch eine gleichwertige Gegenreaktion." Diese Variante von Gerechtigkeit gehört sich aber laut Encarta nicht, weil sie gegen das staatliche Gewaltmonopol verstößt: "In der christlich-abendländischen Kultur ist Rache prinzipiell verpönt, im rationalen Diskurs gilt sie als Unrecht, das streng von der gerechten Strafe, die staatlichen Institutionen obliegt, unterschieden wird. Sie wird deshalb grundsätzlich als abnorme Reaktion gewertet. Auf dieser Grundlage betrachtet die moderne Psychologie Rache als destruktive Aggression, verbunden mit Allmachtsphantasien und Realitätsverlust; wenn sie chronisch in Form von Rachsucht auftritt, gar als antisoziale Persönlichkeitsstörung. Im Gegensatz dazu ist die Blutrache in anderen kulturellen Zusammenhängen ein ritualisiertes Recht, wenn nicht gar eine heilige Pflicht. Auch das moderne Rechtssystem beinhaltet das Prinzip der Vergeltung oder Genugtuung, mit Ausnahme der Todesstrafe aber nicht mehr in Form des Prinzips ‘Auge um Auge, Zahn um Zahn’." (ebd.)

Rekapitulation: "Die Rache ist mein", spricht der moderne Staat, der die Gewalt bei sich monopolisiert, weswegen seine Vergeltung allenthalben als "gerechte Strafe" gilt. Wer dagegen verstößt, indem er Selbstjustiz übt, setzt eine verbotene und insofern höchst "abnorme" Reaktion. Die moderne Psychologie, die "auf dieser Grundlage" des staatlichen Gewaltmonopols gesellschaftliche Konformität mit psychischer Gesundheit identifiziert, nimmt die Rache als "destruktiv", verglichen mit der konstruktiven Aggression des Staates, und wer die Unterwerfung unter die Realität des staatlichen Gewaltverbots nicht verinnerlicht hat, leidet in ihren Augen unter "Realitätsverlust" oder gar unter "Allmachtsphantasien", indem er sich herausnimmt, was nur der Macht des Staates zusteht: Gerechtigkeit. Beim durchaus zeitgemäßen "Prinzip der Vergeltung oder Genugtuung" hängt es also entscheidend davon ab, wer das agierende Subjekt ist – sofern der Staat etwas als Unrecht definiert und ahndet, wird die dazugehörige Gewalttätigkeit dermaßen positiv bewertet, daß sie womöglich nicht einmal mehr als "Gewalt" gilt, aber wenn ein Betroffener auf eigene Faust sein eingebildetes, vermeintliches Recht vollstreckt, dann steht alle Welt regelmäßig fassungslos vor den Leichen und gibt sich "sprachlos" vor einer derartig "destruktiven" Eruption von Moral und Rechtsbewußtsein.

Zwar steht in jeder Zeitung, wofür sich Robert St. gerächt hat, aber diesen Grund für seinen sorgfältig vorbereiteten und keineswegs spontanen Feldzug wollen Politik, Öffentlichkeit und Wissenschaft einfach nicht gelten lassen – sie stehen selber auf dem Standpunkt der Gerechtigkeit und der (beim Staat monopolisierten) Gewalt, finden beides gut und können daher in einem "Amoklauf" einfach keine Parallelen zu diesen geschätzten Gütern entdecken. Dabei ist es keine Ausnahme, sondern in dieser moralisch verkorksten Gesellschaft die Regel, die Schädigung eigener Interessen in ein Unrecht zu verwandeln, auch wenn diese Schädigung nach allen gültigen Regeln und unter Befolgung aller relevanten Vorschriften, also rechtmäßig zustande gekommen ist: Was vordergründig nach einer Unkenntnis der bürgerlichen Rechte und Pflichten aussieht, ist vielmehr die Vorstellung, durch die Unterwerfung unter einschränkende Normen und Anstandsregeln, unter Anerkennung von Pflichten und Hürden auf seine Kosten zu kommen, einfach deswegen, weil die bürgerliche Welt so eingerichtet ist und Alternativen nicht vorgesehen sind. Wer sich fügt, wer ordentlich mitmacht, erwirbt sich – nicht wirklich, aber im moralischen Weltbild allemal – ein Recht auf Erfolg, und wenn der Erfolg zuschanden wird, ist folgerichtig der Schrei "Unrecht, Unrecht" die geläufigste und verkehrteste Übung. Ebenso wie das Bedürfnis, es den Verantwortlichen heimzuzahlen, was dem Geschädigten natürlich überhaupt nichts nützt, aber darum geht es auch nicht, sondern darum, daß ein Moralist sein Gerechtigkeitsempfinden befriedigt.

Besonders originell ist es nicht, einen Schulverweis nicht bloß als Schädigung, sondern völlig sachfremd und subjektiv als massives Unrecht zu empfinden, und da spielen die Besonderheiten von Erfurt – daß die Ossis ohnehin nicht unter "blühenden Landschaften" leiden und daß einer, der in Thüringen ohne Abitur abgeht, gar keinen Abschluß hat –, noch nicht einmal eine gewichtige Rolle. Es genügt völlig die für das Schulwesen konstitutive und speziell von Lehrern vertretene Ideologie, wonach es sich bei der schulischen Auslese, recht betrachtet, um die Förderung der Schulpflichtigen handle oder zumindest handeln sollte: "In unserer Aufstiegsgesellschaft stehen jedoch gerade Gymnasiasten unter enormem Druck, weil die Gymnasien über eine enorme Selektionsmacht verfügen – für Bestrafungen wie für meist unklare Zukunftschancen. An den Schulen gilt bisher das Prinzip: Wir suchen nach den Schwächen der Schüler, statt ihre Stärken zu entdecken und zu fördern." (Ein Soziologe in Spiegel-online) Der Soziologe hält es offenbar für einen Verstoß ("gilt bisher") gegen einen Förderungs-Auftrag der Schule, "Schwächen" gegen die Schüler zu verwenden, anstatt "Stärken" zu fördern – um anschließend nach den "Stärken" zu selektieren? –, und merkt noch nicht einmal, daß schon die vielsagende Einteilung des Gebarens von Schülern in "Stärken" und "Schwächen" erstens komplementär ist, nicht gegensätzlich, und zweitens nur dem Blick der "Selektionsmacht" geschuldet. Die will allerdings speziell die Auslese, den fortschreitenden Ausschluß der Angehörigen eines Jahrganges von der höheren Bildung und den damit verbundenen weiterführenden Berechtigungen, als reinen Dienst an den ach so verschiedenen "Begabungen" der Zöglinge verstanden wissen. Robert St. hätte sich dem offiziellen Idealismus, "Schule" hätte doch für ihn, für die Entfaltung seiner "Stärken" und nur "zu seinem Besten" da zu sein, vermutlich vorbehaltlos angeschlossen. Daß dem nicht so ist, hat er am eigenen Leib erfahren, fälschlicherweise als Ungerechtigkeit interpretiert und darauf zurückgeführt, daß die Verantwortlichen, also die Lehrer, persönlich etwas gegen ihn hätten, ihn quasi absichtlich fertig machen wollten. Auch das ist vermutlich falsch, die Lehrerschaft dürfte ihm genau so distanziert gegenüber gestanden haben wie den ihr anvertrauten Schülern generell. Sein Ausschluß war – ebenso wie schlechte Noten und die üblichen Disziplinierungsmaßnahmen – sicher administrativ bedingt und keineswegs persönlich gemeint, eben als Vollzug der Lehrerpflichten; eine Dienstauffassung, die sehr persönlich akzentuierte Lehrer-Schüler-Verhältnisse samt passendem Verfolgungswahn auf beiden Seiten natürlich nicht ausschließt. Robert St. hat aber, und das erschließt sich ebenso aus seiner Tat wie seine Vorstellung vom "Unrecht", vom Ergebnis auf den Zweck geschlossen: Wer seine "Zukunftschancen" und damit seine Vorstellung vom Leben und von der Karriere vernichtet, muß es wohl genau darauf abgesehen haben.

Einen Haß auf Lehrer zu haben und die Schule für eine eher feindselige Einrichtung zu halten ist nicht gerade selten, sondern dürfte im Verlauf einer Schülerkarriere schon mal vorkommen. Sogar eine neumodische Veranstaltung namens "Mobbing" soll an höheren Lehranstalten durchaus üblich sein. Robert St. hat allerdings, und das zeugt von einer ihm sowohl vorher als auch posthum abgesprochenen und sehr unkindlichen Reife, seinen schulischen Erfolg zum entscheidenden Moment seiner persönlichen Ehre erhoben, zum Kern seines "Selbstwertgefühls", um es einmal auf modern-psychologisch auszudrücken. Damit ist dieser schulische Erfolg nicht mehr ein Zweck neben anderen Anliegen, die jemand verfolgt oder auch nicht, sondern mit ihm steht und fällt die Anerkennung und der Respekt, ohne die ein modernes Individuum angeblich – und offenbar wirklich – nicht leben kann, mit ihm steht und fällt die komplette Persönlichkeit: Robert St. konnte nicht akzeptieren, dermaßen existentiell "verletzt", "diskriminiert" und zum "Versager" gemacht zu werden; und er konnte die, die ihn als solchen abgestempelt haben, nicht mehr tolerieren.

Wie für etliche andere Gesetzesbrecher, gilt auch für ihn, daß er letztlich zum Opfer seines tief empfundenen Gerechtigkeitsfanatismus wurde. Ein manchmal als Vorläufer von Marx geltender Philosoph hat wenigstens noch gewußt, daß die Moral in Gestalt des individuellen, subjektiven Rechts- und Unrechtsbewußtseins höchstens für eines gut ist, womöglich sogar unverzichtbar: Dazu, sich "alle wirklichen Pflichten", die der moralische Mensch vom Gewaltmonopol aufgedrückt bekommt, als gerecht und wohlbegründet einleuchten zu lassen, um so seine Ohnmacht und Unterwerfung einzusehen und zu billigen. Im Prinzip läßt sich nämlich jede Handlung moralisch ebenso rechtfertigen wie verurteilen, findet sich für das Pro ebenso wie für das Kontra ein allgemein anerkannter, moralischer Gesichtspunkt. In dem Moment, wo das Individuum mit seinen, der "Willkür des Subjekts" geschuldeten Rechtsvorstellungen praktisch Ernst macht, geht unter Umständen Mord und Totschlag los – denn wenn eine "gestörte Persönlichkeit" zur Rache schreitet, die unter "Realitätsverlust" leidet und sich "Allmachtsphantasien" hingibt, dann besteht der Wahnsinn wirklich nur darin, daß einer aufbricht, um das "Selbstgefühl seines Rechts zu befriedigen".

"Diebstahl, Feigheit, Mord usf. haben als Handlungen ... unmittelbar die Bestimmung, die Befriedigung eines solchen Willens, hiermit ein Positives zu sein, und um die Handlung zu einer guten zu machen, kommt es nur darauf an, diese positive Seite als meine Absicht bei derselben zu wissen, und diese Seite ist für die Bestimmung der Handlung, daß sie gut ist, die wesentliche darum, weil ich sie als das Gute in meiner Absicht weiß. Diebstahl, um den Armen Gutes zu tun, Diebstahl, Entlaufen aus der Schlacht, um der Pflicht willen für sein Leben, für seine (vielleicht auch dazu arme) Familie zu sorgen, – Mord aus Haß und Rache, d.i. um das Selbstgefühl seines Rechts, des Rechts überhaupt, und das Gefühl der Schlechtigkeit des anderen, seines Unrechts gegen mich oder gegen andere, gegen die Welt oder das Volk überhaupt, durch die Vertilgung dieses schlechten Menschen, der das Schlechte selbst in sich hat, womit zum Zwecke der Ausrottung des Schlechten wenigstens ein Beitrag geliefert wird, zu befriedigen, sind auf diese Weise, um der positiven Seite ihres Inhalts willen, zur guten Absicht und damit zur guten Tat gemacht. Es reicht eine höchst geringe Verstandesbildung dazu hin, um ... für jede Handlung eine positive Seite und damit einen guten Grund und Absicht herauszufinden. ... In diesem abstrakten Guten ist der Unterschied von gut und böse und alle wirklichen Pflichten verschwunden; deswegen bloß das Gute wollen und bei einer Handlung eine gute Absicht haben, dies ist so vielmehr das Böse, insofern das Gute nur in dieser Abstraktion gewollt und damit die Bestimmung desselben der Willkür des Subjekts vorbehalten wird." (Hegel, Rechtsphilosophie, §140)

Übrigens, von seinen Lehrern konnte Robert St. darüber nichts vernünftiges lernen, denn erstens wissen die das selbst nicht, und zweitens widerspräche es dem Lehrplan.